Alarmbereitschaft in Osttimor
UN-Bericht: Ehemalige Minister für Frühjahrsunruhen mitverantwortlich
Von Carsten Hübner *
Osttimor, der Welt jüngster unabhängiger Staat, wurde im April und Mai von schweren Unruhen
erschüttert. Eine dreiköpfige Kommission der Vereinten Nationen veröffentlichte jetzt einen
Untersuchungsbericht, in dem sie ehemalige Regierungsmitglieder für den Gewaltausbruch
mitverantwortlich macht.
In Osttimors Hauptstadt Dili legte die UN-Kommission am Dienstag den 79-seitigen Bericht zum
Abschluss ihrer Untersuchungen vor. Im Zentrum der Kritik stehen die ehemaligen Minister Roque
Rodrigues (Verteidigung) und Rogerio Lobato (Inneres). Sie sollen direkt an der Verteilung von
Waffen an Zivilisten beteiligt gewesen sein oder davon gewusst haben. Lobato steht bereits seit
Monaten unter Hausarrest.
In dem Bericht heißt es, gegen den ehemaligen Premierminister Mari Alkatiri müsse weiter ermittelt
werden. Seine Rolle bei der Bewaffnung von Zivilisten sei bisher nicht hinreichend geklärt. Beweise
für eine direkte Verstrickung gebe es zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings nicht. Alkatiri, der
Anfang Juli als Regierungschef zurücktrat, ist weiterhin Generalsekretär der Regierungspartei
Fretilin. Als deren Spitzenkandidat will er im Mai 2007 zu den Parlamentswahlen antreten.
Der UN-Bericht war in Osttimor mit Spannung erwartet worden, weil neben den politisch
Verantwortlichen für die Frühjahrsunruhen auch eine große Zahl von Polizisten, Militärs und
Zivilisten namentlich genannt werden, die zur Zuspitzung beigetragen und schwere Verbrechen
begangen haben sollen. Gegen den überwiegenden Teil der Beschuldigten sind bisher keinerlei
Ermittlungen anhängig. Beobachter fürchten deshalb sowohl Akte der Rache und Selbstjustiz als
auch neuerliche politische Unruhen. Das rund 2500 Mann starke internationale Polizei- und
Militärkontingent in Osttimor befindet sich deshalb seit Tagen in erhöhter Alarmbereitschaft.
Besonders schwere Vorwürfe erhob die Untersuchungskommission gegen Alfredo Reinado, einen
ehemaligen Major der Militärpolizei. Er gehörte zu den Anführern einer Meuterei von 594 Soldaten
der osttimorischen Armee, deren Proteste Ende April in offene Gewalt umschlugen. Aufgrund einer
Schießerei in einem Außenbezirk der Hauptstadt Mitte Mai werden ihm von der Kommission
»Verbrechen gegen Leib und Leben« zur Last gelegt. Reinado soll mit elf seiner Anhänger eine
Gruppe von Soldaten im Vorort Fatu Ahi in einen Hinterhalt gelockt und angegriffen haben. Bei dem
folgenden Gefecht starben insgesamt fünf Menschen, darunter auch ein Zivilist. Zehn Personen
wurden verletzt. Reinado, der zwischenzeitlich festgenommen worden war, gelang im August die
Flucht aus dem Gefängnis. Seitdem hält er sich versteckt. Er gilt als entschiedener Gegner von
Alkatiri und der Fretilin.
Entkräftet wurden Vorwürfe gegen Staatspräsident Xanana Gusmao, er habe während der Unruhen
zu enge Kontakte zu Reinado gehabt. Gusmao hatte sich mehrfach mit dem Rebellenführer zu
Verhandlungen getroffen. Hinweise dafür, dass er Reinado zum Aufruhr angestiftet habe, um den
unliebsamen Alkatiri aus dem Amt zu drängen, gibt es laut UN-Untersuchung jedoch nicht.
Allerdings wirft sie Osttimors Staatschef vor, er habe während des Machtkampfes mit Alkatiri
mehrfach seine Kompetenzen überschritten und den Respekt vor verfassungsmäßigen Institutionen
vermissen lassen, was zur Verschärfung der Situation beigetragen habe.
Bei den Ausschreitungen im April und Mai waren über 30 Menschen getötet und ungezählte verletzt
worden. Etwa 150 000 Menschen flüchteten aus ihren Häusern und Wohnvierteln, noch heute leben
rund 50 000 in Lagern.
* Aus: Neues Deutschland, 19. Oktober 2006
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