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"Verdrängung durch gezielte Rückentwicklung"

Israel will von Deutschland finanzierte humanitäre Projekte im Westjordanland abreißen


Pressemitteilung von medico international

Israelische Behörden wollen im Westjordanland humanitäre Projekte, die mit deutschen Mitteln finanziert werden, im Wert von mehr als 200.000 Euro abreißen lassen. Betroffen sind Windkraft- und Solaranlagen, welche die Frankfurter Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international in Zusammenarbeit mit der israelischen Organisation Comet-ME in palästinensischen Dörfern der Südhebronhügel errichtete. Finanziert werden die Projekte aus Spendengeldern und mit finanzieller Unterstützung des Deutschen Auswärtigen Amts.

Rund 1.500 Palästinenser sind von der dezentralen, regenerativen Energieversorgung abhängig, da die israelische Administration ihnen den Anschluss an die bestehenden Wasser- und Stromleitungen in den sog. C-Gebieten, entgegen dem Humanitären Völkerrecht, verweigert. "Die israelischen Behörden fördern dort zwar die jüdischen Siedlungen mit großzügigen Subventionen, genehmigen Palästinensern aber nicht den Bau von Kindergärten oder Gesundheitseinrichtungen", kritisiert medico-Nahostreferent Tsafrir Cohen.

Cohen erläutert: "Der drohenden Abriss ist Ausdruck einer Politik der gezielten Rückentwicklung. Die israelische Administration macht der palästinensischen Bevölkerung das Leben in den C-Gebieten unmöglich. Sie werden so in die dichtgedrängten städtischen Enklaven Ramallah oder Hebron verdrängt.“ Aber ohne den ländlichen Raum der C-Gebiete – immerhin 60 Prozent der Westbank – ist kein lebensfähiger palästinensischer Staat möglich, da sind sich Bundesregierung, EU, UN und Weltbank einig. Mit dieser Abrissprozedur erteile, so Cohen, die israelische Politik einer Zweistaatenlösung faktisch eine Absage.


Ein widerständiges Projekt gegen die Verdrängung

Israelisch-palästinensische Solidarität im Zeichen erneuerbarer Energien *

Wadha An-Najjar stößt den an der Decke hängenden Sack aus gegerbter Ziegenhaut, der frische Ziegenmilch enthält, mit kräftigen Bewegungen hin und her. So lange, bis die flüssige Milch zu Joghurt oder Butter gerinnt. Diese anstrengende, langwierig anmutende Tätigkeit ist für sie Routine. Aber seit sie und ihre Familie über Strom in ihrem Zelt verfügen, muss sie diese nicht täglich ausüben, sondern kann die frisch produzierte Butter oder den Joghurt aus Schafsmilch, den die Familie auf dem Markt verkauft, kühl stellen. Neben dem Kühlschrank steht ein Fernsehgerät, und in den langen Winterabenden kann sich Wadha jetzt die geliebten jordanischen TV-Serien über Beduinenfamilien anschauen, während die Kinder auch nach Sonnenuntergang ihre Hausaufgaben machen können, bevor die gesamte Familie beim Abendbrot das Brot, das sie essen, auch sehen können.

Die Südhebronhügel: Mechanismen der Verdrängung entlang ethnisch-religiöser Zuordnung

Die einfachen Vorteile einer Stromversorgung konnten Wadha An-Najjar und die anderen Bewohner des kleinen Dorfs Qawawis lange Jahre nicht genießen. Wie mehrere Tausend andere Bewohner palästinensischer Gemeinden in der atemberaubenden Wüstenlandschaft der Südhebronhügeln leben sie in bitterster Armut. Ihre Hütten, Zelte und traditionellen Höhlenwohnungen haben weder Strom- noch Wasseranschluss. Denn hier, ganz im Süden des von Israel besetzten Westjordanlands verläuft die Elektrifizierung entlang ethnisch-religiöser Grenzen. Den Anschluss an die Stromtrasse – in Blickweite gelegen, versorgt sie die nahen, seit Jahren wachsenden jüdischen Siedlungen – hat die Besatzungsbehörde verboten.

Mancher Familienverband lebt hier seit dem 19. Jahrhundert, andere flüchteten hierher während des Kriegs 1948 aus dem heutigen Israel. Sie hatten ihre Häuser, ihr Land und ihre Einkommensquellen verloren. Mit dem wenigen Geld, das sie bei sich hatten, erstand manche Flüchtlingsgemeinde ein Stück Land. In dieser von Wassermangel gezeichneten Halbwüstenregion bedeutete dies, dass sie dazu verurteilt waren von der Ziegen- und Schafzucht zu leben. Das Land anbauen konnten sie lediglich während des sehr kurzen Frühlings.

Zwei Jahrzehnte später, 1967 wurde die Westbank von Israel erobert. Bald zogen die ersten israelischen Siedler in die Region. Nach und nach bemächtigten sie sich des Lands. Eingezwängt durch Zugangstraßen zu den Siedlungen, geschlossene Militärgebiete und jüdische Siedlungen blieb den palästinensischen Gemeinden immer weniger Weideland. Gleichzeitig erkennt die israelische Administration die palästinensischen Dörfer nicht an. Sprich, für die israelische Bürokratie existieren sie einfach nicht. Folglich gibt es keine genehmigten Bebauungspläne für diese Gemeinden. Daraus ergibt sich automatisch, dass alle Infrastruktur illegal ist, und jede noch so kleine Baumaßnahme eine Gesetzesübertretung darstellt. Immer wieder rücken israelische Bulldozer ein und zerstören hier eine ärmliche Behausung, dort ein Toilettenhäuschen oder eine einfache Wasserzisterne zum Sammeln von Regenwasser, die die Palästinenser notgedrungen ohne Genehmigung bauen.

Während sich die palästinensischen Bewohner an das Leben zwischen dem Schütt abgerissener Hütten gewöhnen müssen, wachsen die nahe gelegenen israelischen Siedlungen. Symmetrische Reihen von Einfamilienhäusern, einheitliche rote Ziegeldächer und Vorgärten. Die Straßen zu den Siedlungen sind frisch asphaltiert, die Versorgung mit Wasser und Strom ist auf dem letzten Stand der Technik. Eine hübsche Postkartenidylle. Sauber durch Zäune getrennt von den vielerorts wenige Meter entfernt liegenden palästinensischen Gemeinden.

Die C-Gebiete: Gezielte Rückentwicklung

Die palästinensischen Bewohner in den Südhebronhügeln haben das Pech, wie 150.000 weitere Palästinenser in den C-Gebieten zu leben. Anfang der 1990er Jahren schlossen Israel und die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO die Osloer (Friedens)Verträge. Die besetzten Gebiete sollten - so verstand es die Weltöffentlichkeit jedenfalls - stufenweise an neu zu schaffenden palästinensischen Autoritäten übergeben werden. Die dicht bevölkerten Palästinensergebiete wurden als A- und B-Gebiete deklariert und sind seitdem der palästinensischen Autonomiebehörde zivilrechtlich unterstellt. Fast genau 60% des Westjordanlands wurden als C-Gebiet deklariert und unterliegen der direkten israelischen Verwaltung. Doch, was in aller Welt als die erste Stufe hin zum Aufbau eines Staats Palästina verstanden wurde, ist zwei Jahrzehnte später zu einer Dauereinrichtung ausgeartet. Mit schwerwiegenden humanitären Konsequenzen.

Da Israel in diesen Gebieten die staatliche Macht darstellt, hätten die israelischen Behörden hier die Verantwortung für das Wohl der Bevölkerung. Doch während sie die israelischen Siedlungen großzügig subventionieren, verknappen sie systematisch den Zugang der palästinensischen Gemeinden zu Wasser und Land, verbieten den Anschluss der Häuser ans Stromnetz oder den Bau von Kindergärten oder Gesundheitseinrichtungen. Mit dieser Politik einer gezielten Rückentwicklung verdrängt die israelische Administration die palästinensische Bevölkerung in die dichtgedrängten städtischen Enklaven, etwa Ramallah oder Hebron. Aber ohne den ländlichen Raum dazwischen ist weder Entwicklung für die Palästinenser, geschweige denn ein lebensfähiger palästinensischer Staat möglich. Stattdessen entstand ist der größte Teil der Westbank zu einem Raum geworden, in dem entlang ethnisch-religiöser Zuordnung zwei Rechtsordnungen für zwei Bevölkerungsgruppen nebeneinander bestehen. Hier setzen medico und seine lokalen Partner an, um grundlegende humanitäre Hilfe zu leisten und darüber hinaus die politischen, sozialen und ökonomischen Menschenrechte zu verteidigen – und damit die erzwungene Segregation der Palästinenser zurückzudrängen.

Unerwartete Solidarität

Etwa mit der israelischen Organisation Comet-ME. Gegründet wurde sie von Noam Dotan und Elad Orian, zwei jüdisch-israelischen Aktivisten, die sich mit der israelischen Politik nicht abfinden wollten. Sie kennen die Südhebronhügeln seit langem und wollten mehr tun als nur gegen die unhaltbaren Zustände demonstrieren. Die beiden Physiker gründeten Comet-ME, um den palästinensischen Gemeinden auf den Südhebronhügeln mit Strom zu versorgen. Da feste Stromnetze verboten sind, kamen sie auf die Idee mit alternativen Energiequellen zu arbeiten. Nach einem Pilotprojekt mit alternativen Energien im Dorf Susya konnten Comet-ME und medico mithilfe des Deutschen Auswärtigen Amts, das sich stark für das Projekt engagierte und 2009-10 ca. 170.000€ , 2011-12 413.000€ zur Verfügung gestellt hatte, mit großangelegten Projekten beginnen. In jedem dieser Projekte wurden jeweils in fünf Gemeinden Wind- und Solaranlagen installiert. Diese haben die beiden Aktivisten aus Hunderten von Einzelteilen selber gebaut, um Geld zu sparen. Tage- und nächtelang tüftelten sie an für jede Gemeinde maßgeschneiderten Anlagen. In jedem Dorf installierten sie die Anlagen unter reger Beteiligung der gesamten Gemeinde. Wochenlang übernachteten sie in den Dörfern. Zu Hilfe kamen palästinensische Studenten aus einer technischen Fachhochschule in Hebron, die gleichzeitig gelernt haben, wie Solar- und Windanlagen funktionieren und wie diese zu warten seien. Auch einige der Dorfbewohner wurden ausgebildet, damit sie künftig die Anlagen warten können.

Insgesamt mehr als 800 Menschen haben heute eine Basisstromversorgung: Es gibt auch abends Licht, Handys können aufgeladen werden, Kühlschränke ermöglichen längere Aufbewahrung von Lebensmitteln für den Eigenbedarf sowie für den Verkauf von Milchprodukten. Die Frauen der Dörfer müssen nicht mehr täglich zwei bis drei Stunden Schaffsmilch schlagen, um Schaffsbutter und Joghurt herzustellen.

„Am Abend auf die Hügel zu schauen und zu sehen, wie die Lichter aufgehen, ist ein ganz besonderes Gefühl“, sagt Noam. „Das Projekt war aber mehr. Es hat das Leben der Menschen hier ungemein erleichtert, doch wir sollten uns keine Illusionen machen: Die Verdrängungsmechanismen der Besatzung werden ihr Leben und die Entwicklung ihrer Gemeinden weiter tangieren, aber das Licht in ihren Dörfern ist ein Zeichen für ihren Widerstand, der darin besteht, dass sie einfach bleiben und sich nicht verdrängen lassen. Und für unseren Widerstand, die Verdrängung nicht zu akzeptieren“. Auch die innere Verfassung der Gemeinden hat sich verändert: Nach jahrelanger Zermürbung und Vernachlässigung haben sie kaum noch als Gemeinden existiert. Ohne kommunale Einrichtungen versuchte jede Familie zu überleben, sich nicht vom eigenen Stück Land verdrängen zu lassen. Kommunale Einrichtungen gibt es ja keine. Die Projekte boten ihnen die Möglichkeit, nicht nur sich selbst zu helfen sondern wieder als eine Gemeinde zu agieren. Die Projekte könnten diese Entwicklung auch langfristig sichern. Solar- und Windanlagen sind nachhaltige, umweltschonende Energiequellen, doch sie sind pflegebedürftig. Alle Nutzer müssen deshalb für ihren Strom zahlen. Das Geld fließt in eine gemeinsame Kasse, mit deren Hilfe künftige Reparaturen gedeckt werden. Damit hat jede Gemeinde weiterhin ein Projekt, an dem sie gemeinsam arbeiten kann.

Die israelische zivil-militärische Administration schlägt zurück

Bislang wurden diese Projekte von der Abrisswut der israelischen Behörden verschont. Doch jetzt erließ die israelische Ziviladministration einen Baustopp. Es sind insgesamt fünf Gemeinden und 500 Menschen hiervon betroffen. Drei dieser Anlagen, in den Gemeinden Qawawis, Tha’lah und Shi’b Al-Butum wurden im Rahmen der Zusammenarbeit von Comet-ME und medico und finanziert durch das Deutsche Auswärtige Amt 2011 installiert. Die Baustopp-Verfügungen gelten als die erste Stufe einer fast automatischen Prozedur, an deren Ende ein Abriss steht. medico und seine Partner werden alles versuchen, um diesen zu verhindern. Wir werden Widerspruch einlegen und wenn nötig bis zum Obersten israelischen Gerichtshof gehen.

Doch auch hierzulande müssen wir verstehen: Wenn bei Wadha An-Najjar und ihrer Familie der Abriss kommt, so gehen nicht nur bei ihnen die Lichter aus. Hier wird gezielt daran gearbeitet, die Palästinenser als Individuen und als Kollektiv aus den C-Gebieten zu vertreiben und diese an Israel anzuschließen. Doch ohne die C-Gebiete, immerhin 60% der Westbank kann es keinen palästinensischen Staat geben, da sind sich Bundesregierung, EU, UN und Weltbank einig. Mit dieser Abrissprozedur erteilt die israelische Politik einer Zwei-Staaten-Lösung faktisch eine Absage.

Projektstichwort:

Das expansive israelische Enklavensystem droht einem künftigen Palästina allenfalls umstellte Gebiete zu überlassen. Dagegen verteidigen die lokalen medico-Partner in Tel Aviv, Ramallah und Gaza die politischen, sozialen und ökonomischen Menschenrechte. Ihre Kooperation und ihre Hilfe ist konkret: Freier Zugang zu Gesundheitsdiensten ohne ethnische und nationale Zuschreibungen, basismedizinische Nothilfe und nachhaltige Entwicklungsarbeit. Dabei geht es immer auch darum Wege zu finden, wie dem fast perfekten System von Aus- und Einschlüssen entkommen werden kann. Damit Gewalt und Abgrenzung ein Ende haben. Das Spendenstichwort lautet: Israel-Palästina.
Spendenkonto von medico international: Kontonummer 1800, Frankfurter Sparkasse, BLZ 500 502 01



Fakten über die C-Gebiete

Was sind die C-Gebiete?

In Übereinstimmung mit den Osloer Verträgen Anfang der 1990er Jahre wurde die Westbank wie folgt aufgeteilt:
  • A-Gebiete (18% des Gesamtgebiets, über 50% der Gesamtbevölkerung) unter palästinensischer Zivil- und Sicherheitsverwaltung
  • B-Gebiete (20% des Gebiet, über 40% der Bevölkerung) unter palästinensischer Zivilverwaltung und gemeinsamer israelisch-palästinensischer Sicherheitsverwaltung
  • C-Gebiete (62% des Gebiets, ca. 6% der Bevölkerung) unter fast voller israelischer Zivil- und Sicherheitsverwaltung
Im C-Gebiet befinden sich die freien Flächen der Westbank, in denen Entwicklung stattfinden kann sowie große Teile der agrarwirtschaftlichen Fläche. In den C-Gebieten leben auch etwa 150.000 Palästinenser in 149 zumeist kleinen Gemeinden. Die C-Gebiete nehmen nicht nur geografisch den Löwenanteil der Westbank ein. Sie stellen das einzige zusammenhängende Gebiet der Westbank dar. Es umschließt die dicht bebauten A- und B-Gebiete, in denen sich alle palästinensischen Städte befinden sowie viele der Dorfkerne. Diese sind wie Dutzende Inseln voneinander durch C-Gebiet getrennt. Ohne die C-Gebiete – so Weltbank, UN und EU übereinstimmend – besteht das palästinensische Gebiet aus geographisch nicht zusammenhängenden Enklaven. Folglich kann es für die Palästinenser keine nachhaltige Entwicklung, wird es keinen palästinensischen Staat ohne die C-Gebiete geben.

Gleichzeitig umschließen die C-Gebiete alle israelischen Siedlungen im Westjordanland außerhalb Ostjerusalems. 1972, fünf Jahre nach der Eroberung des Westjordanlands lebten in den heutigen C-Gebieten 1.200 israelischen Siedler. Als die Osloer Verträge 1993 abgeschlossen wurden, waren es schon 110.000, und in den Jahren danach verdreifachte sich die Zahl auf etwa 310.000 in über 200 Siedlungen im Jahr 2010 (Dazu kommen weitere 200.000 in Ostjerusalem). Ihre Zahl vergrößerte sich im letzten Jahrzehnt um 5,3% jährlich.

Wer herrscht über die C-Gebiete?

Die israelische Ziviladministration. Diese ist für die Verwaltung und die öffentliche Ordnung, für Wohlfahrt und Förderung von Palästinensern wie israelischen Siedlern in den C-Gebieten verantwortlich. Ihre Mitarbeiter sind israelische Soldaten und israelische Zivilisten. Eine formelle palästinensische Vertretung ist nicht vorgesehen. Im Gegensatz zu den israelischen Siedlern, deren Gemeindekomitees autorisiert sind Baugenehmigungen zu erteilen. Alle Planungen – auf lokaler wie regionaler Ebene - finden ohne palästinensische Beteiligung statt. Diese Planungsprozesse berühren jeden Aspekt des Lebens der in den C-Gebieten lebenden palästinensischen Individuen wie der einzelnen Gemeinden. Die Ziviladministration herrscht also de facto über alle zivilen Belange in den C-Gebieten. Sie beeinflusst direkt und indirekt den humanitären, materiellen, gesellschaftlichen und psychologischen Zustand der Palästinenser und entscheidet allein über Entwicklung oder Rückentwicklung aller Individuen und Gemeinwesen in den C-Gebieten.

Ein System der Verdrängung und Segregation

Mithilfe unterschiedlicher administrativer Maßnahmen und Planungsverordnungen dezimierte die Besatzungsadministration die palästinensische Präsenz im ländlichen Gebiet, den heutigen C-Gebieten schon vor Abschluss der Osloer Verträge. So lebten allein im Jordantal, zum größten Teil als C-Gebiet deklariert, vor 1967 200.000 bis 320.000 Palästinenser; heute sind es nur noch 56.000, von denen etwa 70% in der Enklave Jericho leben, also im A-Gebiet.

Seit Abschluss der Osloer Verträge verhärtete sich die Genehmigungspolitik der israelischen Administration. So erhielten lediglich 5,6% der Bauanträge in den Jahren 2000-07 auch eine Genehmigung. Die israelische Planungspolitik verhindert die Errichtung palästinensischer Infrastruktur in den C-Gebieten: In 70% der C-Gebiete ist jede Bebauung verboten, und in der Praxis erlaubt die israelische Ziviladministration den Bau von lediglich 1% des C-Gebiets, das aber so gut wie voll ausgebaut ist. Von den 149 palästinensischen Dörfern haben 131 keine Bebauungspläne jenseits von Plänen aus der britischen Mandatzeit aus den 1940ern. Diese entsprechen keinesfalls den heutigen Realitäten und werden lediglich restriktiv genutzt, sprich um jede neue Infrastrukturmaßnahme für illegal zu erklären. Zudem wurde über ein Drittel des C-Gebiets durch die israelische Administration als Naturschutzgebiet oder als geschlossenes Militärgebiet deklariert. Palästinenser dürfen diese Gebiete folglich nicht nutzen, in der Regel nicht einmal betreten. Darüber hinaus dürfen Palästinenser die israelischen Siedlungen nicht betreten; auch breite Pufferzonen um die Siedlungen – früher Weide- und Anbauflächen der Palästinenser - sind für Palästinenser tabu.

Die israelische Regierung subventioniert und fördert dagegen Häuserbau, Bildungs-, Wasser- und Verkehrsinfrastruktur in den wachsenden israelischen Siedlungen im Westjordanland. Diese sind zu 40% auf privatem palästinensischem Land gebaut und hindern so palästinensische Entwicklung. Gleichzeitig forciert Israel die Verstaatlichung von Land. Dieses Land stellt die zivile Administration jedoch fast exklusiv für den israelischen Siedlungsausbau bereit.

Da Infrastruktur kaum gebaut werden kann, müssen die Palästinenser auf intensive Landwirtschaft, Industrie oder Tourismus im C-Gebiet verzichten. Übrig bleibt eine wenig intensive Landwirtschaft – saisonales Gemüse und Viehzucht. Während seit 2010 45 einfache Zisternen und Regenwasserauffangsysteme palästinensischer Dorfbewohner zerstört wurden, haben die israelischen Siedlungen im Jordantal – zum größten Teil C-Gebiet - eine intensive Landwirtschaft vor Ort aufgebaut, vor allem für den Export. Sie beanspruchen das Meiste Wasser der Region: Allein die etwa 10.000 israelischen Siedler des Jordantals nutzen ein Drittel des Bedarfs der gesamten palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland (2,5 Millionen Menschen). Zu Vorzugspreisen: Der Wasserpreis ist bis zu 75% subventioniert. Während jeder Siedler täglich 487 Liter Wasser für den privaten Verbrauch zur Verfügung hat, stehen den Palästinensern in der Westbank durchschnittlich 70 Liter zur Verfügung, vielen Bewohner der Gemeinden im C-Gebiet im Jordantal lediglich 20 Liter – nach den Standards der Weltgesundheitsorganisation die Menge, die benötigt wird um bei akuten humanitären Krisen, zu überleben, aber weit unter der empfohlenen Menge von 100 Litern.

Da sie kaum Genehmigungen erhalten, leben, arbeiten, spielen, lernen Abertausende Palästinenser in den C-Gebieten in von der Administration nicht genehmigten Bauten. Die israelische Administration reagiert mit Abrissen: Seit 2000 wurden mehr als 4.800 palästinensische Häuser und andere Bauten (Schulen, Tierunterstände, Lagerräume, Wasserzisternen, Toiletten, Kinderspielplätze etc.) abgerissen. 11% der Palästinenser in den C-Gebieten mussten seit 2000 ihr Haus mindestens einmal verlassen. Tausende Menschen sind nach wie vor akut bedroht von Vertreibung. Allein zwischen 2009 und Mitte 2011 waren es 1.072, dazu wurden Olivenhaine und Obst- und Gemüsestände zerstört.

Der Mangel an Genehmigungen und Entwicklung sowie die Abrisspolitik führen zu einer erzwungenen Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus den C-Gebieten.

Internationales Recht

Das humanitäre Völkerrecht – so die internationale Gemeinschaft – gilt für die besetzten Palästinensergebiete als Ganzes und für die C-Gebiete im Besonderen, da letztere unter direkter israelischer Verwaltung und Juristiktion stehen. Dem humanitären Völkerrecht nach trägt Israel als Besatzungmacht die Verantwortung für die Sicherstellung der Grundbedürfnisse der unter Besatzung lebenden Bevölkerung. Israel ist dazu verpflichtet die Besatzung so zu administrieren, dass die gesamte lokale Bevölkerung davon profitiert und darf eigene Bevölkerung nicht in diese Gebiete ansiedeln. Gemäß internationalem Recht darf sich eine Militärbesatzung kein Land durch Gewalt oder Drohung aneignen. Vielmehr muss sie Einrichtungen und Dienstleistungen zur Deckung des humanitären und des Grundbedarfs schützen und entsprechende Arbeit begünstigen. Die Besatzungsmacht darf für Hilfsleistungen Bedingungen stellen, doch dies darf nur aus Sicherheitsgründen und in gutem Glauben, sprich weder willkürlich noch als Vergeltung gegen die Bevölkerung oder Hilfspersonal geschehen.

Tsafrir Cohen, Nahostreferent / Middle East Coordinator, medico international

* Alle Informationen auf dieser Seite stammen von der Website von medico international; www.medico.de


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