Helsinki-Gipfel: Es geht um die Wurst - und um mehr
Russisch-polnischer Streit um ein Importverbot für Schweinefleisch belastet das europäisch-russische Verhältnis
Das europäisch-russische Gipfeltreffen in Helsinki am 24. November 2006 steht unter keinem guten Stern. Schuld daran ist der Streit zwischen Polen (Mitglied der EU) und Russland wegen des vor einem Jahr erlassenen russischen Importstopps für polnisches Schweinefleisch.
Im Folgenden dokumentieren wir zwei Artikel, die den Streit von verschiedenen Seiten aus betrachten. Doch vorab (im Kasten) die aktuellen Meldungen vom Ticker.
Die letzten Meldungen zum Streit Polen-EU-Russland
Der Handelsstreit zwischen Moskau und Warschau hat den EU-Russland-Gipfel in Helsinki überschattet. Vertreter der Europäischen Union bemühten sich zum Auftakt des Treffens mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, die Differenzen herunterzuspielen. Der EU-Außenbeauftragte Javier Solana sagte, die polnische Blockade des geplanten EU-Partnerschaftsabkommens mit Russland könne "überwunden werden". Wegen des polnischen Vetos konnte der Startschuss für die Verhandlungen über das Partnerschaftsabkommen nicht wie geplant in Helsinki fallen. EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner betonte, die Beziehungen zwischen der EU und Russland seien trotz der polnischen Blockade "nicht verpfuscht". "Wir haben zahlreiche andere Themen zu diskutieren", sagte sie. Dabei verwies sie auf die Zusammenarbeit in Krisenregionen wie den Nahen Osten, Iran und Nordkorea. Daneben wollte die EU-Kommission auch über den nahenden Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation WTO und über Energiefragen sprechen. Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Gernot Erler (SPD), warf den Polen im Streit über das geplante neue Partnerschaftsabkommen Sturheit vor. Die EU habe Polen zugesagt, auf Russland einzuwirken, das Importverbot für polnisches Fleisch aufzuheben. "Leider ist es nicht gelungen, die Polen davon zu überzeugen, dass sie sich selbst auch keinen Gefallen dadurch tun, dass sie als einziges Land diese Verhandlungen blockieren", sagte Erler.
(AFP, 24. November 2006)
Zum Abschluss des EU-Russland-Gipfeltreffens hat EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso Moskau zur Aufhebung seines Importverbots für polnisches Fleisch aufgerufen. Die EU betrachte das Embargo als "überzogen", sagte Barroso am 24. Nov. in Helsinki. Eine Überprüfung durch Veterinäre der EU habe zwar tatsächlich "Probleme" bei den polnischen Sanitärstandards entdeckt. Diese rechtfertigten jedoch nicht den Importstopp. Er sei jedoch zuversichtlich, dass sich der Streit zwischen Russland und Polen in Gesprächen mit der EU ausräumen lasse, fügte Barroso hinzu.
(AFP, 24. November 2006
Polen geht es nicht nur um die Wurst
Nachdrückliches Bestehen auf der Solidarität aller Unionsstaaten
Von Julian Bartosz, Wroclaw
Zweifel blieben bis zur letzten Stunde: Verzichtet Polen auf das vor zehn Tagen angemeldete Veto
gegen die Erteilung eines gemeinsamen Mandats für Verhandlungen über ein neues
Partnerschaftsabkommen EU-Russland oder besteht es darauf?
Die EU-Sachverständigen, die in polnischen Fleischfabriken die veterinärhygienischen Verhältnisse
und die Kontrolle des Transits von Fleisch untersuchen sollten, stellten diesbezüglich am
Donnerstag »erhebliche Fortschritte« fest. Es gebe noch »ein paar Punkte«, die verbessert werden
müssten, doch rechtfertige dies nicht das russische Einfuhrverbot für polnische Fleischprodukte.
Zwei Bedingungen hatte Polen an einen Verzicht auf sein Veto geknüpft: die Aufhebung eben dieses
russischen Einfuhrverbots für Fleisch- und andere Agrarprodukte, das seit einem Jahr gilt, und die
Ratifizierung der Europäischen Energiecharta durch die russische Duma. Der zweite Punkt ist
durchaus ein gemeinsames Anliegen und wird auch von allen um ihre Energiesicherheit besorgten
EU-Staaten vertreten. Das Embargo (der erste Punkt) scheint zwar unmittelbar nur die polnischrussischen
Wirtschaftsbeziehungen zu betreffen, doch geht das Problem ebenfalls die ganze Union
an. Polen will die gleiche Behandlung wie alle anderen EU-Staaten und fordert die Erfüllung des
Prinzips der europäischen Solidarität.
Diese Solidarität wollten die 24 anderen EU-Mitglieder durchaus auch in irgendeiner Form zum
Ausdruck bringen. Das versicherten sowohl EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso als
auch der finnische Premier Matti Vanhanen, der nach einem Besuch in Warschau sagte: »Die
Solidarität aller Unionsstaaten ist für uns das Wichtigste, insbesondere in den Beziehungen mit
Russland.« Selbst Polens Außenministerin Anna Fotyga ernannte sich angesichts dessen zur
»vorsichtigen Optimistin«: Das Engagement aller Seiten – so Fotyga – werde noch vor dem Gipfelt
gestatten, eine Verständigung zu erzielen. Und Polens Vizepremier Andrzej Lepper erklärte nach
einem Treffen mit EU-Kommissar Markos Kyprianou, wenn das Embargo auch nicht sofort
aufgehoben werde – ein Zeitplan dafür und eine Solidaritätserklärung aller Unionsstaaten könnten
helfen, Polens Veto aus der Welt zu schaffen.
Dies schien umso leichter, als auch die russische Seite zugab, dass die ursprünglich beanstandeten
Fleischlieferungen und die dazugehörigen gefälschten Dokumente gar nicht aus Polen kamen,
sondern aus den USA. Die Staatsanwaltschaft im südpolnischen Tarnów bewies, dass die
aufgedeckte Dokumentenfälschung außerhalb des Landes vorgenommen wurde. Die russischen
Behörden haben immerhin Recht, wenn sie eine Vereinheitlichung und Verbesserung der
Vorschriften für den Lebensmittelexport und dessen Dokumentation verlangen.
Doch gelang es den Brüsseler Diplomaten auch am Donnerstag nicht, Polen zu einem Kompromiss
zu bewegen. Der Eklat wird hierzulande gewiss nachhallen: Man wird das diplomatische Geschick
der polnischen Außenpolitik diskutieren und vor allem daran erinnern, dass Russland ein mächtiges
Land von größter, nicht nur wirtschaftspolitischer Bedeutung für die EU ist, Polen dagegen zu den
»mittleren Staaten« des Kontinents gehört. Daran ist nicht zu rütteln. Eben deshalb fühlen sich nach
letzten Umfragen 88 Prozent der Polen in der EU gut aufgehoben, während ihre derzeit regierenden
Politiker noch viel zu lernen haben.
Moskau nimmt Störmanöver vorerst gelassen
Offizieller Startschuss für die Ausarbeitung eines neuen Partnerschaftsabkommens muss verschoben werden
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Am heutigen Freitag (24. November 2006) tagt in der finnischen Hauptstadt Helsinki der EU-Russland-Gipfel. Staats- und Regierungschefs der 25 Unionsstaaten treffen sich mit ihrem wichtigsten Nachbarn, dem russischen
Präsidenten Wladimir Putin.
Ein Gipfel sei nur dann ein guter, wenn er keine Überraschungen bringe. Sergej Jastrschembski,
Wladimir Putins Unterhändler in EU-Angelegenheiten, sagte diesen Satz gleich zwei Mal in weniger
als einem Monat – vor dem inoffiziellen Treffen der Staatschefs Ende Oktober in Lahti und jetzt, vor
dem EU-Russland-Gipfel in Helsinki.
Jastrschembski schien damit zu rechnen, dass sein Dienstherr mit unangenehmen Fragen
konfrontiert wird: mit einer neuen Diskussion zu Demokratiedefiziten, zum Fortgang der
Untersuchungen des Mordes an der Journalistin Anna Politkowskaja, zum versuchten Giftmord an
dem ehemaligen Geheimdienstler Alexander Litwinenko in London oder zu Moskaus Querelen mit
Georgien.
Zehn Tage vor dem Gipfel deutete sich indes eine ganz andere Überraschung an. Zwar sollten
diesmal gar keine Abkommen unterzeichnet werden, geplant waren jedoch eine Art
vorausschauender Bestandsaufnahme und der offizielle Startschuss für Verhandlungen über eine
neue Rahmenvereinbarung der EU mit Russland. Das gültige Partnerschafts- und
Kooperationsabkommen läuft nämlich Ende 2007 aus. Sollte bis dahin kein neuer Vertrag zu Stande
kommen, wäre das nach Meinung Jastrschembskis allerdings auch kein großes Unglück. Denn die
Laufzeit des Abkommens verlängert sich automatisch um jeweils ein Jahr, wenn sie nicht von einer
der Seiten gekündigt wird. Und das ist nicht zu befürchten. Moskau möchte dennoch lieber einen
neuen Vertrag aushandeln, der »den neuen Realitäten Rechnung trägt«: Russland kann ein
jährliches Wirtschaftswachstum von satten sechs Prozent vorweisen, ist wichtigster Energielieferant
Westeuropas und zudem auf gutem Wege, auch weltpolitisch wieder größeren Einfluss zu
gewinnen.
Die Arbeiten an der neuen Rahmenvereinbarung, von der Moskau sich den Zugriff auf
Hochtechnologien verspricht, werden nun jedoch durch ein Veto Polens verzögert. Als Grund gibt
Warschau das russische Einfuhrverbot für polnische Agrarprodukte an. In Moskau glaubt mancher
Experte allerdings, das polnische Veto richte sich eigentlich gar nicht gegen Russland. Vielmehr
sehe sich Polen, das beim EU-Beitritt auf einen Status wie Deutschland und Frankreich gehofft
habe, in der Gemeinschaft unter Wert repräsentiert und mache nun seiner Enttäuschung durch
Störmanöver bei den Verhandlungen mit Russland Luft.
Ins Gewicht fallen auch die Differenzen zur Europäischen Energiecharta. Das Papier wurde noch
von Boris Jelzin unterzeichnet, von der Duma jedoch nicht ratifiziert. Vor allem wegen der
sogenannten Transitprotokolle, die von Russland verlangen, seine Rohrleitungssysteme für
Drittstaaten zu öffnen. Brüssel hat dabei in erster Linie die zentralasiatischen Republiken und deren
billigeres Gas im Visier. Moskau hat das erkannt und will »natürliche geostrategische Vorteile« nicht
aufgeben.
Die Energiecharta, verlangte daher Jastrschembski, müsse nachverhandelt werden. Ein
Kompromiss wäre nur denkbar, wenn die EU Gasprom am lukrativen Geschäft mit den
westeuropäischen Endkunden beteiligt. Behauptungen russischer wie westlicher Medien, Russland
plane mit den Staaten der Schanghai-Gruppe, Algerien und Venezuela ein Gaskartell ähnlich der
OPEC, verwies Jastrschembski dagegen ins Reich der Fabel.
Jedenfalls gelang es den anderen EU-Staaten trotz guten Zuredens nicht, Polens Einspruch
abzuwenden. Also werden die Verhandlungen nicht beginnen, hieß es am Donnerstagnachmittag.
Dennoch mangelt es in Helsinki nicht an Themen: Zur Sprache kommen gewiss Iran, der Nahe
Osten und die Verträge über Besondere Beziehungen, die die EU letzte Woche mit Georgien,
Armenien und Aserbaidshan schloss. Durch die politische Erweiterung, so Jastrschembski, würden
sich zwangsläufig die Horizonte der Union erweitern, die sich künftig auch in Lösungen für die
eingefrorenen Konflikte im Südkaukasus – Südossetien, Abchasien und Berg-Karabach – einklinken
will. Russland habe nichts dagegen, stelle aber zwei Bedingungen: Brüssels Engagement dürfe nicht
zu Lasten bestehender internationaler Mechanismen gehen. Gemeint sind damit Russlands
Friedensmissionen in den Krisengebieten. Und Abmachungen mit den Konfliktparteien dürften nicht
hinter Russlands Rücken getroffen werden.
* Aus: Neues Deutschland, 23. November 2006
Zurück zur Polen-Seite
Zur Russland-Seite
Zur Europa-Seite
Zurück zur Homepage