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"Norwegens Linkspartei war für das Libyen-Mandat"

Integrationsminister Audun Lysbakken über Kompromisse, die seine Partei in Regierungsverantwortung eingeht *


Der 33-jährige Audun Lysbakken ist seit 2006 Vizechef der norwegischen Sozialistischen Linkspartei (Sosialistisk Venstreparti – SV). Seit Oktober 2009 ist er zudem Minister für Kinder, Gleichstellung und soziale Integration. Über den Einfluss der an der norwegischen Dreierkoalition beteiligten SV auf die Politik des Landes sprach mit ihm für das "Neue Deutschland" (ND) Aert van Riel.

ND: Seit 2005 ist die norwegische Linkspartei (SV) Mitglied einer Dreierkoalition mit Sozialdemokraten und Zentrumspartei. Wie stehen die Parteimitglieder der SV inzwischen zu dieser Koalition?

Lysbakken: Ich denke, dass die Parteimitglieder in den letzten sechs Jahren gespürt haben, dass wir auch als Teil der Regierung unsere Identität als radikale sozialistische Partei bewahren konnten. Zudem haben wir die politische Richtung unseres Landes in unserem Sinne positiv beeinflusst. Zuvor war eine rechts-konservative Regierung im Amt, die Steuersenkungen für Reiche, Kürzungen der Sozialausgaben und Privatisierungen vorangetrieben hatte. Seit dem Regierungswechsel gibt es dagegen einen erheblichen Einfluss des linken Flügels und der Gewerkschaftsbewegung. Das bedeutet zwar nicht, dass alles gut ist. Aber die Kompromisse, die wir in der Koalition schließen, sind besser als alle anderen Optionen, die es derzeit gibt.

Inwieweit hat sich Ihre Partei durch die Regierungsbeteiligung seit 2005 verändert?

Man muss zwischen Regierungs- und Parteipolitik unterscheiden. Wir haben auf unserem Parteikongress im März ein neues Grundsatzprogramm verabschiedet. Ich denke, dass niemand behaupten kann, dass es weniger radikal ist als das vorangehende Programm. Die Kompromisse, die wir im politischen Alltag schließen müssen, dürfen nicht die wichtigen Positionen der Partei beeinflussen.

Norwegen ist Teil der NATO-Koalition im Libyen-Krieg und unterstützt den Krieg des Bündnisses in Afghanistan. Keine Gründe für Konflikte innerhalb der Regierung?

Unsere Partei war von Beginn an gegen den Krieg in Afghanistan. Und wir fordern weiterhin den Abzug der norwegischen Truppen. Aber im Parlament sind wir die einzige Partei, die diese Auffassung vertritt. Deshalb kann sie nicht umgesetzt werden. Wir haben aber die norwegische Afghanistan-Politik beeinflusst. Zum Beispiel durch den norwegischen Rückzug von »Enduring Freedom«, der aktiven Kriegführung unter der Leitung der USA. Zudem haben norwegische Soldaten die Kriegsgebiete im Süden des Landes verlassen.

Die Situation in Libyen bewerte ich anders. Auch wenn es schwierig und kontrovers für die Linke ist, sich für eine Intervention auszusprechen, und es viele Dinge in Libyen gibt, die kritisiert werden müssen, sind wir für eine starke UN. Unsere Partei hat die Resolution der Vereinten Nationen und die Teilnahme Norwegens an deren Umsetzung unterstützt. Aber wir sind gegen eine militärische Operation, die zu entscheiden versucht, wer das Land künftig regiert. Das ist die Aufgabe des libyschen Volkes. Die Intervention sollte nur dazu dienen, Zivilisten zu schützen.

Vor einigen Jahren haben Sie über sich selbst gesagt, Sie wären ein Marxist. Welche Haltung nehmen Sie heute zum Marxismus ein?

In der linken Jugendbewegung hatten wir ein marxistisches Programm. Auch heute will ich verstehen, wie der Kapitalismus funktioniert, und in diesem Zusammenhang bin ich von Marx beeinflusst. Aber es gibt auch andere Teile dieses Erbes, gegenüber denen wir kritisch sein müssen. In der Vergangenheit haben wir Menschen verprellt, weil wir zu viele Ismen übernommen hatten, mit denen sich Leute identifizieren mussten. Laut Grundsatzprogramm sind wir eine sozialistische und feministische Partei, die sich für eine nachhaltige Umweltpolitik einsetzt. Ein wichtiger Aspekt des Sozialismus ist für mich, wie mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung erreicht werden kann. Ich würde mich heute nur als Sozialist beschreiben, obwohl ich der Meinung bin, dass Teile des Marxschen Denkens noch immer wichtig für die Linke sind.

Sie sind als Minister auch für Gleichstellung zuständig. Welche Effekte hat das norwegische Gesetz, wonach 40 Prozent der Aufsichtsratsmitglieder in großen Unternehmen Frauen sein müssen?

Wir hatten in Norwegen vor zehn Jahren die gleiche Debatte, wie sie heute in Deutschland geführt wird. In den Unternehmen werden Männer von Männern rekrutiert. Sie sehen nicht die Talente von Menschen, die anders als sie selbst sind. Meistens sind Führungskräfte weiß, männlich und über 45 Jahre alt. Das ist schlecht für die Geschäftswelt und für die Gesellschaft, weil Talente nicht gefördert werden. Eine freiwillige Vereinbarung blieb wirkungslos. 2003 wurde ein striktes Gesetz verabschiedet. Die 40-Prozent-Quote wurde übrigens von der konservativen Regierung vorangetrieben und es gab darüber einen breiten Konsens in der Politik. Alle Unternehmen konnten die Quote umsetzen.

Gleichberechtigung ist auch für Migranten wichtig. Norwegen wirbt um Fachkräfte, aber auch Flüchtlinge kommen in Ihr Land. Was wird für deren Integration in die Gesellschaft getan?

In den vergangenen Jahren kamen viele Flüchtlinge aus Ländern wie Afghanistan und Somalia. Sie wurden aufgenommen, weil sie aus Kriegsgebieten kamen und Schutz brauchten. In ihren Heimatländern sind die Bildungssysteme zerstört. Deswegen sind viele von ihnen nicht für den Arbeitsmarkt qualifiziert. In ihren ersten Monaten in Norwegen nehmen sie deswegen an einem »Einführungsprogramm« teil. Dabei lernen sie die Sprache, erhalten ein Grundeinkommen und können sich praktisch auf einen Job vorbereiten. Trotzdem sind Flüchtlinge unter den Armen auch in Norwegen noch immer überrepräsentiert.

Welche weiteren Gruppen gelten als armutsgefährdet und welche Perspektiven gibt es für sie?

Ein großes Problem ist, dass zu viele Jugendliche ihre Ausbildung nicht abschließen und dann meist keinen Job finden. Unser Schulsystem hat sich vor allem am theoretischen Lernen aus Büchern ausgerichtet. Regierung und Linkspartei wollen nun durch Änderungen im Bildungssystem die Situation derer erleichtern, die besser durch praktische Tätigkeiten lernen können.

* Aus: Neues Deutschland, 26. April 2011


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