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Die Ängste der polnischen Nachbarn

Vor 20 Jahren: Die Bestätigung der Oder-Neiße-Grenze als Voraussetzung für die deutsche Vereinigung

Von Daniela Fuchs-Frotscher *

Für Polen war nach dem Mauerfall die Frage nach dem Bestand der Oder-Neiße-Grenze von größter Wichtigkeit, eine Voraussetzung für die Akzeptanz der kommenden deutschen Einheit. Am 17. Juli 1990 auf der dritten Zwei-plus-Vier-Außenministerkonferenz in Paris wurde im Beisein des polnischen Außenministers Skubiszewski endgültig Einvernehmen über die deutsch-polnische Grenzfrage erzielt. In dem am 12. September 1990 unterzeichneten Zwei-plus- Vier-Vertrag selbst wurde ein deutsch-polnischer Grenzvertrag angekündigt, der dann am 14. November 1990 vom bundesdeutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher und seinem polnischen Amtskollegen Krystof Skubiszewski signiert wurde. Ihm folgte noch ein Nachbarschaftsvertrag. Beide Abkommen bestätigten u. a. das Görlitzer Abkommen von 1950 und den Warschauer Vertrag von 1970, also die Verträge, die Polen mit der DDR und der BRD geschlossen hatte. Alle drei Abkommen zur Oder-Neiße-Grenze feiern in diesem Jahr rundes Jubiläum.

Der Grenzverlauf an Oder und Neiße war im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Kriegsschuld festgelegt worden. Bereits auf der Konferenz in Jalta im Februar 1945 hatten sich die Regierungs- und Staatschefs von Großbritannien, den USA und der Sowjetunion geeinigt, dass Polen einen beträchtlichen Gebietszuwachs im Norden und Westen erhalten sollte. Erst das Potsdamer Abkommen am 2. August 1945 präzisierte den Grenzverlauf an Oder und Lausitzer Neiße. Die Formulierungen »unter polnischer Verwaltung« und »endgültige Bestimmung« der Westgrenze durch einen Friedensvertrag sollten in den kommenden Jahrzehnten zu Spannungen und ideologischen Auseinandersetzungen im Kalten Krieg zwischen Ost und West führen. Beide Abkommen waren Ergebnisse ihrer Zeit.

Flucht, Vertreibung und Umsiedlung der deutschen Bevölkerung sorgen noch heute für emotionale Debatten. Die polnische Ansiedlung in den neuen Nord- und Westgebieten war nach Kriegsende zunächst schleppend verlaufen. Groß war die Angst der Polen vor einer Rückkehr der Deutschen. Geschichte wurde zum Politikum. Als unterstützende Erklärung diente der Piastenmythos, der als Staatsmythos Polens bis zum Ende der Volksrepublik fungierte. Das Geschlecht der Piasten zählte zu den Gründervätern des ersten polnischen Staates im Mittelalter. Ihr Herrschaftsgebiet hatte vom 10. bis zum 12. Jahrhundert ungefähr die Gestalt wie der nun nach Westen verschobene polnische Staat. An diese Tradition wurde angeknüpft. Man sprach fortan von wiedergewonnenen Gebieten bzw. von Gebieten, die zum Mutterland zurückgekehrt waren. Diese Darstellung war keine vorrübergehende, sondern fand Einkehr in Geschichtsbücher, Reportagen und Literatur. Das deutsche Erbe wurde ausgeblendet.

Kritische Stimmen in der SED, verbunden mit der Hoffnung auf einen Friedensvertrag und einer endgültigen Festlegung der Ostgrenze, waren nach und nach verstummt. Die DDR hatte sich mit dem Abschluss des Görlitzer Abkommens am 6. Juli 1950 über die Markierung der festgelegten deutsch-polnischen Staatsgrenze eindeutig für die Oder-Neiße-Grenze ausgesprochen und gab der Volksrepublik Polen, nicht nur durch die gleichen gesellschaftlichen Grundlagen, Sicherheit. Nur wer für die Oder-Neiße-Grenze war, war für den Frieden. Mit dieser vereinfachten Formel war jede öffentliche Diskussion über Heimatverlust ausgeschlossen.

Mieczyslaw Rakowski, der spätere polnische Ministerpräsident, erinnerte sich, dass sein politischer Ziehvater Wladyslaw Gomulka von tiefem Misstrauen erfüllt war. Gomulka, seit Oktober 1956 Parteichef der PVAP, glaubte weder den Deutschen, dass sie sich mit dem Gebietsverlust abfinden würden, noch an eine dauerhafte Unterstützung durch die Sowjetunion. Als Minister für die Wiedergewonnenen Gebiete von 1945 bis 1948 hatte er bereits teilweise erfolglos bei Stalin gegen sowjetische Demontage und Reparation interveniert. Gescheitert waren seine Bemühungen, dem polnisch-sowjetischen Vertrag vom April 1945 ein Zusatzprotokoll hinzuzufügen, in dem die Sowjetunion ihre unveränderte Haltung zur polnischen Westgrenze selbst bei einer deutschen Vereinigung abgeben sollte. Gomulka ging immer davon aus, dass sich die beiden deutschen Staaten perspektivisch vereinigen werden. Er fürchtete, diese könnte vor einer internationalen und gesamtdeutschen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze geschehen und jene dann in Frage stellen. Chancen sah er deshalb in der Neuen Ostpolitik von Willy Brandt. Am 7. Dezember 1970 schlossen Polen und die BRD den Warschauer Vertrag. Darin wurde versichert, dass man gegeneinander keine Gebietsansprüche habe und solche auch in Zukunft nicht erheben werde. Dieser große außenpolitische Erfolg Polens wurde von einer dramatischen innenpolitischen Krise überschattet. Eine Woche nach der Unterzeichnung des Vertrages wurde Gomulka entmachtet.

Der Vertrag machte für die BRD den Weg für diplomatische Beziehungen mit Polen frei, die im September 1972 aufgenommen wurden. Zuvor hatte die Ratifizierung im Bundestag tumultartige Szenen bei der CDU/CSU ausgelöst. Das Bundesverfassungsgericht monierte im Juli 1975 u. a., dass Verfügungen über den territorialen Status Deutschlands, die eine friedensvertragliche Regelung vorweggenommen hätten, ohne die Zustimmung der Vier Mächte nicht getroffen werden können. Polen drängte bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen 1990 sicherlich auch deshalb massiv darauf, die Verhandlungen zu erweitern und äußere Aspekte der deutschen Einheit zu besprechen. Die Bundesrepublik und besonders Kanzler Helmut Kohl gaben erst unter dem starken Druck der vier Großmächte nach, Polen am Verhandlungsprozess überhaupt zu beteiligen. Der damals aktive polnische Diplomat Jerzy Sulek ist heute der festen Überzeugung, dass die deutsche Einheit ohne die Anerkennung der Oder-Neiße Grenze nicht möglich gewesen wäre.

In Polen hatte bereits Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine Wende in Geschichtsdarstellungen zu den west- und nordpolnischen Gebiete eingesetzt, die nun auch deutsches, jüdisches und tschechisches Erbe einschließen.

* Aus: Neues Deutschland, 10. Juli 2010


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