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Nach Kerry-Initiative und Gaza-Krieg:

Eskalation oder Deeskalation im Nahen Osten?

Von Clemens Ronnefeldt *

Während der Abfassung dieses Artikels steht der Nahostkonflikt wieder einmal an einem Scheidepunkt: Nach der mehrfachen Erstürmung des Tempelbergs samt Eindringens in die Al Aksa-Moschee durch die israelische Armee (IDF), dem Attentat auf den Rabbiner Jehuda Glick durch ein Mitglied des islamischen Dschihad, Brandanschlägen auf Synagogen und Moscheen, etlichen Toten auf palästinensischer Seite im Westjordanland und im Gazastreifen durch IDF-Angehörige und Anschlägen mit Autos und Messern auf jüdische Zivilisten in Jerusalem durch Palästinenser droht die Gewalt im Nahost-Konflikt zu eskalieren. Das rechte Parteibündnis in der Knesset arbeitet an einem Gesetzentwurf, der Juden den ungehinderten Zugang zum Tempelberg erlauben soll. Hamas und Fatah riefen dazu auf, dies mit allen Mitteln zu verhindern.

Die kommenden Wochen und Monate werden darüber entscheiden, ob dieser Jahrhundertkonflikt unkontrolliert eskaliert - oder in einer internationalen Kraftanstrengung noch einmal deeskaliert werden kann. "Trotz Warnungen der Sicherheitskräfte einschließlich des Geheimdienstes Shin Bet vor einem Flächenbrand, der auch das besetzte Westjordanland erfassen könnte, wird wenig getan, um die Lage zu beruhigen. Auch von internationalen Warnungen zeigt sich Israels Regierung bislang unbeeindruckt", so die Süddeutsche Zeitung, nachfolgend SZ, am 10.11.2014.

Vorgeschichte: Scheitern der Friedensverhandlungen und Gazakrieg

Alain Gresh, Chefredakteur von "Le Monde Diplomatique", benannte unter der Überschrift "Scheitern als Prinzip. Wie Israel die Friedensgespräche mit den Palästinensern zur Farce macht" (LMD, Juni 2014), warum US-Außenminister John Kerry der israelischen Regierung die Hauptverantwortung für das Nichtzustandekommen einer Lösung im April 2014 zuschrieb:

"Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) akzeptierte zahlreiche Einschränkungen der Rechte, die ein unabhängiger Staat besitzt: die Entmilitarisierung des zukünftigen palästinensischen Staats und die Präsenz israelischer Soldaten am Jordan, die nach fünf Jahren durch US-Truppen abgelöst werden sollten. Sie willigte zudem ein, dass die Siedlungen in Jerusalem unter israelische Kontrolle gestellt werden, und akzeptierte einen Austausch von Territorien, mit dem 80 Prozent der Siedlungen im Westjordanland in den israelischen Staat integriert würden. Schließlich sollte die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge der Einwilligung Israels bedürfen. Kein anderer palästinensischer Führer hat jemals so viele Zugeständnisse gemacht wie Mahmud Abbas. Und es ist sehr unwahrscheinlich, dass sich in Zukunft jemand finden wird, der diese harten Bedingungen akzeptiert"(1).

Der UN-Menschenrechtsrat entschied am 23. Juli 2014 in einer Sondersitzung, mögliche Kriegsverbrechen sowohl der palästinensischen wie der israelischen Seite im Gaza-Israel-Krieg 2014 zu untersuchen. Die israelische Regierung verweigerte im Herbst 2014 einer UN-Kommission zur Untersuchung des Krieges sowohl die Einreise wie auch die Zusammenarbeit (2).

Die Forderungen der Hamas u.a. nach Öffnung des Gazastreifens durch den Bau eines Hafens und eines Flughafens konnten bisher in den Verhandlungen mit Israel nicht umgesetzt werden, ein dauerhaftes Waffenstillstandsabkommen ist derzeit in weiter Ferne. Am 12. Oktober 2014 sagten Regierungen aus 50 Staaten auf einer Geberkonferenz in Kairo mehr als vier Milliarden Euro für den Wiederaufbau des Gazastreifens zu.

Zur israelischen Politik

Reuven Rivlin, seit Sommer 2014 Präsident Israels, machte sich auf einer Konferenz im Herbst 2014 beim rechten Lager seines Landes unbeliebt: "Es ist an der Zeit, ehrlich zuzugeben, dass die israelische Gesellschaft krank ist, und diese Krankheit muss behandelt werden". Er kritisierte, "dass viele Araber in Israel einem Rassismus ausgesetzt sind". Jerusalem dürfe keine Stadt werden, in der "geheim gebaut wird und Umzüge im Schutz der Nacht stattfinden" (SZ, 4.11.2014). Was der israelische Präsident euphemistisch "Umzüge" nennt, beschrieb die Israel-Korrespondentin der Frankfurter Rundschau, Inge Günther, folgendermaßen:

"Es war stockfinstere Nacht, als eine Gruppe männlicher Siedler, bepackt mit Kisten und flankiert von israelischen Grenzpolizisten und vermummten Spezialeinheiten die beiden Wohnungen im ersten Stock in Beschlag nahmen. 'Wir wachten auf, völlig schockiert', berichtet die vierzigjährige Um Mohammed Hayat, die mit ihrem Mann und zwei Kindern im Parterre lebt. 'Ich glaube an Frieden. Aber das ist ein Familienhaus. Da können doch Fremde nicht einfach erzwingen, hier einzuziehen.' Bei ihrer nächtlichen Aktion reklamierten die Siedler diese Woche auf einen Schlag gleich 23 Wohnungen in Silwan, einem Ost-Jerusalemer Brennpunkt in Altstadtnähe, als ihren Besitz. Brecheisen brauchten sie nicht. Sie hatten passende Schlüssel dabei, nur in einem Fall brachen sie die Tür auf und warfen die Bewohner auf die Straße. (...) Durch schleichende Übernahme haben sich über die Jahre hinweg bereits rund 400 israelische Siedler in ihrer Mitte niedergelassen, um sich herum Hochsicherheitszäune gezogen sowie Kameras und Wachposten auf den Dächern postiert". (FR, 4.10.2014). Am 3. September 2014 zerstörten israelische Soldaten eine Joghurtfabrik in Hebron mit rund 4000 Beschäftigten.

Im September 2014 schrieben 43 Reservisten der israelischen Geheimdienst-Eliteeinheit 8200 einen offenen Brief an Ministerpräsident Netanyahu, dass sie aus Gewissensgründen keine Informationen mehr sammeln werden, mit denen Palästinenser zur Kollaboration mit der israelischen Armee gezwungen werden.

Im "SPIEGEL" vom 8. Oktober 2014 berichtete Julia Amalia Heyer: "Jedes Jahr werden etwa 700 palästinensische Kinder von der israelischen Armee festgenommen, 2013 waren es mehr als tausend. Die meisten von ihnen werden beschuldigt, Steine geworfen zu haben, auf Fahrzeuge, auf Soldaten, auf jüdische Siedler. Nach dem israelischen Militärrecht, das für die Palästinenser im Westjordanland gilt, sind Kinder ab zwölf Jahren strafmündig. Bis zu sechs Monate Haft beträgt die Strafe für 12- oder 13-jährige, die einen Stein geworfen haben. Im vergangenen Jahr veröffentlichte das Kinderhilfswerk Unicef einen Bericht über minderjährige Palästinenser in Militärhaft. Darin werden schwere Verstöße gegen die Kinderrechtskonvention festgestellt: Misshandlungen scheinen 'weitverbreitet, systematisch und durch die Strafverfahren vor den Militärgerichten geradezu institutionalisiert'. Und zwar vom 'Moment der Verhaftung über die eventuelle Anklage bis zu einem Urteil'. Die in dem Bericht aufgelisteten Misshandlungen reichen von abschnürenden Fesseln über Isolationshaft bis hin zur Androhung physischer oder in seltenen Fällen sogar sexueller Gewalt".

Mitte Oktober 2014 riefen 363 namhafte israelische Persönlichkeiten, darunter ehemalige Diplomaten und Minister in einem Brief das britische Parlament auf, für eine Anerkennung des Staates Palästina zu stimmen - vergeblich. Mehr Gehör fanden sie in Schweden, das als erstes EU-Land überhaupt den Palästinenserstaat im Herbst 2014 anerkannte.

"In einer der größten Protestaktionen israelischer Prominenter hat eine Gruppe von 106 ehemaligen IDF-Generälen, Mossad-Agenten und Polizei-Kommissaren einen Brief an Premierminister Netanyahu unterschrieben, in dem der Regierungschef aufgefordert wird, einen 'diplomatischen Prozess' zu lancieren, der auf einem regionalen Rahmen für einen Frieden mit den Palästinensern basieren müsse", berichtete die Plattform "Tachles" (3).

Zur palästinensischen Politik

Präsident Mahmud Abbas hofft, mit dem Rückenwind europäischer Staaten, die wie Schweden Palästina anerkennen, im UN-Sicherheitsrat einen Resolutionsentwurf durch zu bekommen, der Israel eine Frist bezüglich einer Zweistaatenregelung setzt. Israel soll sich "bis spätestens 2016 aus den 1967 eroberten Gebieten zurückziehen. Sieben Mitglieder im UN-Sicherheitsrat unterstützen nach Angaben von PLO-Führungsmitglied Nabil Shaat diese Initiative. Die USA haben aber ein Veto angekündigt" (FR, 14.10.2014).

Seit der Unterzeichnung des Pariser Protokolls 1994, das die Wirtschafts- und Finanzteile der Oslo-Verträge regelt, kontrolliert Israel die Wirtschaft der Palästinenser/innen, "die 70% der Waren aus Israel importieren und mehr als 85% ihrer Produkte nach Israel ausführen" (4). Zölle, die eigentlich der PA zustehen, werden immer wieder einbehalten. In jüngster Zeit werden in den palästinensischen Gebieten verstärkt Waren aus Israel boykottiert.

Nach dem israelisch-palästinensischen Sicherheitsabkommen von 1993 dürfen palästinensische Polizisten im Westjordanland gegen Angriffe von Siedlern nicht vorgehen und sind dazu verpflichtet, beim Aufspüren und der Verhaftung palästinensischer Aktivisten aus den Reihen von Hamas, Islamischem Dschihad oder der Volksfront zur Befreiung Palästinas mit der Regierung Israels zu kooperieren.

Da die Regierung von Präsident Abbas von Zahlungen aus dem Westen abhängig ist, hat sie trotz erheblichen Drucks seitens der palästinensischen Gesellschaft und Ausbleibens der eigenen Staatlichkeit die Oslo-Verträge nicht gekündigt. Die mögliche Mitgliedschaft im Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag wurde bisher nicht unterzeichnet, wodurch mutmaßliche israelische Kriegsverbrechen im jüngsten Gazakrieg untersucht werden könnten. Helga Baumgarten schreibt, dass "ein Brief der Staatsanwaltschaft in Den Haag (zeigt), dass die PA nicht bereit war, eine in Den Haag vorliegende Klage aus Gaza als offizielle palästinensische Klage zu deklarieren und damit den juristischen Prozess in Gang zu setzen" (5).

Unter großem Druck steht die derzeitige aus Technokraten zusammengesetzte Einheitsregierung aus Hamas und Fatah auch wegen der ausstehenden Gehälter für Angestellte der PA im Gazastreifen, die seit 2006/2007 die ehemaligen Angestellten der Fatah ersetzt haben.

Die internationale Boykott, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung (BDS) wird von vielen Menschen in der Westbank wie im Gazastreifen als Hoffnungszeichen gesehen, mit dieser Form des gewaltfreien Widerstands u.a. durch den bewussten Kaufverzicht von Waren aus den besetzten Gebieten Druck auf die israelische Regierung auszuüben.

Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die aktuellen Spannungen in einer neuen Intifada (arab.: Abschütteln, gemeint ist die israelische Besatzung) blutig entladen, ist derzeit groß. Der inhaftierte Fatah-Aktivist Marwan Barghouti rief aus dem Gefängnis heraus die palästinensische Führung dazu auf, den bewaffneten Widerstand zu unterstützen.

Internationale Initiativen

Nach Auffassung der hohen Beauftragten für Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Federica Mogherini, macht der Nahe Osten "die womöglich schwerste Zeit seiner Geschichte" (SZ, 4.11.2014) durch. Ihre erste Reise in ein Nicht-EU-Land führte sie im November 2014 nach Israel und Palästina. Daran "dass sie die Etablierung eines Palästinenserstaates für nicht nur wünschenswert, sondern als ein 'Ziel' erachtet, lässt sie keinen Zweifel" (SZ, 4.11.2014). Die Gründung des Staates Palästina nannte sie "den einzigen Weg für Israel, um Sicherheit zu erlangen" (SZ, 10.11.2014).

Die Botschafter von Großbritannien, Frankreich, Italien und Spanien und der stellvertretende Botschafter von Deutschland übergaben dem Nationalen israelischen Sicherheitsberater Yossi Cohen im September 2014 einen Brief, in dem sie gegen die Entscheidung protestierten, rund vier Millionen Quadratmeter palästinensischen Landes bei Gush Etzion - südlich von Jerusalem - als israelisches Staatsland auszugeben (6).

Beim Nahost-Besuch des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier Mitte November 2014 belehrte der israelische Außenminister Avigdor Liebermann seinen deutschen Amtskollegen "bereits vor den Kameras, dass es sich bei Neubauten im arabischen Ostjerusalem nicht um Siedlungen, sondern um 'jüdische Wohnviertel' handele und er sich daher jede 'Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten' verbitte" (SZ, 17.11.2014).

"Fäkal-Diplomatie. Die israelisch-amerikanischen Beziehungen haben einen neuen Tiefpunkt erreicht", titelte die Süddeutsche Zeitung am 30. Oktober 2014 nach heftigen gegenseitigen Beleidigungen zwischen Israelis und US-Amerikanern. Bei einem Krisengipfel in Amman im November 2014 hatte Benjamin Netanyahu US-Außenminister John Kerry "das Versprechen abgeben müssen, dass sich am Status quo auf dem Tempelberg nichts ändern werde" (SZ, 17.11.2014).

Der ehemalige israelische Geheimdienstchef Jaakov Peri sprach sich angesichts der wachsenden Eskalation dafür aus, "eine Regionalkonferenz unter anderem mit Jordanien, Ägypten und Saudi-Arabien einzuberufen" (FR, 13.11.2014).

Es ist zu hoffen, dass seine Worte möglichst bald auf fruchtbaren Boden fallen.

Anmerkungen
  1. www.school-scout.de/extract/59245/1-Vorschau_als_PDF.pdf
  2. http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/israel-will-untersuchung-zum-gaza-krieg-verhindern-13263430.html
  3. http://tachles.ch/news/106-ex-generaele-und-fruehere-geheimdienstler-tu-was-fuer-den-frieden
  4. Olivier Pironet, Zone, Lager und Gefängnis. Im Westjordanland dient die palästinensische Polizei als ausführendes Organ der Besatzungspolitik, in: Le Monde Diplomatique, Oktober 2014, S. 12f.
  5. Helga Baumgarten, Das "System Oslo" und der Krieg gegen Gaza, in: INAMO 79, Herbst 2014, S. 34-38.
  6. vgl. http://www.haaretz.com/news/diplomacy-defense/1.614959
* Clemens Ronnefeldt, Diplom-Theologe, ist seit 1992 Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes, der 1914 gegründet wurde, rund 100 000 Mitglieder zählt und Beraterstatus bei den Vereinten Nationen hat. Clemens Ronnefeldt nahm seit 1990 an Friedensdelegationen nach Irak, Iran, Syrien, Libanon, Israel, Palästina, Ägypten und Jordanien teil.


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