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Polen nun Schildwache der USA

Außenminister unterzeichneten Vertrag über die Stationierung von Abfangraketen *

In Anwesenheit von polnischen politischen Würdenträgern unterzeichneten am Mittwoch (20. August) die Außenminister Condoleezza Rice und Radoslaw Sikorski den Raketenschild-Vertrag zwischen Polen und den USA.

Nach dem Beitritt zur NATO 1999 und der EU-Aufnahme vor vier Jahren befände sich Polen nun in einem »festen strategischen Bündnis mit den Vereinigten Staaten, was bedeute, dass Polen verteidigt werde«, betonte Premier Donald Tusk nach dem Staatsakt in einer kurzen Ansprache. Er verlas einige Punkte aus der den Schild-Vertrag begleitenden politischen Erklärung. Darin ist die Rede von einem »Durchbruch« in der strategischen Gemeinschaft von Polen und den USA. Letztere seien verpflichtet, Polen gegen militärische und nichtmilitärische Bedrohungen seitens dritter Staaten zu verteidigen. Bis 2012 sollen zehn US-Abfangraketen in Polen stationiert werden. Die USA gaben im Gegenzug der polnischen Forderung nach, das Land ab 2009 mit Patriot-Luftabwehrraketen auszustatten. Staatspräsident Lech Kaczynski, der der Feier im Haus des Ministerrates beiwohnte, sagte, er habe hundertprozentig sein Ziel als Staatsoberhaupt erreicht. Condoleezza Rice zeigte sich hocherfreut und sagte Polen Dank für die beschlossene Installierung des Raketenschildes.

Die konservative Politologin Prof. Jadwiga Staniszkis vertrat in »Rzeczpospolita« am Mittwoch den Standpunkt, mit dem polnischen Einverständnis mit den strategischen Schachzügen der bald scheidenden Bush-Administration werde »unabwendbar der kalte Krieg wiederkehren und Polen werde dafür einen hohen Preis zahlen müssen«.

Wie neueste am Mittwoch (20. August) in »Dziennik« veröffentliche Ergebnisse von Meinungsumfragen bezeugen, hat sich unter dem Eindruck der Kaukasuskrise ein Umbruch vollzogen: Aus der 62-prozentigen Mehrheit gegen den Schild ist eine 36-prozentige Minderheit geworden. Dafür seien nun 45 Prozent der Polen. Fast jeder Fünfte äußerte keine Meinung. Eine andere Umfrage in »Gazeta Wyborcza« bezeugt, dass 65 Prozent der Polen meinen, Gefahr könne von Seiten Russlands drohen. Derartige Unruhe -- so Marek Ostrowski in »Polityka« -- hätten die Polen im Blut. Die Unterzeichnung bedeutet, dass die Regierung von Donald Tusk auf die außenpolitischen Eckpunkte von Präsident Lech Kaczynski eingegangen ist, was faktisch dem Sieg der Konzepte der oppositionellen Partei Recht und Gerechtigkeit gleichkommt.

Die Linksfraktion des Bundestages forderte die Bundesregierung auf, auf bilateraler Ebene wie im NATO-Rahmen auf die USA und Polen einzuwirken und weitere Vorbereitungen für die Installation des Raketenschirms zurückzustellen. »Statt sich um die Entspannung des Verhältnisses zwischen NATO und Russland zu kümmern, nimmt die Bundesregierung kommentarlos hin, dass die USA weiter Öl ins Feuer gießen«, kommentierte Paul Schäfer, verteidigungspolitischer Sprecher der Fraktion.

Auch SPD-Chef Kurt Beck kritisierte das Abkommen zwischen den USA und Polen scharf. Damit bestehe »die Gefahr, dass wir in eine neue Aufrüstungsspirale hineinkommen«. Gerade die europäischen Länder müssten aber »ein hohes Interesse an einem gutnachbarschaftlichen Verhältnis zu Russland haben.« Auch das bislang weitgehend geschlossene Auftreten von NATO, Russland und EU gegenüber der Atompolitik Irans werde durch den Vertrag möglicherweise in Frage gestellt.

Unterdessen ist Syrien grundsätzlich zur Stationierung russischer Raketen als Reaktion auf das in Mitteleuropa geplante US- Raketenabwehrsystem bereit. »Ich denke, Russland sollte wirklich über Gegenschritte nachdenken, um gegen seine Umzingelung vorzugehen«, sagte der syrische Präsident Baschar al-Assad der russischen Zeitung »Kommersant«.

* Aus: Neues Deutschland, 21. August 2008

Der Rubikon

Von Olaf Standke *

Der Rubikon sei überschritten, hatte Regierungschef Tusk nach zähen Verhandlungen mit Washington vor ein paar Tagen strahlend erklärt. Am Mittwoch wurde das nun in Warschau besiegelt: Beide Seiten unterzeichneten ein Abkommen über die Stationierung US-amerikanischer Abfangraketen auf polnischem Boden. Sie würden Polen sicherer machen, erklärte Tusk. Das glaubt nicht einmal eine Mehrheit seiner Landsleute, die vor allem schwere Belastungen in den Beziehungen zu Moskau befürchtet.

Dieses System ist in mehrfacher Hinsicht ein sicherheitspolitischer Bumerang. Viele Experten bezweifeln, dass eine zuverlässige Abwehr ballistischer Raketen überhaupt möglich sei. Die bisherigen Tests des Pentagon bestärken sie nur. Da trifft es sich gut, dass auch die sogenannten Schurkenstaaten, vor denen man sich doch schützen will, auf absehbare Zeit gar nicht in der Lage scheinen, solche Waffen zu entwickeln. Das lässt natürlich Moskau fragen, ob die USA-Einheiten vor der eigenen Haustür nicht ganz andere Ziele haben. Militärische Antworten auf die Stationierung sind schon angekündigt. Damit gerät auch Polen ins russische Visier und die Welt in eine neue Rüstungsrunde. Mehr Sicherheit sieht anders aus. Zumal die gestrige bilaterale Vereinbarung auch den Riss in der NATO selbst vertiefen wird. Ob sich Tusk wohl bewusst ist, dass die Überquerung des antiken Rubikons zu Cäsars Zeiten eine direkte Kriegserklärung war?

* Aus: Neues Deutschland, 21. August 2008



Schwert statt Schild

Außenminister der USA und Polens unterzeichnen in Warschau Vertrag über Stationierung einer US-amerikanischen Raketenbasis. Scharfer Protest aus Moskau

Von Tomasz Konicz, Poznan **

Nach einem über anderthalbjährigen diplomatischen Tauziehen wurde am Mittwoch in Warschau die Stationierung einer US-amerikanischen Raketenbasis auf dem Territorium der Republik Polen endgültig besiegelt. Den entsprechenden Stationierungsvertrag unterzeichneten die Außenminister Polens und der Vereinigten Staaten, Radoslaw Sikorski und Condoleezza Rice, während einer Zeremonie in der Kanzlei des polnischen Premiers in Warschau.

Rice erneuerte dabei die US-Behauptung, daß der Raketenschild lediglich der Verteidigung diene. Das Abwehrsystem richte sich »gegen die neuen Bedrohungen des 21. Jahrhunderts, gegen Langstreckenraketen aus Ländern wie dem Iran oder Nordkorea.« Polens Regierungschef Donald Tusk, der wie Präsident Lech Kaczynski bei der Unterzeichnung anwesend war, meinte, daß der Vertrag die Sicherheit Polens und der USA verbessere.Die meisten Beobachter gehen davon aus, daß die plötzliche Bereitschaft zur Kompromißfindung in Warschau und Washington durch den Krieg im Kaukasus befördert wurde. Polens Regierung verzichtete auf ein bis dahin gefordertes milliardenschweres Modernisierungsprogramm für seine Streitkräfte, das Washington im Gegenzug für die Stationierung der US-Abfangraketen hätte finanzieren sollen. Die amerikanische Seite verpflichtete sich hingegen, eine Batterie des modernen Luftabwehrsystems Patriot in Polen zu stationieren. Ab 2012 soll Polen darüber hinaus Zugriff auf dieses System erhalten. Zudem stimmte Washington einem bilateralen militärischen Beistandspakt mit Polen zu. »Amerikanische Flugzeuge werden innerhalb weniger Minuten Polen im Konfliktfall zu Hilfe eilen«, teilten polnische Zeitungen der Öffentlichkeit mit.

Die beschlossene Stationierung der zehn US-Abfangraketen in Nordpolen wird von Rußland als Bedrohung wahrgenommen und vehement abgelehnt. Der russische Präsident Dmitri Medwedew erklärte, die Anlage habe »die Russische Föderation als Ziel«. Der stellvertretende Generalstabschef Anatoli Nogowizyn warnte, Polen habe sich zu einem »vorrangigen« Ziel für eventuelle »Schläge« gegen den Raketenschild gemacht. Präsident Kaczynski wies die Kritik aus Moskau am Dienstag abend in einer Fernsehansprache scharf zurück. »Unsere Nachbarn müssen verstehen, daß unsere Nation niemals nachgeben wird«, sagte er.

Trotz der Warnungen aus Moskau stimmt inzwischen eine knappe, relative Mehrheit der Polen einem Aufbau der US-Raketenbasis in der Nähe des nordpolnischen Städtchens Redzikowo zu. Auch hier kann der Auslöser dieses radikalen Stimmungswechsels im Kaukasuskrieg vermutet werden. Waren vor Ausbruch der Feindseligkeiten in Südossetien noch rund zwei Drittel der Polen gegen die Stationierung der Abfangraketen in Polen, so sprachen sich einer jüngsten Umfrage zufolge gut 45 Prozent der mehr als 24000 Befragten für den Bau der Einrichtung aus, an die 41 Prozent lehnten das Vorhaben allerdings immer noch ab. Diesen Meinungsumschwung führte der Soziologe Ireneusz Krzeminski gegenüber der polnischen Zeitung Rzeczpospolita ebenfalls eindeutig auf den jüngsten Konflikt im Kaukasus zurück.

»Rußland eint uns«, so überschrieb die Tageszeitung Polska ihren Kommentar über die rasche Einigung im schier endlosen polnisch-amerikanischen Verhandlungspoker. »Spannungen und Mißklänge« zwischen Warschau und Washington waren zu vernehmen gewesen, rekapituliert das Blatt. Doch angesichts der »russischen Bedrohung« seien die »Streitereien verstummt«.

Die polnischen Sozialdemokraten stellen sich als einzige im Parlament vertretene Partei gegen die Stationierung der Raketen. Widerstand gegen den Bau der US-Basis kündigte auch, Mariusz Chmiel, der Bürgermeister von Redzikowo an: Er werde dieses Vorhaben auf »administrativem Weg« blockieren, unterstrich der Kommunalpolitiker. In einer ersten Erklärung rief auch Greenpeace Polska zu Protesten gegen den US-Militärstützpunkt auf. Die geplante Basis »sei kein Schutzschild, sondern ein Schwert«, heißt es in dem Greenpeace-Aufruf.

** Aus: junge Welt, 21. August 2008


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