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Zankapfel Osttimor

Fünf Jahre Unabhängigkeit: Politische Eliten streiten um Regierungskonzepte - Australien und Indonesien verfolgen eigene Interessen

Von Rainer Werning *

Auge, Ohr und Mund« seines Volkes wollte er sein: Der charismatische Politiker Xanana Gusmão wurde von seinen Landsleuten förmlich in den Präsidentenpalast getragen, als Osttimor am Pfingstmontag, dem 20. Mai 2002, unabhängig wurde. Die Flagge des jüngsten Staates wurde in der Hauptstadt Dili gehißt, und es herrschte landesweit überschwengliche Freude. Unter den Ehrengästen befand sich auch der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan. Euphorisch wies er darauf hin, die Welt sei noch nie so vereint gewesen, um einer kleinen Nation als Taufpate beizustehen.

Alles sah rosig aus an jenem Pfingstmontag – ganz so, als ob sich der Heilige Geist persönlich des Schicksals dieses katholischen Landes, des zweiten in Südostasien nach den Philippinen, angenommen hätte. Die neue Staatsführung genoß Vorschußlorbeeren im In- und Ausland. Immerhin hatte der frisch gewählte Außenminister José Ramos-Horta im Jahr 1996 gemeinsam mit dem katholischen Bischof von Dili, Carlos Felipe Ximenes Belo, den Friedensnobelpreis erhalten. Das Komitee würdigte das Engagement der Preisträger für einen friedlichen Übergang Osttimors in die Unabhängigkeit und ihr Bemühen, die Unterdrückung der kleinen Leute aufzuhalten. Und Präsident Gusmão, wie Ramos-Horta ein Gründungs- und einst ein Führungsmitglied der Befreiungsbewegung Fretilin (Revolutionäre Front für ein unabhängiges Osttimor), versicherte seinen Wählern: »Wenn ihr mich wählt, verspreche ich euch, jede Last auf meinen Schultern zu tragen, die ihr mir aufbürdet.« Der ehemalige Jesuitenschüler, der ab 1992 jahrelang prominenter politischer Häftling der Suharto-Diktatur im benachbarten Indonesien war, wurde 2002 vor diesem Hintergrund mit knapp 83 Prozent der Stimmen ins Amt gewählt.

Doch von Sicherheit und Frieden ist der junge Staat auch fünf Jahre nach der Unabhängigkeit noch weit entfernt; eine menschenwürdige Existenz für die rund eine Million Osttimoresen blieb bisher ein Traum. Mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von 370 US-Dollar bildet das Land heute wirtschaftlich das Schlußlicht in Asien. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt in ländlichen Gebieten vorwiegend von dem, was sie anbaut. Da keine nennenswerte Wirtschaft beziehungsweise Industrie existiert, müssen die meisten Güter des täglichen Bedarfs eingeführt werden – zu Preisen, die für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung unerschwinglich sind. Der Human Development Index 2006 führt das Land auf Platz 142 von 177 aufgelisteten Ländern auf. Demnach lebt knapp die Hälfte der Menschen unter der Armutsgrenze von einem Dollar am Tag. Weniger als 50 Prozent der Haushalte haben Zugang zu sauberem Trinkwasser. Und noch weniger Menschen kommen in den Genuß einer angemessenen medizinischen Versorgung. Arbeitslosigkeit grassiert; mehr als die Hälfte der Jugendlichen Osttimors, von dessen Bevölkerung 60 Prozent jünger als 25 Jahre alt sind, steht ohne Jobs und Perspektive da.

Es sind vor allem die Vergangenheit und die geostrategische Lage, die wesentlich für die heutige Misere des Staates verantwortlich sind.

Innen- und außenpolitischer Streit

Schon einmal hatte Osttimor seine Unabhängigkeit ausgerufen, was das Land teuer zu stehen kam. Sie dauerte gerade einmal neun Tage, bis indonesische Truppen am 7. Dezember 1975 die damals noch von Portugal beherrschte Kolonie überrannten. Im Jahr darauf annektierte Jakarta sie völkerrechtswidrig und machte sie zur 27. Provinz Indonesiens. Die Invasion und die anschließende Besetzung führten zu den schlimmsten Massakern an der Zivilbevölkerung seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Zahl ihrer Opfer bis zum Frühjahr 1999 wird von Amnesty International, Human Rights Watch und anderen Menschenrechtsorganisationen auf über 200000 von damals noch rund 800000 Einwohnern geschätzt.

Im Sommer 1999, nachdem knapp 80 Prozent der Bevölkerung von Osttimor am 30. August bei einem auf Initiative der Vereinten Nationen durchgeführten Referendum für die Unabhängigkeit stimmten, entfesselten indonesische Soldaten, unterstützt von lokalen proindonesischen Milizen, ein erneutes Massaker. Das Morden war vom Kommandeur der indonesischen Invasionstruppen in Dili, Oberst Tono Suratman, öffentlich – und bis heute ungestraft – angekündigt worden: »Wenn die Pro-Unabhängigkeitskräfte siegen, wird alles zerstört. Das wird schlimmer als vor 23 Jahren.« Ausgerechnet das indonesische Militär war mit der Überwachung des Ablaufs des Referendums betraut worden, obwohl schon zu jenem Zeitpunkt internationale Beobachter in ­Dili Quartier bezogen hatten. Die schließlich am 25. Oktober 1999 eingerichtete Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen in Osttimor (UNTAET) vergeudete viel Zeit mit zuviel Improvisation. Hohe Summen an Hilfsgeldern wurde für den Unterhalt eines vielfach inkompetenten Stabs von internationalen Mitarbeitern aufgewendet. Osttimoresen wurden kaum oder zu spät in den Aufbau von so wichtigen Einrichtungen wie Grenzschutz, Finanzministerium, Zentralbank, Schul-, Berufs- und Gesundheitswesen sowie einem Rechtssystem und einer funktionsfähigen Verwaltung einbezogen. Gleichzeitig erlebte die Bevölkerung Dilis tagtäglich den Lebensstil ausländischer Experten, der sie gnadenlos mit der eigenen schwierigen Lebenssituation konfrontierte.

Entsprechend harsch ging der hohe UN-Funktionär Lakhdar Brahimi mit der Weltorganisation ins Gericht. Brahimi war über Jahre Sondergesandter für Afghanistan und später UN-Botschafter im Irak und verfaßte im Jahr 2000 den nach ihm benannten Bericht über Erfolge und Mißerfolge von UN-Friedensmissionen. Im Sommer 2006 sagte er in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (6.6.2006.), die UNO hätte im Falle von Osttimor »in zu kurzer Zeit zuviel erreichen wollen. Die Osttimoresen haben uns selbst angefleht, sie länger zu unterstützen. Aber der Sicherheitsrat hatte es wie immer eilig. Sobald CNN keine dramatischen Bilder mehr zeigt, sagen die Mitgliedstaaten: Laßt uns heimgehen.« Sein bitteres Resümee: »Da wurde Geld ohne Sinn und Verstand einfach hinausgeschmissen.«

Bis heute ist die Infrastruktur des Landes mangelhaft (eine Folge der Verwüstungen im Jahre 1999), die Ökonomie rückständig und der Außenhandel einzig auf Indonesien fixiert. Hinzu kamen andere, noch ungelöste Probleme: Amtssprache des unabhängigen Staates wurde ausgerechnet Portugiesisch, die Lokalsprache Tetum sowie Indonesisch und Englisch wurden als Arbeitssprachen beibehalten. Vor allem die jüngere Generation spricht und versteht aber kein Portugiesisch und ist deshalb von vornherein benachteiligt.

Innerhalb der einstigen Befreiungsbewegung Fretilin, die nunmehr zur Regierungspartei wurde und bei den Regionalwahlen 2005 immerhin 80 Prozent der Stimmen erzielte, spitzten sich Auseinandersetzungen zwischen Kräften, die jahrelang im Untergrund im Kampf gegen Indonesien ihr Leben riskiert hatten, und jenen zu, die im mocambiquanischen Exil residierten – wie der bis August 2006 amtierende Premierminister Mari Alkatiri. Doch auch zwischen ihm und seinen einst engen Weggefährten Xanana Gusmão und José Ramos-Horta – die beide bereits 1988 die Fretilin verlassen hatten, um unparteiisch in dem neu entstandenen oppositionellen Dachverband, dem Nationalen Widerstandsrat Osttimors, zu wirken –, kam es zum Zerwürfnis. Alkatiri ist als überzeugter Nationalist gegen Privatisierungen und gegen eine Einmischung von außen – ob seitens der Regierungen Indonesiens und Australiens oder seitens der Weltbank. Gusmão geht seinerseits harsch mit den Exgenossen der Fretilin ins Gericht. »Zutiefst verderbt«, schalt er deren Führungsriege erst kürzlich in einem Interview mit der Londoner Financial Times und prangerte sie als raffgierig und opportunistisch an.

Im April dieses Jahres hat Gusmão auf eine Wiederwahl als Präsident verzichtet. Im kommenden Juni jedoch will er mit seiner neuen Partei, dem »Rat für den Wiederaufbau Osttimors«, die Parlamentswahl gewinnen und neuer Premierminister seines Landes werden. Als ginge es um eine Machtrochade, verzichtete gleichzeitig Ramos-Horta auf seine zuletzt in Personalunion gehaltenen Posten als Premier-, Außen- und Verteidigungsminister, um am 8. Mai in der Stichwahl neuer Präsident zu werden. Tatsächlich beklagt die Masse der Bevölkerung, daß die Unabhängigkeit Korruption maßlos geschürt und letztlich nur der Elite genutzt habe.

Selbst die vergleichsweise kleinen Sicherheitsapparate des Landes, Militär und Polizei, sind in große Fehden untereinander verstrickt, die bislang andauern und ausgerechnet von australischen Militärs geschlichtet werden sollen. Ende April 2006 meuterten weite Teile der osttimoresischen Armee. Es ging um mehr Sold, Beförderungspraktiken und die Rücknahme von Entlassungen. Der damals noch amtierende Premier Alkatiri bezeichnete die Unruhen als Staatsstreichsversuch, während sich einen Monat später Präsident Gusmão und Außenminister Ramos-Horta mit der Bitte an die Regierung John Howards in Canberra wandten, australische Truppen nach Dili zu entsenden. Alkatiri ging, ein 2000köpfiges Militärkontingent aus Australien kam. Seitdem hat Canberra ein gewichtiges Wort in Osttimors Politik mitzureden. Der seit einem Jahr wegen Rebellion gegen die demokratisch gewälte Regierung gesuchte (und in Australien militärisch ausgebildete) Major Alfredo Reinado ist noch immer auf freiem Fuß. Der stets gut informierte australische Journalist und Dokumentarfilmer John Pilger vom britischen Guardian schrieb in einem Kommentar vom 23.6.2006: »In einem durchgesickerten Dokument der australischen Streitkräfte (Defence Force) steht, Australiens ›vorrangiges Ziel‹ in Osttimor sei es, sich ›Zugang zu verschaffen‹, damit das australische Militär Einfluß auf die osttimoresischen Entscheidungsprozesse nehmen kann. (…) Don Watson, Redenschreiber des berüchtigtsten aller Suharto-Rechtfertiger, (Australiens) Ex-Premierminister Paul Keating, schreibt: ›Es mag besser sein, unter einer möderischen Besatzung zu leben, als in einem failed state Einfach unglaublich.‹«

In einer solch prekären Sicherheitslage verwundert es nicht, daß in Dili dringend erwünschte und benötigte (Privat-)Investitionen aus dem Ausland ausbleiben. Ein wirtschaftlicher Aufschwung stellte sich auch deshalb nicht ein, weil mit dem großen südlichen Nachbarn Australien noch keine für beide Seiten befriedigende Lösung über strittige Fragen zum Grenzverlauf in der Timorsee gefunden wurde. Canberra erhebt Anspruch auf die reichen Erdölvorkommen vor den Küsten Osttimors. Deren Einkünfte hatte Dili jedoch auf Drängen des Wirtschaftsfachmanns und Expremiers Mari Alkatiri in seine Wirtschaftsplanung einbezogen. Australien möchte den Grenzverlauf entlang des australischen Kontinentalsockels festlegen, der bis auf achtzig Kilometer an die Südküste Osttimors heranreicht. Osttimor beharrt dagegen auf einem Grenzverlauf in der Mitte zwischen beiden Ländern.

Vergessen als politisches Programm

Wenngleich Osttimors Staatsführung in Gusmão und Ramos-Horta über integre Persönlichkeiten verfügt, die lange im Untergrund für die Freiheit gekämpft hatten, lehnte ausgerechnet dieses Tandem vehement eine Strafverfolgung von Tätern in den Jahren der indonesischen Besetzung von 1975 bis 1999 strikt ab und betrieb statt dessen in vorauseilendem Gehorsam die unbedingte »Normalität der nachbarschaftlichen Beziehungen zu Jakarta«. Wiederholt rechtfertigte Gusmão diese Position mit den Worten: »Wir sprechen von Gerechtigkeit als Gerechtigkeit und nicht als Rache. Stellen wir aber Gerechtigkeit vor Versöhnung, wird Indonesien dies als Rache betrachten.« Ende November 2005 sprach sich der Präsident in einer Rede an das Parlament gar gegen die Empfehlungen der Wahrheitskommission seines Landes aus und lehnte die Veröffentlichung des von ihr erstellten, 2500 Seiten starken Berichts ab. Gleichzeitig wandte sich der Präsident gegen die Empfehlung zur Wiedergutmachung für die zahlreichen Opfer seines Landes durch westliche Regierungen, die Indonesien mit Waffen beliefert und die Besatzung Osttimors gebilligt hatten. Der wohl geschmackloseste Kotau aber war, daß sich Gusmão ausgerechnet im indonesischen Wahljahr 2004 mit dem damaligen Präsidentschaftsaspiranten General Wiranto traf. Der war einst Oberkommandierender der indonesischen Streitkräfte und Verteidigungsminister seines Landes und gilt auch als Hauptverantwortlicher der Massaker von 1999.

Wer eine Kultur von Vergessen und Straffreiheit predigt, darf sich nicht wundern, wenn das Gefühl für Recht, Sicherheit und persönliche Unversehrtheit in einer Kultur von Rechtlosigkeit und Rache versinkt.

General Hadji Mohamed Suharto, der Drahtzieher aller Verbrechen und über drei Jahrzehnte hinweg ausgesprochener Liebling des Westens, genießt heute das Privileg der sattsam bekannten »Despoten-Krankheit«. Seit seinem Abgang von der politischen Bühne im Mai 1998 attestierten Ärzte ihm, er sei nicht vernehmungsfähig. Mitte Mai 2006 wurde das Verfahren gegen Suharto endgültig eingestellt. »Er ist kein Angeklagter mehr, sondern ein freier Mann«, verkündete der indonesische Generalstaatsanwalt Abdul Rahman und hob auch das Ausreiseverbot für den ehemaligen Diktator auf. Suharto wurde nie wegen Menschenrechtsvergehen, sondern nur der Korruption angeklagt. Zwar hat die Regierung des seit 2004 amtierenden Präsidenten Susilo Bambang Yudhoyono, auch er ein Exgeneral, die Bekämpfung von Korruption groß auf ihre Fahnen geschrieben. Doch dessen langjährigem Mentor und Kollegen Suharto sieht man es offensichtlich nach, das Volk nach Berechnungen von Transparency International um mindestens 15 Milliarden US-Dollar bestohlen und damit seinen Klan und eine ihm treu ergebene Klientel großzügig ausgehalten zu haben.

Indonesien blieb auch erspart, was beispielsweise im Falle von Ruanda und dem früheren Jugoslawien eingefordert wurde: nämlich die Geschichte von Greuel und Gewalt einer internationalen Strafgerichtsbarkeit zu überantworten und zu verurteilen. Es wurde Jakarta überlassen, seine eigene »Vergangenheitsbewältigung« zu betreiben und seine Generalität systematisch weißzuwaschen. Mit dem Resultat, daß sämtliche Hauptschuldigen der Osttimor-Massaker in Jakarta freigesprochen wurden oder eine Haftstrafe nie antreten mußten. In Osttimor hingegen ließen die Gerichte siebzig Angeklagte hinter Gitter sperren – ausnahmslos eigene Staatsbürger.

* Aus: junge Welt, 16. Mai 2007


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