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Haiyan hinterließ Tod, Hunger und Verzweiflung

Mehr als vier Millionen Menschen auf den Philippinen brauchen nach dem Wirbelsturm dringend Hilfe

Von Daniel Kestenholz, Bangkok *

Der Katastrophe folgt Chaos: Verzweifelte Menschen auf den Philippinen versuchen nach dem Taifun irgendwo Unterschlupf zu finden und sich zu versorgen. Es kam auch zu Plünderungen.

Am Tag nach der Hölle schien in Tacloban, einer 200 000-Einwohner-Küstenstadt, die Sonne. Am Himmel stand ein Regenbogen, doch die Menschen ertrugen unermessliches Leid. Trümmerfelder mit darunter vergrabenen Toten, so weit das Auge reicht. Der Taifun »Haiyan«, einer der stärksten je gemessenen Wirbelstürme, löste entlang der zentralphilippinischen Küste eine bis zu vier Meter hohe Flutwelle aus, die wie ein Tsunami ganze Dörfer und Städte platt walzte.

In den Straßen von Tacloban türmt sich nun meterhoch Trümmergut – Holzplanken, Wellbleche, Waschmaschinen, ganze Autos und Hausdächer, aus denen Leichengeruch aufsteigt. Fischerdörfer sind wie vom Erdboden verschwunden. Rund 1000 Menschen starben allein in Tacloban, der Hauptstadt der Inselprovinz Leyte. Laut dem örtlichen Polizeichef Elmer Soria löschte Haiyan auf Leyte 10 000 Menschenleben aus.

Präsident Benigno S. Aquino flog am Sonntag nach Tacloban, traf Überlebende und koordinierte die Hilfsbemühungen. »Verzweifelt nicht, die Hilfe ist auf dem Weg«, beschwor Aquino seine Landsleute. Sein Verteidigungsminister, Voltaire Gazmin, sprach von chaotischen Szenen: »Es gibt keinen Strom, kein Wasser, nichts. Menschen verzweifeln.«

»Stellen Sie sich einen Abschnitt von einem Kilometer Breite vom Ufer aus vor,« sagte Innenminister Mar Roxas nach einem Besuch von Küstenorten, »alle Hütten, einfach alles ist zerstört.« Einem Tsunami gleich hatte eine Druckwelle in den frühen Morgenstunden des Freitags (Ortszeit) Tod und Schrecken über Tacloban gebracht, weiter landeinwärts eine Schneise der Verwüstung gezogen und dabei auch Schutzunterkünfte wie Kirchen und Schulen sowie das Hab und Gut von rund einer Million Menschen zerstört.

Marvin und Loretta Isanan verloren in Tacloban ihre drei Töchter – acht-, 13- und 15-jährig. Die beiden jüngsten fanden sie tot. »Ich hoffe, die älteste lebt«, sagt Marvin mit Tränen in den Augen. Menschen erzählen, wie plötzlich das Wasser anstieg, sie sich auf Dächer retteten, Leichen an ihnen vorbeitrieben, und wie auf den Kampf gegen Haiyan der Kampf gegen Hunger und Durst folgt.

Alles ist mit Schlamm bedeckt. Straßen sind unterbrochen, der teils zerstörte Flughafen ist für zivile Maschinen gesperrt. Die Luftwaffe fliegt Notgüter ein, die bei weitem nicht reichen. Es kam zu Plünderungen und in der Nacht, ohne Strom und Licht, steigt die Angst vor marodierenden Banden. Aus Manila wurden zusätzliche Polizeibeamte eingeflogen.

Opferzahlen wachsen stündlich

Menschen auf den Philippinen sind Taifune gewohnt. Jedes Jahr liegt das Inselreich auf dem Weg von rund zwei Dutzend dieser Naturgewalten, die Tod und Verheerung bringen. An einen Taifun wie Haiyan, der Sturmböen mit mehr als 300 Kilometer pro Stunde erreichte und als der stärkste Wirbelsturm gilt, der je auf Land aufschlug, kann sich niemand erinnern. Die Opferzahlen wachsen stündlich und noch immer konnte zu vielen Gebieten kein Kontakt hergestellt werden. Auch die populäre Touristeninsel Malapascua 130 Kilometer westlich von Tacloban gilt als zerstört.

Die Regierung hatte am Donnerstag eindringlich zu Schutzmaßnahmen aufgerufen. Das Rote Kreuz und Sicherheitskräfte brachten Menschen in Schutzräume. Doch in einem Land der Armut, wo die meisten Menschen auf sich allein gestellt sind, ist man es gewohnt, für sich selbst zu kämpfen. Haiyan riss Familien auseinander, die um ihre Hütten aus Holz und Wellblech kämpften, die auch schwächeren Stürmen kaum standhalten. Aus Backsteinen und Zement gebaute Häuser mit Fundament blieben zumeist verschont.

Erst schien es, als hätten die Philippinen einen der schlimmsten Wirbelstürme der Geschichte mit Glück überstanden. Zunächst war von vier Todesopfern die Rede und die Regierung wirkte erleichtert, dass man dank Evakuierungsmaßnahmen einer größeren Katastrophe entgangen sei. Als Rettungskräfte von der Außenwelt abgeschnittene und überschwemmte Orte erreichten, wurde jedoch klar, dass viele Menschen dem Tod nicht entkommen konnten. Den Helfern boten sich Schreckensbilder. Der für die Koordinierung von Rettungsmaßnahmen zuständige UN-Verantwortliche Sebastian Rhodes Stampa sagte: »Das letzte Mal, dass ich Zerstörung in diesem Ausmaß gesehen habe, war 2004 nach dem Tsunami im Indischen Ozean. Die Verwüstungen sind gewaltig.« Menschen suchten noch zwei Tage nach dem Desaster nach Vermissten und Essbarem. Schulen und Kapellen dienen als provisorische Leichenhallen, während Angehörige tote Familienmitglieder aus umliegenden Orten nach Tacloban bringen.

Behörden planen Massengräber

Die philippinische Luftwaffe fliegt Leichensäcke ins Gebiet. An Bord der Maschinen werden Verletzte in Krankenhäuser ausgeflogen. In der Tropenhitze eilt es mit Beerdigungen. Die Behörden planen Massengräber. Wie bei den Tsunami 2004 im südlichen Asien und 2011 in Japan, als die Opferzahlen noch eine Woche nach den Katastrophen unklar waren, dürfte auch die Zahl der Toten auf den Philippinen im Verlauf der nächsten Tagen noch erheblich ansteigen.

Insgesamt sind mehr als vier Millionen Menschen in 36 Provinzen betroffen. Die Organisation UNICEF schätzt, dass in den besonders betroffenen Gebieten 1,7 Millionen Kinder in Gefahr sind. 800 000 Menschen waren geflüchtet, viele von ihnen dürften ihr Hab und Gut verloren haben. 330 000 harrten in Notunterkünften aus. Allein Tacloban ist laut dem philippinischen Energieminister Jericho Petilla zu 80 Prozent zerstört. Eben noch ein Tropenparadies, mutet das Gebiet wie eine Kriegszone an. Derweil treffen Rettungsteams aus aller Welt ein. Die Regierung bekam Hilfsangebote aus aller Welt.

Die EU-Kommission hat bereits drei Millionen Euro für Nothilfe in den am meisten betroffenen Regionen freigemacht. Dabei sei eine enge Zusammenarbeit mit den örtlichen Behörden geplant, teilte die EU-Behörde am Sonntag in Brüssel mit. Experten der Kommission seien bereits an Ort und Stelle. Bereits am Vortag hatte Behördenchef José Manuel Barroso Manila Unterstützung zugesagt.

Nach Angaben der Aktion Deutschland Hilft sind mehrere Bündnispartner seit vielen Jahren im Land und leisteten immer wieder Nothilfe, darunter Care, Malteser International, HelpAge und World Vision. Die Johanniter planten, über eine lokale Partnerorganisation tätig zu werden. Adra und Help – Hilfe zur Selbsthilfe werden den Angaben zufolge jeweils ein Team aus Deutschland entsenden.

Die Organisation International Search and Rescue Germany (I.S.A.R.) schickte bereits 24 Ärzte, Pfleger und Rettungsassistenten. Das Team soll einen Behandlungsplatz aufbauen, in dem täglich etwa tausend Menschen medizinisch versorgt werden können. Im Gepäck haben die Helfer zwei Tonnen Arzneimittel. Auch ein Vorausteam des Technischen Hilfswerkes (THW) war unterwegs. Viele Hilfsorganisationen erklärten am Wochenende, dass sie Hilfsgüter in das Katastrophengebiet schicken würden, darunter Decken, Zeltplanen und Wasserentkeimungstabletten. Nötig seien zudem Kleider und Nahrungsmittel. Die Organisationen bitten um Unterstützung, von Sachspenden jedoch abzusehen.

* Aus: neues deutschland, Montag, 11. November 2013


Wirbelstürme wüten immer heftiger

Tropische Wirbelstürme tragen je nach Region unterschiedliche Namen: Hurrikan im westlichen Atlantik und im östlichen Pazifik, Zyklon im Indischen Ozean und Taifun im westlichen Pazifik. Taifune entstehen über dem Meer, wenn das Oberflächenwasser eine Temperatur von mindestens 26 Grad Celsius hat und stark verdunstet. Die ist in der Regel von Mai bis November möglich, sodass die Philippinen pro Jahr von durchschnittlich 20 Taifunen heimgesucht werden.

Gefahr für die Menschen entsteht nicht nur aus dem Sturm selbst, sondern vor allem infolge von Flutwellen und Regen, die Überschwemmungen verursachen.

Nach Angaben des jüngsten Weltklimareports ist es »wahrscheinlich«, dass die Windgeschwindigkeit und die Regenmenge tropischer Wirbelstürme in diesem Jahrhundert zunehmen werden. Ihre Zahl werde aber eher gleich bleiben oder sogar sinken.

Die Anzahl der Taifune in Ost- und Südostasien könnte einer Studie zufolge auch durch eine etwa zehnjährige Klimaschwankung beeinflusst sein. »Nach einer Phase mit einer geringeren Zahl von tropischen Wirbelstürmen im Nordwestpazifik nähert sich nun innerhalb dieser Schwingung eine Phase mit voraussichtlich wieder höherer Sturmaktivität«, schrieb der an der Studie beteiligte Rückversicherer Munich Re im Januar 2013. Die Forscher hatten Taifune von 1980 bis 2008 analysiert.




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