Indien-Pakistan: Kollateraler Nutzen
Präsident Musharraf nutzt die Gunst der Anti-Terror-Stunde ...
... und entledigt sich konservativ-islamischer Generale, die ihm zur Macht verhalfen. Jetzt sucht er den Dialog mit Delhi
Von Ursula-Charlotte Dunckern
In der Nacht fiel der erste Schnee in großen Flocken auf die hohen
Gebirgszüge nieder, und eine Kältewelle durchzog die Ebene. In diesem
Tal mit seinen sanft ansteigenden grünen Hängen soll einst das Paradies
gelegen haben. Heute ist es der gefährlichste Ort der Welt: Kaschmir.
Kaschmir ist gefährlicher als Afghanistan, verkündet die amerikanische
Regierung. Das ist der Grund für die Blitzvisite Außenminister Colin
Powells in Islamabad und Delhi: Kaschmir droht - wieder einmal -
Brennpunkt einer Eskalationen zwischen Pakistan und Indien zu werden,
und Powell kommt, um die streitenden Nachbarn zu befrieden, bevor es zu
spät ist. Schließlich stehen sie - einmalig in ihrer jungen Geschichte - als
Bündnispartner der US-geführten Antiterror-Front beide auf der gleichen
Seite. Aber das ist nur theoretisch richtig.
Druck aus Indien
In Wirklichkeit ist die indische Regierung nach wie vor fest davon
überzeugt, selbst der geeignetste Kriegspartner Amerikas zu sein, und
setzt alles daran zu beweisen, dass Pakistan der eigentliche Kriegsgegner
sei. Sie legt Dokumente vor, die belegen, dass Pakistans Geheimdienst in
seinen zahlreichen versteckten Militärcamps Tausende von
islamisch-fundamentalistischen Söldnern aus aller Welt trainiert, ausrüstet
und zum Heiligen Krieg einsetzt, unter anderem in Kaschmir.
Indiens Kooperationsangebote und Beweisführungen wurden von Anfang an
höflich ignoriert und auf Distanz gehalten. Sie passten nicht ins
amerikanische Strategie-Konzept - ein Konzept mit einem
bemerkenswerten Schachzug: Die US-Regierung setzte die in Pakistan so
unter Druck, dass sie sich trotz aller Nähe zu den von ihr hervorgebrachten
und protegierten Gotteskriegern dazu entschloss, der Anti-Taleban-Front
beizutreten. Zwangsweise als amerikanischer Frontposten gegen Kabul
eingesetzt, wurde Pakistan wirkungsvoll neutralisiert - und die USA
gewannen einen idealen Kriegspartner.
Indien jedoch bestand weiterhin auf seiner - durchaus korrekten - Position
und musste sich mehrmals ermahnen lassen, Ruhe zu geben und die
Afghanistan-Operation nicht zu gefährden, die entscheidend von Pakistans
Mitarbeit abhängt. Als am 1. Oktober ein Terrorangriff islamischer
Extremisten auf das Parlament in Srinagar verübt wurde, der 38
Menschenleben kostete, sah sich die indische Regierung schließlich in
eine unhaltbare Position gedrängt, aus der sie sich mit den Mitteln
aggressiver Diplomatie zu befreien suchte. "Unsere Geduld ist am Ende",
schrieb der indische Premierminister Vajpayee an Präsident Bush, und
Lalith Mansingh, indischer Botschafter in Washington, drohte: "Ein Angriff
Indiens auf Pakistan kann nicht mehr ausgeschlossen werden."
Kämpfe in Kaschmir
Um Indien zu besänftigen, erkannte die amerikanische Regierung
schließlich an, dass es sich bei dem Anschlag in Srinagar um einen
Terrorakt handelte, und setzte Jaish-e-Muhammad, die verantwortliche
islamische Extremistengruppe, auf ihre Schwarze Liste. Eine
Untersuchung ergab eine direkte Verbindung des Kopfes der
Jaish-e-Muhammad - des 1999 durch eine Flugzeugentführung aus einem
indischen Gefängnis freigepressten Terroristenführers Masood Azhar - zum
Chef des pakistanischen Geheimdienstes. Dies war der Moment, in dem
die amerikanische Regierung Kaschmir für gefährlicher zu halten begann
als Afghanistan, und Außenminister Powells Reise auf den Subkontinent
ankündigte.
Als der am Dienstagmorgen landet, haben indische Grenztruppen in den
verschneiten Gebirgsketten von Kaschmir bereits einen Angriff auf Pakistan
eröffnet. Während sich der heilige Zorn der Rechtgläubigen unter
tausendstimmigem Gebrüll brandschatzend und Steine schleudernd in den
Straßen von Islamabad entlädt, brennt in einiger Entfernung still und
ungestört das Hauptquartier des pakistanischen Geheimdienstes ab.
Nichts außer verkohlten Grundmauern bleibt übrig, insbesondere kein
einziges Blatt Papier. In brüchige weiße Ascheflocken verwandelt, haben
Geheimnisse sich für immer menschlichem Zugriff entzogen.
Am Sonntag zuvor hatte General Parvez Musharraf seinen zweiten
Staatsstreich durchgeführt. Mit einem Federstrich verfügte er die
Entlassung von vier hochrangigen Generälen. Unter ihnen auch General
Mehmood Ahmed, Generaldirektor des Geheimdienstes und bis zu diesem
Moment zweitmächtigster Mann im Staate, eine schillernde Persönlichkeit,
die viele Fäden in ihrer Hand hielt. Er war der Statthalter der Mudjahedin
und der religiösen Organisationen im Geheimdienst, pflegte beste Kontakte
mit vielen Terroristenführern, darunter auch enge Vertraute Osama bin
Ladens. Er hatte seine Hand in einem Geldtransfer, der wenige Tage vor
dem 11. September an WTC-Attentäter Mohammed Atta ging und deckte
den Anschlag von Srinagar. Als Führer der pakistanischen Delegation in
Kandahar, lieferte er Militärstrategien für den Angriffsfall, anstatt die
Taleban zur Übergabe bin Ladens zu überreden, und schickte
Waffentransporte nach Kabul. Ob Ahmed all dies im Alleingang unternahm
oder am Ende zum Sündenbock für gemeinsame Aktionen gemacht wurde,
die seinerzeit darauf abzielten, sich einen Rückweg zu den
Fundamentalisten offen zu halten, wird man niemals erfahren. Aber es ist
auch nicht sehr wichtig. Wichtig ist, dass hier eine Ära endete, in der ein
Nexus von Geheimdienstgenerälen und islamischen Terroristen Pakistan
beherrschte.
Wende in Pakistan
Die vier entfernten Generäle haben einige Gemeinsamkeiten: Sie sind
zentrale Figuren konservativer islamischer Kreise und haben erhebliche
Vorbehalte gegen Musharrafs politische Wende, und sie waren einst seine
engen Vertrauten und Mitglieder der verschworenen Gruppe von
Putschisten, die Musharraf 1999 an die Macht brachten. Es mag viele
Gründe geben, diese Männer loswerden zu wollen. Entscheidend ist, dass
in jener Sonntagnacht der reaktionäre Kern der Armeeführung entfernt und
gegen ein Team bewährter liberaler und säkularer Musharraf-Loyalisten
ausgetauscht wurde. Mit diesem Streich ist der Weg zur Liberalisierung
des gesamten Militärs geebnet, das in Pakistan einen einflussreichen
Faktor der Gesellschaft darstellt.
General Musharraf hat begonnen, ein säkulares, demokratisches und
modernes Pakistan zu bauen, das seine islamischen Ursprünge mit
Freiheit und Fortschritt zu verbinden sucht wie Kemal Paschas Türkei im
frühen 20. Jahrhundert und Nassers Ägypten nach der Revolution von 1952.
Atatürk ist Musharrafs persönliches Vorbild, hat er oft betont. Doch nach
wenigen Versuchen, sein Land in Richtung Fortschritt zu lenken, musste
er sich recht schnell wieder den einflussreichen Mullahs beugen, die
traditionell die wichtigste Stütze pakistanischer Militärdiktaturen sind. Nun
hat er begonnen, mit Mut und Entschiedenheit den Freiraum zu nutzen,
den die außerordentliche Situation ihm bietet. Jenseits des Rubikons hatte
er keine fundamentalistischen Sympathien mehr zu verlieren oder zu
gewinnen.
Nach vollzogenem Streich gegen die Generäle rief Musharraf noch in der
Nacht Premierminister Vajpayee an und lud ihn zur Weiterführung des vor
wenigen Monaten in Agra erfolglos abgebrochenen Dialogs ein. Während in
den verschneiten Gebirgszügen von Kaschmir geschossen wird, scheint
ein hoffnungsvolles neues Kapitel der indisch-pakistanischen Geschichte
zu beginnen.
Aus: Freitag, Nr. 43, 19. Oktober 2001
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