Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Die UNO reagiert häufig zu spät"

Osttimors Außenminister José Ramos-Horta verlangt eine Frühwarnkommission der Weltorganisation zur Konfliktverhütung - Interview

Außenminister José Ramos-Horta wurde am 26. Dezember 1949 in Osttimors Hauptstadt Dili geboren. Nach der Unabhängigkeit von Portugal gehörte er bis zur indonesischen Invasion 1975 der provisorischen Regierung Osttimors als Außenminister an. Während der indonesischen Okkupation lebte er in Lissabon und Sydney. Er veröffentlichte mehrere Bücher und unterrichtete u.a. in Den Haag und Straßburg. Gemeinsam mit dem katholischen Bischof Carlos Filipe Ximenes Belo erhielt er 1996 den Friedensnobelpreis. Im Dezember 1999 kehrte er nach 24-jährigem Exil nach Osttimor zurück. Mit Ramos-Horta sprach Carsten Hübner.

ND: Vor fünf Jahren beendete die Intervention einer multinationalen UNO-Truppe die indonesische Besetzung Osttimors. Was sind Ihre Erinnerungen an diese Zeit?

Ramos-Horta: Ich erinnere mich, wie ich am 1. Dezember 1999, 24 Jahre nachdem ich Osttimor verlassen musste, in mein Land zurückgekommen bin. Ich erinnere mich an Tausende Menschen, die mich am Flughafen empfangen haben. Dann erinnere ich mich, wie wir in den Tagen danach durch die ländlichen Gebiete gefahren sind - an die vielen Menschen, die mich sehen und mit mir sprechen wollten. Für mich war das einer der glücklichsten Momente meines Lebens. Mein Traum war Realität geworden, ich war zu Hause. Wer hätte das ein paar Jahre vorher für möglich gehalten?

Aber Sie kehrten in ein völlig zerstörtes Land zurück.

Das hat meine Rückkehr natürlich überschattet. Dili, unsere Hauptstadt, war völlig zerstört. Ich habe kein intaktes Gebäude gesehen. Unzählige Menschen waren vertrieben. Wir hatten 1999 etwa 800000 Einwohner - und davon waren 300000 ins indonesische Westtimor vertrieben worden. Tausende wurden außerdem nach Indonesien deportiert. Zum Beispiel meine Schwester und ihre Kinder, die mit einem Kriegsschiff nach Surabaya gebracht und dort festgehalten wurden. Tausende Menschen haben ihr Zuhause und ihre Lebensgrundlagen verloren. Es war grauenhaft.

Glauben Sie, die Invasion kam zu spät?

Ich würde nicht sagen zu spät. Aber wenn sie nur eine Woche früher gekommen wäre, hätte wohl die Hälfte der Zerstörungen verhindert werden können. Realistisch gesehen ging es wohl nicht schneller. Die Gewalt brach am 3. September aus. Der UN-Sicherheitsrat trat in den folgenden Tagen in New York zusammen. Australische Truppen standen bereit. Doch der Sicherheitsrat brauchte eine Weile, weil mit Indonesien verhandelt werden musste, um Zusammenstöße zwischen der Friedenstruppe und dem indonesischen Militär zu verhindern. Das wäre ein Desaster für beide Seiten geworden.

Hätte man nicht schon im Rahmen der Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Osttimors eine bewaffnete internationale Polizeitruppe schicken sollen?

Während der Volksabstimmung war ja eine UNO-Polizeitruppe in Osttimor. Aber sie war nicht bewaffnet. Die in New York geschlossene Vereinbarung zwischen Indonesien, Portugal und der UNO sah ja vor, dass Indonesien die Verantwortung für die Sicherheit behielt. Darauf hat Indonesien bestanden. Also war es für die UNO auch nicht möglich, eine bewaffnete Polizeitruppe zu stationieren.

Die Sicherheit lag in den Händen des indonesischen Militärs. Das wiederum hatte enge Verbindungen zu den pro-indonesischen Milizen…

Das war das Problem. Schon Monate vor dem Ausbruch der Gewalt wurden die Milizen von der indonesischen Armee, der Polizei und besonders von den Spezialeinheiten bewaffnet, trainiert und finanziert. Die indonesische Armee hat die Gewalt provoziert und angestachelt. Dafür benutzte sie kriminelle Banden - viele aus dem indonesischen Westtimor. Ich würde sagen, 80 Prozent der Milizionäre waren keine Osttimoresen. Sie waren aus dem anderen Teil der Insel oder Sicherheitskräfte in Zivil…

…mit dem Auftrag, zu provozieren und zu destabilisieren?

Die gewalttätigen Aktionen vor der Volksabstimmung wurden in der Hoffnung begonnen, die UNO würde die Abstimmung absagen. Oder, wenn sie doch stattfindet, dass die Leute dann so eingeschüchtert sind, dass sie nicht teilnehmen oder für ein Verbleiben bei Indonesien stimmen. Das hat nicht funktioniert. Deshalb haben sie die letzte Stufe ihres Plans umgesetzt. Diese Stufe hieß Rache, die Zerstörung der Insel. Das war von langer Hand geplant. Im März und April gab es Treffen zwischen hochrangigen Militärs und den Milizen. Dort wurde verabredet, die Insel zu zerstören, wenn die Abstimmung nicht in ihrem Sinne ausgeht. Das war alles gut vorbereitet - und wurde noch besser umgesetzt. Und ohne professionelles Militär wäre das nicht möglich gewesen.

Welche Möglichkeiten der Vorbeugung sehen Sie, um Ereignisse wie auf Osttimor zukünftig zu verhindern?

Wir müssen realistisch sein: Es gibt keine Möglichkeit, Konflikte völlig auszuschließen. Aber es könnte viel mehr gemacht werden, um die Spannungen in vielen Regionen zu reduzieren. Ich schlage deshalb vor, dass die UNO eine effektive, gut finanzierte Frühwarnkommission einrichtet, die eng mit dem UNO-Generalsekretär und dem Sicherheitsrat zusammenarbeitet. Eine Kommission aus Historikern, Journalisten und Wissenschaftlern mit fundierten Kenntnissen und weit reichenden Erfahrungen. Sie soll zum einen den Generalsekretär und den Sicherheitsrat über die besonderen Bedingungen in einzelnen Ländern und Regionen unterrichten. Zum anderen könnte sie als Vermittler der UNO in die Problemregionen reisen, um im Dialog mit den Konfliktparteien Wege zu finden, wie eine weitere Verschärfung der Situation verhindert werden kann. Ich sage "Dialog" und "beraten". Weil der allererste Schritt die Beratung und die Verständigung mit den Leuten vor Ort ist, um sie von einer anderen Vorgehensweise zu überzeugen. Die UNO reagiert häufig zu spät. Es muss präventive Schritte geben. Erst danach kann dann vielleicht der Sicherheitsrat den Druck erhöhen, um die friedliche Konfliktlösung zu erzwingen. Aber nicht nur die UNO, auch die EU könnte so eine Frühwarnkommission einsetzen.

Könnten die Friedensnobelpreisträger dazu einen Impuls geben?

Ich selbst habe versucht, eine Gruppe von Nobelpreisträgern zusammenzubringen. Aber jeder Nobelpreisträger hat seine eigenen Prioritäten und Interessen. Beispiel: In einer Fernsehdiskussion in Oslo vor zwei oder drei Jahren ging es um den Nahostkonflikt. Wir waren vier Preisträger. Desmond Tutu aus Südafrika, Elie Wiesel aus New York, John Hume aus Irland und ich. Die drei hatten völlig gegensätzliche Positionen. Wiesel war hundertprozentig für Israel, Tutu sehr stark für die Palästinenser und Hume bezog ebenfalls die Position der Palästinenser. Irgendwann habe ich in der Debatte gefragt, ob sie einen Vermittler brauchen. Nicht um zwischen Israelis und Palästinensern zu vermitteln, sondern zwischen den drei Friedensnobelpreisträgern! Ich habe mir gedacht: Wenn wir in den Nahen Osten gingen, um zu helfen - würden wir am Ende nicht ein noch größeres Durcheinander hervorrufen?

Ein Komitee der Friedensnobelpreisträger wird es demnach nicht geben?

Nein. Jeder von uns hat seine eigene Sicht auf die Dinge - nicht immer, aber häufig. Trotzdem: Auf Einladung des Bürgermeisters und unter Leitung von Michail Gorbatschow treffen wir uns seit fünf Jahren regelmäßig in Rom. In diesem Jahr werde ich dort eine Erklärung für einen Schuldenerlass für die ärmsten Länder vorlegen. Ich denke, das ist ein konkreter Punkt, wo wir uns einigen und unseren Einfluss geltend machen können. Ähnlich ist es bei der Frage von Waffenexporten in Entwicklungsländer, wo wir einen verbindlichen Verhaltenskodex fordern. Die strittige Frage ist immer: Wie kann etwas erreicht werden? Wie ist der Weg dahin, was sind die besten Ansätze, um Frieden zu erreichen?

Aus: Neues Deutschland, 8. November 2004)


Zurück zur Osttimor-Seite

Zur UNO-Seite

Zurück zur Homepage