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"Brüder, ich schwöre, Euch nicht zu betrügen"

Peru: Kann Präsident Toledo halten, was er versprach?

Der Ökonom Alejandro Toledo Manrique ist zum neuen Präsidenten Perus gewählt worden. Toledo erhielt laut offiziellem Teilergebnis vom Montag, 4. Juni 2001, bei der Stichwahl am Sonntag 51,99 Prozent der gültigen Stimmen. Sein Herausforderer, der sozialdemokratische Ex-Präsident Alan García, kam auf 48,01 Prozent der Stimmen, wie die nationale Wahlbehörde in der Hauptstadt Lima nach Auszählung von drei Viertel der Stimmen mitteilte.

Der neue peruanische Präsident übernimmt am 28. Juli die Präsidentenschärpe von Übergangspräsident Valentín Paniagua, dessen provisorische Regierung Peru seit Fujimoris Sturz regiert hatte. Das künftige Staatsoberhaupt dankte seinen Wählern vom Balkon eines Hotels in Lima aus, in dem er sein Wahlkampfbüro untergebracht hatte. "Ich werde der Präsident aller Peruaner sein", sagte Toledo. "Brüder, ich schwöre, Euch nicht zu betrügen", rief er der Menge zu. Die Wahl bezeichnete er als "den Sieg der Demokratie" in dem südamerikanischen Land, das Ex-Staatschef Alberto Fujimori zehn Jahre lang autoritär regierte. Fujimori musste sein Amt vor einem Jahr nach skandalösen Wahlbetrügereien abgeben. Damals war Toledo gegen Fujimori angetreten, weigerte sich aber am zweiten Wahlgang teilzunehmen.

Mehr Arbeitsplätze, mehr soziale Sicherheit?

Unter dem Applaus von tausenden Anhängern sagte Toledo: "Zusammen werden wir die Zukunft bauen und die Vergangenheit hinter uns lassen, damit Peru ein gerechteres Land wird." Toledo kündigte ferner "mehr Arbeitsplätze, mehr Demokratie, mehr soziale Gerechtigkeit und Dezentralisierung" an. In einer ersten Stellungnahme gab Toledo zudem bekannt, er wolle die Refinanzierung von Auslandsschulden und die Wiederherstellung der Rechtssicherheit in den Vordergrund seiner Regierung rücken. Damit setzte Toledo die Politik der Versprechungen fort, die schon seinen Wahlkampf, aber auch den seines Gegners García bestimmt hatten. Die meisten Beobachter des Geschehens im südamerikanischen Andenstaat bezweifeln, dass er auch nur einen Bruchteil seiner Verheißungen wird umsetzen können.

Skepsis herrschte schon während der Wahlen bei einem beachtlichen Teil der Wählerschaft. Der Anteil der ungültigen und leeren Wahlzettel betrug nach Angaben der Wahlbehörde rund 13 Prozent. Zuvor hatte laut Umfragen sogar rund ein Fünftel der Wahlpflichtigen die Absicht geäußert, einen leeren Stimmzettel abzugeben, um so ihrem Misstrauen gegenüber beiden Politikern Ausdruck zu verleihen.

Gegenkandidat García kündigte eine konstruktive Mitarbeit an. Er werde "ein verlässlicher Mitstreiter bei der wirtschaftlichen und institutionellen Erneuerung" Perus sein, versicherte Garcia. "Dies ist der Augenblick für einen Schulterschluss, unabhängig von allen Differenzen", sagte der Sozialdemokrat. Da das Wahlbündnis Toledos, "Peru Posible", im Parlament über keine Mehrheit verfügt, ist Toledo auf Bündnispartner angewiesen. Garcías Abschneiden galt trotz der Niederlage als spektakulär. Als er Anfang des Jahres nach fast neun Jahren im Exil in seine Heimat zurückgekehrt war, erschien der Politiker der "Apra"-Partei zunächst als chancenlos. Wegen seiner katastrophalen ersten Amtszeit von 1985 bis 1990, die von Hyperinflation, Rationierungen, Korruption, Terrorismus und Verletzungen der Menschenrechte geprägt war, wollte kaum jemand für den 52-Jährigen stimmen. Dem charismatischen Politiker gelang es jedoch, den Vorsprung Toledos nach und nach zu verkleinern. Sein Wahlergebnis bezeichnete Garcia als "moralische Wiedergutmachung, von der ich immer geträumt habe".

Internationale Finanzwelt zufrieden

In der Medienlandschaft hier zu Lande herrscht zwar übereinstimmende Genugtuung über die als fair und korrekt eingestufte demokratische Wahl, in den Chor der Zufriedenheit mischt sich aber auch Zweifel und Skepsis über die Zukunft des Landes. Schon im Vorfeld der Wahl war keinem der beiden Kandidaten allzu viel zugetraut worden. Dennoch: Dass es besser würde als unter der früheren Herrschaft von Fujimori, darüber sind sich ebenfalls alle einig. Und wenn man die Reaktionen aus Washington und den europäischen Hauptstädten sowie - vor allem - aus den Wirtschafts- und Finanzzentren der westlichen Welt richtig deutet, dann hat am Sonntag genau der richtige Mann die Wahlen in Peru gewonnen.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt etwa: "Immerhin konnte Toledo auf seinen zahlreichen Reisen das Ausland, vor allem die Finanzmärkte in den Vereinigten Staaten, beruhigen. Wirtschaftspolitische Experimente, gar Verstaatlichungen, mit denen sein Rivale García als Präsident in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre die internationalen Finanzinstitutionen verärgert hatte, erwartet man von ihm nicht." (FAZ, 05.06.2001) Er hat die Universitäten Stanford und Harvard besucht und für die Vereinten Nationen, die Weltbank und die OECD in mehreren Hauptstädten der Welt gearbeitet. Ob das indessen in Peru selbst ausreichen wird, ist die große Frage. Die wenigsten Peruaner können auf eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen hoffen. "Der geflohene Fujimori", schreibt die FAZ, "hat das Land, das er ein Jahrzehnt lang autoritär regierte, in einer schwierigen Situation hinterlassen. Ein Viertel der Bewohner Limas planen nach dem Ergebnis einer Umfrage, Peru zu verlassen. Weit über die Hälfte der Hauptstadtbewohner glauben, daß es ihnen in einem anderen Land besser ginge."

Ganz ähnlich auch der Tenor der Berichterstattung in der Frankfurter Rundschau. Ulrich Achermann berichtet aus Lima:
"Toledos Sieg bestätigt weder den "American Dream", noch steht er für die Legende, auch in den Anden winke jeden Tüchtigen das Glück. Das Sozialgefüge Perus wird das alte, ungerechte bleiben. Dass ein Vertreter der indigenen Bevölkerungsmehrheit, die unter Rassismus und sozialer Diskriminierung durch die weiße Elite leidet, den Sprung in den Präsidentenpalast schaffte, ist keine Überwindung dieser Praktiken. Es zeigt nur, wie ein politischer Außenseiter die Gelegenheit packte, den Massenprotest gegen das verhasste Fujimori-Regime zu kanalisieren und es in die Knie zu zwingen.
Munter drauflos versprach der Caudillo alles Mögliche: Sein Wahlkampfhit war die Zusage, Arbeitsplätze zu schaffen. Toledo setzte sich durch, weil mit der Regierungszeit des Herausforderers Garcia (1985-1990) Traumata verbunden sind: Erinnerungen an ausufernde Korruption, Lebensmittelrationierung, Terrorismus und eine galoppierende Inflation.
Auf den Volkswirtschafter mit einem Abschluss von der Eliteuniversität Stanford wartet die titanische Aufgabe, Perus rechtsstaatlichen, wirtschaftlichen und sozialen Wiederaufbau voranzubringen. Wie will er die Erwartungen des 26 Millionen-Volks und seine Wahlversprechen mit den Zwängen der Haushaltsdisziplin in Einklang bringen, und zwar ohne eigene Kongressmehrheit? Ob Toledos bunte Hausmacht auch noch funktioniert, wo kein Fujimori mehr die Reihen eint, muss sich erst weisen. Die Bevölkerung dürfte der neuen Regierung jedenfalls kaum viel Geduld entgegenbringen. Viele halten es für möglich, dass der Toledo-Regierung schon nach zwei Jahren die Luft ausgeht und Peru wieder vor einem Scherbenhaufen steht." (FR, 05.06.2001)


Aus einem Kommentar der Frankfurter Rundschau (Ulrich Achermann):
Mehr Qual als Wahl
... Wer sich zwischen zwei Übeln für das kleinere entscheiden muss, der hat nicht eigentlich die Wahl, sondern eine Qual. Genau das ist den Wählern Perus widerfahren. Deshalb ist die Restaurierung des vom Fujimori-Klüngel zehn Jahre lang mit Füßen getretenen Rechtsstaats von Anfang an mit einer Hypothek befrachtet.
Für das breite Empfinden im peruanischen Volk, von den Parteien und der Politik einmal mehr im Stich gelassen worden zu sein, gibt es Ursachen. Über die erste hinterfragt sich die Gesellschaft am besten selber: Wieso erduldet ein Volk ein volles Jahrzehnt lang eine üble Halbdiktatur, die von Beginn an Grund- und Menschenrechte verletzt und die Institutionen des Rechtsstaates und die gesamte Volkswirtschaft aushöhlt und sich, wie 1995 geschehen, der Wiederwahl und breitem Wählerzuspruch erfreuen darf? Peru ist derart auf den Hund gekommen, dass zum Neubeginn das Feld zwei populistischen Caudillos gehörte: Wahlsieger Alejandro Toledo und Ex-Präsident Alan Garcia. Dem Neuen fehlt das Format des aufrechten Demokraten wie eine glaubwürdige Partei.
Es sieht nicht danach aus, als hätten die Peruaner die nötigen Lehren aus dem Desaster gezogen. Hoffentlich steht der Neubeginn unter einem besseren Stern, als es zu befürchten gilt: Mit unerfüllbaren, verantwortungslosen Versprechen an die ausgepowerten Peruaner haben Toledo wie Garcia alle Voraussetzungen erfüllt, von Erwartungsdruck und falschen Hoffnungen an die Wand gedrückt zu werden. Abenteuer, die sich in 55 Jahren schon fünfmal wiederholten und stets mit einem Zivil- oder Militärputsch endeten.
Aus: FR, 05.06.2001



Zum Wahlausgang ein Interview:

Javier Diez Caseco, ehemaliger Vorsitzender der "Vereinigten Linken" Perus, in einem Gespräch der "jungen welt"

F: Der Kandidat der Bewegung »Peru Posible« Alejandro Toledo konnte sich am Sonntag mit knapper Mehrheit gegen den ehemaligen Präsidenten Alan García durchsetzen. Ist das der lange erwartete demokratische Wechsel in Peru?

Nicht erst mit dem Ergebnis der Wahlen, sondern seit dem Sturz der Diktatur von Alberto Fujimori und seines Geheimdienstchefs Vladimiro Montesinos ist der Prozeß der Demokratisierung in Peru eingeleitet. Doch steht diese Entwicklung gerade erst am Anfang. Die sichtbarste Auswirkung ist sicherlich ein Erstarken moralischer Werte in den politischen Institutionen und eine damit einhergehende Zurückdrängung korrupter Machenschaften. Erstmals werden sowohl Militärs und Unternehmer als auch hohe Staatsbeamte, die Fujimori dienten, zur Rechenschaft gezogen. Um die Stabilität dieser Entwicklung zu gewährleisten, muß die Aufarbeitung der Diktatur aber noch vertieft werden. Das gesamte politische System muß dahingehend reformiert werden, daß den Bürgern die Kontrolle der politischen Amtsträger wieder ermöglicht wird. Ein wichtiger Schritt dabei ist die Dezentralisierung der Machtstruktur, denn nur so kann den einzelnen Regionen das Recht wieder zugesprochen werden, ihre eigenen Vertreter zu bestimmen. Mit dieser Entwicklung würden zudem günstige Verhältnisse für einen wirtschaftlichen Aufschwung gewährleistet. Die Entwicklungen bedingen sich, denn mit einer wirtschaftlichen Gesundung könnte sich auch das Sozialsystem stabilisieren, das in den Jahren der Diktatur brutalsten Angriffen ausgesetzt war. Diese Aufgaben obliegen nun Alejandro Toledo, und er muß dabei zweifelsohne enormen Erwartungen gerecht werden.

F: In Europa wird Toledo weitgehend als linker Politiker dargestellt. Mit Recht?

Toledo steht mit »Peru Posible« einem breiten politischen Bündnis vor, das weitgehend für eine Demokratisierung des Landes eintritt. Zumindest aber in der Wirtschaftspolitik ist in seinen bisherigen Stellungnahmen eine starke Anlehnung an neoliberale Positionen zu erkennen.

F: Eine Konsequenz aus seinem Wirtschaftsstudium u.a. an der Stanford-Universität in den Vereinigten Staaten?

Möglicherweise, aber seinen Interessen stehen durchaus progressive Positionen in dem Bündnis gegenüber, auch im Wirtschaftsstab. Wie auf politischem Gebiet werden wir in den kommenden Monaten wohl Zeugen von deutlichen Interessendivergenzen werden. Dabei werden nicht nur in der Politik, sondern auch in der Gesellschaft die Claims neu abgesteckt werden. Schon aus der Bewegung gegen die Diktatur hat sich ein neuer sozialer Protest formiert, der, so bleibt zu hoffen, ein wichtiges Gegengewicht zu den neoliberalen Interessen in Peru bilden wird.

F: Welches Gewicht haben die Wahlen tatsächlich, inwieweit also haben sich die Machtverhältnisse, besonders die Rolle des Militärs, gewandelt?

In dem Moment, in dem Fujimori und Montesinos geflohen sind, hat die Hydra ihre wichtigsten Köpfe endgültig verloren. Den mafiösen Strukturen ist es nicht gelungen, ihre Macht neu zu konstituieren. Die Videos mit Bestechungsversuchen und kriminellen Geldzahlungen von Monesinos an Abgeordnete haben die Grundlage für eine Strafverfolgung hoher Funktionäre aus Politik und Militär geschaffen. Das ist für unser Land einmalig. Die juristische Aufarbeitung kann aber nur ein erster Schritt sein. Sie muß durch eine tiefgreifende moralische Neuorientierung ergänzt und gefestigt werden, durch die in den staatlichen Institutionen ein für alle Male mit der Korruption, die im übrigen eng mit dem Drogenhandel verstrickt ist, aufgeräumt wird. Und eben in dieser Entmilitarisierung der Politik steht Toledo, einhergehend mit der Reduktion der Streitkräfte, die heikelste Aufgabe bevor. Die so frei werdenden Ressourcen werden für soziale Zwecke dringendst benötigt. Nur mit einer solchen Politik kann dem tiefsitzenden Mißtrauen vieler Peruanerinnen und Peruaner in das politische System entgegengewirkt werden.

F: Die USA wollen vor allem die Andenstaaten für ihren Kolumbien-Plan stärker in die Verantwortung nehmen. Was ist von Alejandro Toledo zu erwarten?

Nun, der lautstarke Befürworter dieses Planes im Wahlkampf war Alan García, insofern liegen die Karten für Washington wohl nicht mehr ganz so gut. García ging so weit, den Vereinigten Staaten quasi die Tür für eine militärische Stationierung in Peru zu öffnen. Er hatte Pläne für eine Art Kolumbien-Plan auch für Peru. Die wichtige Rolle Kolumbiens für die Stabilität Lateinamerikas ist ebenso bekannt wie die möglichen Auswirkungen des Kolumbienplanes in der gesamten Region. Trotz der politischen Nähe Alejandro Toledos zu der von den Vereinigten Staaten favorisierten Wirtschaftspolitik, auch in Südamerika, glaube ich, daß er die Souveränität unseres Landes gegen eine geplante primär militärische Einflußnahme Nordamerikas in der Region ablehnen wird.

Interview: Harald Neuber
Aus: junge welt, 05. Juni 01

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