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Rote Tücher für Polens Schwarze

Überraschung mit laizistischen Grundsätzen - Janusz Palikot

Von Holger Politt, Warschau *

Sie waren die eigentliche Überraschung der polnischen Parlamentswahlen am 9. Oktober: Janusz Palikot und seine Bewegung, die auf Anhieb als drittstärkste Kraft in den Sejm einzogen.

Auf dem ersten Blick hat Donald Tusk nur gewonnen. Er darf Ministerpräsident bleiben und die Koalition fortsetzen. Auch der Abstand zur stärksten Oppositionspartei ist gleich geblieben - stolze 10 Prozentpunkte. Dass die siegreiche Bürgerplattform (PO) in absoluten Zahlen über eine Million Stimmen verloren hat, mag kaum ins Gewicht fallen, denn alle bisherigen Parlamentsparteien verloren bei gesunkener Wahlbeteiligung mindestens im gleichen Verhältnis. Gäbe es keinen Janusz Palikot, krähte kein Hahn danach.

Doch der holte mit seiner Liste glatte 10 Prozent - über 1,4 Millionen Stimmen. Da unter den 40 Abgeordneten seiner Liste nur Palikot selbst über Parlamentserfahrung verfügt, darf von einer Überraschung gesprochen werden, die in dieser Hinsicht sehr an den Sejm-Einzug der Samoobrona (Selbstverteidigung) im Herbst 2001 erinnert. Doch der Platz der neuen Liste im parlamentarischen Gefüge ist ein anderer. Während Andrzej Lepper mit seiner Samoobrona stets um die Mitte pendelte, mal mehr rechts, mal mehr links, hat Palikot keine Wahl. Er steht mit seinem Angebot im linken Feld, sorgt dort allerdings für größte Unruhe. Denn erstmals seit Bestehen muss der Bund der Demokratischen Linken (SLD) die linke Meinungsführerschaft im Sejm abgeben. Das alleine schmerzt, doch noch mehr die inhaltliche Ausrichtung der Eindringlinge.

Ein bürgerfreundlicher Staat soll Polen werden, so steht es an zentraler Stelle des Palikot-Wahlprogramms. Bei der Bestimmung der Tagesordnung aber stand das Thema der Trennung von Staat und Kirche an oberster Stelle. Laut Verfassung müsste sie gegeben sein, doch die Wirklichkeit - wie alle wissen - sieht anders aus. Spätestens mit der Unterzeichnung des Konkordats im Jahre 1998 sicherte sich die katholische Kirche ein unbeschränktes Mitsprache-, ja faktisch ein Entscheidungsrecht in allen Angelegenheiten, die mit der sogenannten öffentlichen Moral zu tun haben. Der SLD sah sich damals einer konservativ-liberalen Parlamentsmehrheit gegenüber und nahm Rücksicht auf den Staatspräsidenten aus den eigenen Reihen, so dass der langjährige Widerstand gegen das Konkordat schnell zusammenbrach.

Die nächste Stufe wurde 2003 erreicht, als es darum ging, das Referendum über den EU-Beitritt zu bestehen. Entscheidend war hier die Wahlbeteiligung, denn es war ein Quorum von 50 Prozent der Wahlberechtigten erforderlich. Also setzten die SLD-Regierung und Präsident Aleksander Kwa?niewski Himmel und Hölle in Bewegung, um die Kirchenhierarchie gnädig und EU-freundlicher zu stimmen.

An dieser Haltung hielt das SLD prinzipiell auch auf der Oppositionsbank fest. Hauptargument: Mit antiklerikaler Rhetorik seien in Polen keine Stimmen zu gewinnen. Zur Erklärung für viele kleinere und größere Verfassungsbrüche mussten immer wieder Tradition und Geschichte herhalten.

Palikot forderte also nahezu Unmögliches - die Entfernung von Glaubenssymbolen aus staatlichen Einrichtungen, Gleichberechtigung der Kirchen und Glaubensgemeinschaften im öffentlichen Raum, Änderung des rigiden Abtreibungsrechts, rechtliche Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. Selbst das Adoptionsrecht für homosexuelle Paare war für ihn kein Tabu.

Sein Erfolg gründet auf einigen Säulen: Er zog über 700 000 Stimmen von der PO ab. Noch nie im Laufe ihres zehnjährigen Bestehens hat die PO an eine andere Partei so viele Stimmen verloren - weder an den SLD noch an die nationalkonservative PiS. Zweitens war Palikot besonders erfolgreich unter Erst- und Jungwählern. In diesem Bereich steht die Liste fast auf Augenhöhe mit PO und PiS. In den Abiturientenjahrgängen sind die Palikot-Leute sogar erste Wahl. Drittens gibt es keine eigentlichen Hochburgen, aber auch keine Schwachstellen. Selbst auf dem Lande schnitt die Liste ähnlich gut ab wie in den Großstädten.

Das führte dazu, dass in Polens Parlament erstmals ein bekennender Schwuler, eine transsexuelle Frau und die Chefin einer Organisation einziehen, die sich mit weltlicher Familienplanung und Frauenangelegenheiten befasst. Lauter rote Tücher für das schwarz gewandete Lager. Ob Janusz Palikot in der Lage sein wird, aus dieser Vorlage eine beständige linksliberale Kraft zu schmieden, werden die nächsten Monate zeigen. Gespannt darf man auch darauf sein, welche Antwort der SLD unter neuer Führung finden wird.

* Aus: neues deutschland, 18. Oktober 2011


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