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Nach sieben Monaten Intifada: Eine Bilanz aus palästinensischer Sicht ...

... und eine warnende Stimme aus Israel

Am 14. Mai veröffentlichte der Palästinensische Rat für Gerechtigkeit und Frieden (Palestinian Council for Justice and Peace) eine Bilanz der blutigen Auseinandersetzungen in Palästina seit dem 28. September 2000. Aufgelistet werden dabei nur die Opfer israelischer Gewalttaten. Die Bilanz reicht bis zum 1. Mai. Seither sind noch einmal zwei Dutzend Menschen ums Leben gekommen.

Die Zahlen:
  • Israelisches Militär und Siedler töteten 492 Palästinenser, unter ihnen 172 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sowie 77 Studenten.
  • 23.147 Palästinenser wurden verwundet. Darunter waren 40 Prozent Kinder und Jugendliche sowie Studenten.
  • Unter den Getöteten befanden sich drei palästinensische Ärzte und ein deutscher Arzt. Verletzt wurden 91 Sanitäter und 71 Journalisten.
  • Zu Kriegsversehrten wurden infolge israelischer Angriffe 2.200 Palästinenser. Eine sehr hohe Zahl in nur sieben Monaten, wenn man sie mit den 2.525 Invaliden aus der 1. Intifada vergleicht (1987-1992). Die Gesamtzahl der Invaliden in der palästinensischen Bevölkerung stiegt damit auf 126.000, das sind 12,3 Prozent der Bevölkerung.
  • Die Arbeitslosigkeit stieg (in absoluten Zahlen) auf 297.000 Arbeitslose. Das sind 56 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung. Die palästinensische Wirtschaft erlitt Verluste in Hohe von schätzungsweise 4,4 Milliarden US-Dollar. Das Bruttosozialprodukt sackte in den letzten sieben Monaten auf 50,7 Prozent des vorherigen Niveaus ab. Der landwirtschaftliche Sektor verlor bis Ende März 217,9 Millionen US-Dollar. 30.000 Bauern erlitten hohe Verluste.
  • Israelische Truppen zerstörten 108 angelegte Brunnen (zur Trinkwasserversorgung), 392 Teiche, 3.802 Meter kommunale Wasserleitungen, 41.000 Meter Zäune und Stützmauern sowie 804 Stück Vieh.
  • Israelische Bulldozer und Panzer entwurzelten 280.000 Oliven- und Obstbäume und ebneten 42.000 Morgen (dunums) Land, überwiegend im Gazastreifen, ein. Die Fläche des "planierten" Landes macht etwa 11 Prozent der gesamten Fläche (367 qkm) des Gazastreifens aus. Außerdem konfiszierten die israelischen Behörden 2.617 Morgen Land für die sich ausbreitenden Siedlungen oder für die israelischen Verbindungssstraßen.
  • 1.850 Palästinenser wurden von den israelischen Behörden verhaftet, darunter waren 50 Prozent Kinder und Jugendliche.
  • 41 Schulen wurden zwangsweise geschlossen, 65 Schüler und 15 Lehrer wurden verhaftet.
  • Seit 1994 verfügte das israelische Militär eine strikte Abriegelung besetzter palästinensischer Gebiete an insgesamt 600 Tagen, nicht eingerechnet die Ausgangssperren und Teilabriegelungen seit Beginn der Intifada.
  • Seit dem 28. September 2000 zerstörte die israelische Armee 4.000 Wohnhäuser und andere Gebäude, einschließlich 328 Bauernhöfe und Ställe, 29 Geflügelfarmen, 30 Moscheen und 12 Kirchen. 4.000 palästinensische Familien wurden vertrieben.
  • Die israelischen Besatzungsbehörden zerstückelten die palästinensischen Gebiete in 64 Sektoren der Westbank und 3 Sektoren im Gazastreifen. Dadurch wurden palästinensische Städte und Dörfer voneinander isoliert. Israelische Truppen errichteten 145 neue Straßensperren mit Checkpoints (103 in der Westbank, 42 im Gazastreifen).

Quelle: Palestinian Council for Justice and Peace (PCJP), Ramallah;
Aus dem Engl.: Pst


Der folgende Text wurde auf Deutsch erstmals in der jungen welt (19.05.01) veröffentlicht.

Nahost: Tatsachen schaffen vor Ort

Wie man einen Aufstand zustande bringt.
Von Jeff Halper*


Zuerst weckst du große Erwartungen. Händeschütteln auf dem Rasen vor dem Weißen Haus. Friedensrhetorik: »Nie wieder Krieg. Nie wieder Blutvergießen.« Wahlen, sie kriegen ihre eigene Flagge. Dann Geheimtreffen, Gipfeltreffen, Arbeitsessen, vertrauliche Gespräche, Friedensverträge, Übergangsabkommen, Versprechungen, verlockende Vergünstigungen, hungrigen Augen vorgehalten. Mehr Händeschütteln, mehr »Gesten«.

Dann sorgst du für Rahmenbedingungen, die deine Überlegenheit bei Friedensverhandlungen gewährleisten. Nichts da mit Völkerrecht, Menschenrechtsabkommen, UN- Resolutionen; und damit bestimmt nichts schiefgeht, engagierst du deinen strategischen Verbündeten, die stärkste Macht der Welt, den, der dir all deine Waffen beschafft, als »Vermittler«. Dann, während du in Oslo, Washington, Paris, Kairo, Wye, Amman, Camp David, Sharm el-Sheikh von Frieden redest, schaffst du vor Ort Tatsachen, die dir die weitere Kontrolle sichern und zugleich die Verhandlungen belasten. Du nützt die sieben Jahre seit den Oslo-Abkommen für folgendes:
  1. Zerstückle das Westjordanland in »A-, B- und C-Zonen« und gib der Palästinensischen Autorität die Kontrolle über ganze 18 Prozent des Landes, während du die Kontrolle über 61 Prozent behältst; teile das winzige Gaza in »gelbe, weiße, blaue und grüne Gebiete« auf, gib 6 000 Siedlern 40 Prozent davon und sperre eine Million Palästinenser in den Rest; und trenne Ostjerusalem völlig ab von der übrigen palästinensischen Welt.
  2. Nimm 200 Quadratkilometer Acker- und Weideland seinen palästinensischen Eigentümern, um es für deine eigenen Siedlungen, Schnellstraßen und Infrastruktur zu benutzen.
  3. Fälle 80 000 Oliven- und Obstbäume, die deinen Bauprojekten im Wege stehn, stürze ihre Besitzer dadurch in Armut und mache sie so zu Tagelöhnern auf deinem Arbeitsmarkt - vorausgesetzt, sie können Zugang zu deinem Arbeitsmarkt bekommen.
  4. Füge 30 neue Siedlungen, darunter ganze Städte wie Kiryat Sefer und Tel Zion, den Dutzenden hinzu, die schon in den besetzten Gebieten, über die verhandelt wird, bestehen, und errichte, ausschließlich für die eigene Bevölkerung, 90 000 neue Wohneinheiten in Ostjerusalem und den Siedlungen.
  5. Zerstöre über 1 200 Häuser der Leute, mit denen du über »Frieden« verhandelst.
  6. Verdopple die Zahl deiner Siedler jenseits der Grenze von 1967 auf 400 000, von denen 90 Prozent weiter deiner Souveränität unterstehen werden, wie du schon entschieden hast, ohne mit der andern Seite darüber je zu verhandeln.
  7. Beginne mit dem Bau von 480 Kilometer klotziger Schnellstraßen und »Umgehungs«-Straßen für deine Siedlungen, die das künftige Gebiet des Friedenspartners in kleine isolierte Inseln zerschneiden und so das Entstehen einer lebensfähigen konkurrierenden Volkswirtschaft neben der deinen verhindern.
  8. Verhänge eine permanente »Absperrung«, um zu verhindern, daß jene, denen du ihren Grund und Boden genommen hast, Beschäftigung in deiner Volkswirtschaft finden; denn du hast entdeckt, daß Arbeiter aus Rumänien und Thailand billiger und fügsamer sind. Und wo du schon dabei bist, hindere sie auch daran, Jerusalem zu betreten, den Ort ihrer heiligsten Stätten.
  9. Beute ihre natürlichen Ressourcen aus, indem du zum Beispiel durch einen einseitigen Akt illegalerweise 25 Prozent des Wassers deines Landes den Aquiferen deiner Nachbarn entnimmst, während sie monatelang Durst leiden müssen.
  10. Verwüste ihre Landschaft und ihre Umwelt, indem du ihre fragilen historischen Gefilde unter deinen klotzigen Siedlungen und Schnellstraßen begräbst und sie in eine Deponie für deinen Industrie- und Stadtmüll verwandelst.
  11. Sodann wartest du, bis deine Besatzung unumkehrbar und allumfassend geworden ist, bis du die beiden Volkswirtschaften unter deiner Kontrolle integriert hast, das Stromnetz, das Straßennetz und die städtische Infrastruktur, bis deine Wirtschaft und Gesellschaft die deines Partners völlig geschluckt hat. Und dann verkündest du, dein »Friedens«konzept sei »Trennung«, schließt deine Nachbarn in ein paar kleine Inseln ein und nimmst ihnen alle Hoffnung auf eine bessere Zukunft, auf ein wirklich eigenes Land und eine eigene Identität. Du verschärfst deine Kontrolle, schränkst ihren Lebensraum immer weiter ein, erniedrigst sie und quälst sie - bis der Aufstand schließlich ausbricht.
Dann erzählst du der Welt, wie sehr du dich um Kompromisse bemüht hast, wie »großzügig« du warst, wie sehr du »Frieden« gewollt hast, und wie enttäuscht du bist, daß »sie« dich haben hängenlassen. Wie »sie« deine guten Absichten mit Steinen beantwortet haben, daß »sie« keine Partner für »Frieden« sind, daß »sie« noch nicht bereit sind zum »Frieden«. Und daher greifst du - bis sie ihren »Terror« gegen dich beenden und an denselben Verhandlungstisch zurückkehren, der dir überhaupt erst ermöglichte, dein Kontrollsystem zu entwickeln - zu Gewalt: defensiver Gewalt selbstverständlich, da »sie« ja die »Aggressoren« sind. Die modernsten amerikanischen Waffensysteme, Scharfschützen, Absperrungen bis zum Aushungern, Verwüstung von Abertausenden Morgen Ackerland, Zerstörung Hunderter Häuser... Bis sie's endlich begriffen haben.

* Der Autor lehrt Anthropologie an der Ben-Gurion-Universität in Israel und ist Koordinator des Israelischen Komitees gegen Häuserzerstörungen sowie Redakteur der kritischen israelisch- palästinensischen Zeitschrift News from Within, die vom Alternativen Informationszentrum herausgegeben wird

(Aus dem Englischen übersetzt von Hermann Kopp)

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