Herrscht in Palästina wirklich Freude über Terroranschläge?
"Die Wirklichkeit ist anders" - Ein Brief aus Beit Jala
Wilhelm Goller schreibt am 12. September per e-mail aus Beit Jala:
"Kein Verständnis haben wir für Palästinenser, die heute jubelnd auf den
Straßen stehen. - Die Fernsehbilder zeigten uns Kinder, die wir für
unschuldig halten, aber auch Männer die Mitte der Zwanziger Jahre sind
und die wissen was sie tun - die die Mordanschläge bejubelten.
Dieser Satz stammt aus einem Brief, den ich heute morgen aus Deutschland
bekommen habe, und es war bei weitem nicht der einzige. Schon gestern
erschraken meine Frau und ich, als wir im Fernsehen Bilder aus
Ost-Jerusalem sahen, Bilder, die dieselben waren, die in Deutschland
ausgestrahlt wurden. Diese Bilder sind wohl eine Wirklichkeit, eine
zutiefst zu bedauernde Wirklichkeit, aber sie stellen nicht die
Wirklichkeit Palästinas dar. Das will ich im folgenden nicht durch
theoretische Worte, sondern an konkret Erlebtem erläutern:
Trauerhaus Walid
Walid Al Arja, unser Küchenchef, hatte gestern sein Haus als Trauerhaus
wegen des Todes eines nahen Verwandten geöffnet und "ganz" Beit Jala
kam. Wir, die Mitarbeiter von Talitha Kumi waren um drei Uhr Ortszeit
dort, also bevor das schreckliche Geschehen in Amerika sich ereignete.
Walid sagte mir heute früh, daß er noch nie eine solche Trauer erlebt
habe wie gestern, als die Ereignisse in den Staaten bekannt wurden.
"Ganz Beit Jala hat getrauert, nicht um meinen Verwandten, sondern um
die unschuldigen Opfer in Amerika."
Deutschunterricht
Ghasub besuchte ich heute in seinem Deutschunterricht. Er hat Töchter in
Deutschland, die ihn gestern abend ebenfalls auf die Bilder im deutschen
Fernsehen angesprochen haben. Er habe sich deshalb vorgenommen, heute
mit den Schülern darüber offen zu sprechen. Aber er habe keinen Schüler
getroffen, der auch nur im Ansatz eine Freude zum Ausdruck gebracht
habe, Entsetzen, Angst, teilweise auch Sorge, weil doch etliche von
ihnen Verwandte in Amerika haben.
Morgenversammlung
Unter dem Eindruck der Ereignisse in Belfast hatte ich in meiner
Morgenandacht am Montag gesagt:
Morgenandacht (Montag, 10. September 2001)
Ein Bild hat mich letzte Woche erschüttert. Das Fernsehen hat davon
berichtet - vom Schulbeginn in Belfast in Nordirland. Dort führt der
Schulweg von katholischen Mädchen - vier bis acht Jahre alt - durch das
Wohngebiet von Protestanten. Diese ließen die Mädchen nicht in Frieden
passieren, Mädchen, die nichts wollten, als auf dem nächsten Weg zu
ihrer Schule zu gelangen. Nein, es war Polizeischutz notwendig und dann
war es noch schwer, zur Schule zu gelangen.
Unsere Religion ist, aber auch die anderen großen Religionen sind auf
Toleranz, ja auf Nächstenliebe angelegt. Dies ist nicht immer leicht und
nicht immer einfach zu praktizieren. Aber soviel steht fest: Keine
Religion ruft zum Hass oder gar zur Vernichtung des Andersgläubigen auf.
So fordere ich euch heute früh auf: Nutzen wir wenigstens an unserer
Schule die große Chance, nämlich den anderen, den Mitschüler egal
welcher Religion und welchen Glaubens zu respektieren.
Diese Worte - zwei Tage zuvor gesprochen - habe ich heute früh erinnert
und in der Kernaussage erneuert.
Zudem: Um bei diesen gestern so oft gezeigten Bildern von Wolkenkratzern
und anfliegenden Flugzeugen den Blick ins Innere zu lenken, habe ich
unsere Schüler darauf aufmerksam gemacht, dass derzeit drei unserer
diesjährigen Abiturienten auf dem Weg über New York an Universitäten im
Westen unterwegs sind. Damit wurde das Entsetzen noch konkreter, nämlich
mit Namen und Personen ausgefüllt.
Muslimischer Religionslehrer
Mahmoud, der muslimische Religionslehrer, nimmt mich in der großen Pause
zur Seite. Wir tauschen uns über das Geschehen am gestrigen tag aus. Ihm
liegt sichtlich daran, mir zu verdeutlichen, dass dieses Morden
unschuldiger Menschen im Koran absolut verboten ist.
Trauerhaus Ibtisam
Gestern bei Walid, heute bei Ibtisam, unserer Arabischlehrerin, deren
Vater gestern früh überraschend verstorben war, ich hatte sie aus dem
Unterricht zu holen. Im Trauerhaus der Männer gab es nur ein Thema: Amerika! Ich wurde
gefragt, wie die deutsche Politik und die Medien reagieren würden. Unter
anderem habe ich auch auf das Erschrecken auf die im Fernsehen gezeigten
Bilder von Ostjerusalem hingewiesen. Dazu gab es nur eine Reaktion:
Sagen Sie, das ist nicht Palästina. Wir haben soviel gelitten, wir
können mit den Menschen dort mitleiden!
Erklärung von Jedallah Shehadeh, Beit Jala, unserem Schulpfarrer
Vor dem unfassbaren Leid anderer vergessen wir unser Leid. Das
amerikanische Volk leidet und trauert und ich finde kaum Worte, um
unseren Schmerz zum Ausdruck zu bringen. Mit Augustinus will ich
folgendes sagen: "Die Tränen rannen herab und ich ließ sie so
ungehindert fließen, wie sie wollten, und machte aus ihnen ein
Ruhekissen für mein Herz. Auf ihnen ruhte es".
Der Schmerz und die Trauer sind groß. Als Kirche und ich sage das als
der Präsident der Synode unserer Kirche sind wir gegen die Gewalt von
wem das auch immer kommt. Wir beten für die Opfer und die Angehörigen
der Opfer und fühlen uns solidarisch mit allen Leidenden dieser Erde,
und besonders jetzt mit unseren Geschwistern in den USA.
Zwei Anmerkungen
Etwas schwerer möchte ich es mir aber doch noch machen und hoffe, dass
ich verstanden werde:
Wir waren seit gestern Nachmittag hier zusammen mit unseren
palästinensischen Mitarbeitern und Freunden von den Ereignissen
schockiert und entsetzt; wir waren aber auch betroffen, mit welcher
Sorglosigkeit in der Berichterstattung in den internationalen Medien vom
einem palästinensisch-terroristischen Hintergrund gesprochen wurde,
keine Stunde nach Bekanntwerden der Ereignisse in den Staaten, die
beiden Türme standen noch. Das brandmarkt ein ganzes Volk.
Ein letztes will ich auch nicht verschwiegen: Ich habe die Bilder noch
vor Augen, als Bill Clinton mit Frau und Tochter in Bethlehem zum 1.
Advent die Kerzen am Christbaum auf dem Platz der Geburtskirche
anzündete oder die Bilder von einem Flaggenmeer amerikanischer und
palästinensischer Flaggen in Gaza, als Clinton zur Sitzung des
Nationalrats kam, in der die Verfassung geändert wurde und damals alle
Israel - feindlichen Statements gestrichen wurden. Amerika stand hoch
im Ansehen!
Dieses Bild hat sich seit dem letzten Jahr, vor allem in den
allerletzten Wochen nachhaltig geändert, gerade auch hier in Beit Jala.
"Made in USA" - dies ist ein geflügeltes Wort, wenn hier Panzer
einfahren, Hubschrauber stundenlang kreisen und wenn man die stattliche
Sammlung von Munition allen Kalibers sieht, die nach angriffen von
Kindern und Jugendlichen auf den Strassen und in den zerbombten Häusern
gesammelt werden: Made in USA!
Amerika hat in den Augen der Menschen hier seine Glaubwürdigkeit als
ehrlicher Makler und Friedensstifter verloren, Amerika wird nur noch als
blinder Parteinehmer für Israel gesehen. Die zeitliche Koinzidenz der
Besetzung von Beit Jala und der gemeinsame amerikanisch-israelische
Auszug in Durban hat dies massiv verstärkt.
Nachsatz: Als Erzieher sehe ich dann aber gerade bei einem gewissen
Verständnis für eine solche politische Bewertung es für um so wichtiger
an, keine Vermengung zwischen politischer Position und Akzeptanz
terroristischer Agitation zuzulassen. Das - da bin ich mir sicher - ist
Konsens an unserer Schule.
Beit Jala, 12. September 2001
Wilhelm Goller
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