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Der Präsident ist müde

Nicaragua: Soziale Bewegungen üben scharfe Kritik an Daniel Ortega

Von Anna Schulte, Managua *

»Sandinisten« und »Danielisten« - die heutige nicaraguanische Regierung von Daniel Ortega ist nicht mit jener der 80er Jahre zu vergleichen. Viele Nicaraguaner haben das Vertrauen in die Politik verloren.

Hoch in den Bergen im Norden Nicaraguas, inmitten von Kaffeepflanzungen. Unter dem Vordach eines alten Schuppens stehen im fahlen Licht einer Glühbirne fünf wacklige Stühle mit Schreibstützen. Fünf Jungen sitzen dort, der jüngste ist 13, der älteste 19 Jahre alt. Ihre schwieligen Hände zeichnen mühsam Buchstaben in ihre Kladden. Die jungen Männer wirken müde, seit fünf Uhr in der Früh waren sie bei der Ernte, bis gerade eben, kurz vor Unterrichtsbeginn.

»Ich lerne lesen und schreiben, damit ich hoffentlich bald einen guten Job finde«, erzählt Juan. Noch ist er Analphabet -- wie über ein Drittel der nicaraguanischen Bevölkerung. Aber im ganzen Land finden sich abends nun wieder Gruppen von Jugendlichen und Erwachsenen zusammen. Sie werden nach dem kubanischen Programm »Yo sí puedo« unterrichtet, mit dem sie innerhalb von zehn Wochen das Lesen und Schreiben lernen können. Nach seinem Amtsantritt im Januar 2007 erklärte Präsident Daniel Ortega die Alphabetisierung zu einem Herzstück seiner Regierungspolitik. Lautstark verkündete er, bis 2009 werde es in ganz Nicaragua keinen Analphabetismus mehr geben.

Versprechen bislang nicht eingelöst

Bisher liegen die Zahlen weit hinter den hohen Zielen zurück. Seit 15 Monaten regiert die Sandinistische Befreiungsfront (FSLN) wieder in Nicaragua -- erstmals seit ihrer Abwahl 1990. Und nicht nur mit der Alphabetisierung scheint Ortega an alte Zeiten anknüpfen zu wollen. Seit er an der Macht ist, sind die Schulgebühren abgeschafft worden, die Gesundheitsversorgung ist wieder kostenlos und auch die Buspreise wurden gesenkt. Ein »Null-Hunger-Programm« sieht vor, arme Familien auf dem Lande mit ein paar Tieren, Saatgut und Pflanzen auszustatten. Als Repräsentant der »Regierung für nationale Einheit und Versöhnung« zeigt sich Ortega volksnah. Einmal in der Woche veranstaltet er einen öffentlichen Akt -- das Motto: »El Pueblo Presidente« (»Das Volk ist Präsident«). Immer an seiner Seite ist Ehefrau Rosario Murillo, die laut Ortegas eigenen Angaben 50 Prozent der Macht innehat. Obwohl sie von niemandem gewählt wurde, übt sie zentrale Aufgaben in der Regierung aus, beispielsweise die Leitung der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.

Bei den öffentlichen Auftritten der Regierungsvertreter werden große Reden gehalten, publikumswirksam werden Landtitel vergeben und Grundnahrungsmittel zu niedrigeren Preisen verkauft. Denn auch in Nicaragua steigen die Preise für Grundnahrungsmittel seit Monaten. Im März lag die jährliche Inflationsrate bei 18,91 Prozent. »Alles wird immer teurer, nur unsere Löhne haben sich seit Jahren nicht erhöht.« Dies und Ähnliches hört man überall im Land. »Die versprechen alle so viel, aber hier kommt nichts an. Ich kenne niemanden, der je etwas vom Null-Hunger-Programm gesehen hat«, erzählt ein Arbeiter im Nordosten Nicaraguas. Und wie er denken viele.

Nach 16 Jahren neoliberaler Politik schafft es die sandinistische Regierung Ortega nicht, eine glaubhafte Alternative aufzuzeigen und noch weniger, eine solche umzusetzen. Laut der jüngsten Umfrage des Cid-Gallup-Instituts haben 78 Prozent der Bevölkerung Nicaraguas jegliches Vertrauen in die Politik verloren, egal ob neoliberal oder sandinistisch. 69 Prozent der Befragten glauben nicht, dass Nicaragua auf einem guten Weg ist. Selbst innerhalb der FSLN-Wählerschaft gaben 45 Prozent an, nicht mit der Politik Daniel Ortegas einverstanden zu ein. Die Menschen sind müde. Müde der Versprechungen, müde der allgegenwärtigen Korruption und Vetternwirtschaft. Und eigentlich wirkt auch »Comandante Daniel« müde. Träge und angeschlagen steht er oft neben seiner Ehefrau, die ihm auch schon mal Stichworte zuflüstert. Er leidet an einer Blutkrankheit, so zumindest wird gemunkelt.

Nähe zur einst verhassten Kirche

Wie überhaupt viel gemunkelt wird, über jeden und alles. Das Erscheinungsbild des Präsidenten bestärkt die Gerüchte, aber es bleiben eben Gerüchte. Offen kommuniziert die Regierung Ortega-Murillo nichts, was Schwäche signalisiert. Überall im Lande prangen riesige Plakate: Daniel Ortega auf pinkfarbenem Hintergrund, darunter stehen Sprüche wie »Nicaragua gewinnt mit dir«. Oder: »Das Volk ist Präsident«. Nur ist das Volk auf den Bildern nie zu sehen, sondern immer nur er, Daniel Ortega. Wenn Entscheidungen des Präsidenten als »Gottes Wille« deklariert werden, verdeutlicht das so manches. Die Nähe zur einst verhassten konservativen katholischen Kirche des Landes ist eines der eindeutigsten Zeichen dafür, dass die FSLN-Regierung nicht mehr viel mit jener von damals gemein hat.

Viele ehemalige Weggefährten Daniel Ortegas sind längst nicht mehr in der FSLN und heben den Unterschied zwischen »Sandinisten« und »Danielisten« immer wieder hervor. Denn mit den sandinistischen Idealen hat die Regierungspolitik von heute ihrer Meinung nach nichts mehr zu tun. Um sich Macht und Einfluss zu sichern, paktierte Daniel Ortega bereits Ende der 90er Jahre mit dem wegen Korruption verurteilen liberalen Expräsidenten Arnoldo Alemán. Dieser Pakt hat Daniel Ortega 2006 die Wiederwahl ermöglicht und zugleich den beiden Caudillos entscheidenden Einfluss in wichtigen Institutionen wie dem Nationalen Wahlrat und dem Obersten Gerichtshof verschafft. Jüngst erklärte etwa der stellvertretende Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs, Rafael Solís, in einem Zeitungsinterview, dass er »zwar der Verfassung verpflichtet« sei, das aber hieße nicht, »sich gegen Parteiinteressen zu wenden«. Kritiker sprechen deshalb von einer »institutionellen Diktatur«. Und diese versucht eine möglichst umfassende Kontrolle auszuüben. Auch innerhalb der eigenen Partei, denn die Macht konzentriert sich vornehmlich beim Präsidentenpaar. Nicht einmal die Minister der FSLN dürfen sich ohne vorherige Erlaubnis Rosario Murillos öffentlich äußern.

Außerhalb der Partei ist die Kontrolle subtiler, etwa die über die sozialen Bewegungen. Juana Jiménez spürt das. Sie ist Rechtsanwältin und in der Autonomen Frauenbewegung MAM aktiv. Früher war sie Mitglied der FSLN, heute sieht sie sich von ihren ehemaligen Genossen politisch verfolgt. Ausgerechnet ihr und acht anderen Feministinnen wird vorgeworfen, den sexuellen Missbrauch einer Minderjährigen gedeckt zu haben. Bisher gab es aber nur eine Anzeige. Eine Anklage, auf die die beschuldigten Frauen reagieren könnten, wird verschleppt. »Sie warten ab und holen das aus der Schublade, wann immer sie wollen«, ist sich Jiménez sicher. »Der Vorwurf gegen uns ist völlig absurd. Das sind Einschüchterungsversuche.«

Frauenbewegung gemaßregelt

Seit langem gilt die Frauenbewegung als die stärkste soziale Bewegung des Landes. »Normalerweise würde ich sagen: Klagt mich doch an! Ich weiß ja, dass ich unschuldig bin. Aber hier gibt es keine unabhängige Justiz. Und auch die Möglichkeiten der freien Meinungsäußerung und des Protests versucht die Regierung immer mehr einzuschränken«, sagt Juana Jiménez weiter. Gemeinsam mit dem Menschenrechtszentrum CENIDH hatte sie Mitte März eine Anhörung vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission zur Lage der Menschenrechte in Nicaragua. Wie weit die Einschüchterungsversuche mittlerweile gehen, spürte auch der Zusammenschluss verschiedener Basisgruppen und Nichtregierungsorganisationen Coordinadora Civil, dem man im vergangenen Monat drohte, seine Aktivitäten für illegal zu erklären, da er nicht als Nichtregierungsorganisation registriert sei. »In einer Demokratie muss es doch möglich sein, konstruktive Verbesserungsvorschläge zu machen«, klagt Georgina Muñoz von der Coordinadora.

Ein weiterer wichtiger Punkt, den Kritiker anführen, ist der neoliberale Wirtschaftskurs, den Nicaragua seit Jahren eingeschlagen hat. Einst hatte Daniel Ortega ihn selbst heftig kritisiert. Doch nun führt er ihn nahtlos fort. Wirtschaftsexperte Adolfo Acevedo versteht nicht, warum sich Nicaragua, im Gegensatz zu anderen Regierungen Lateinamerikas, gegenüber dem Internationalen Währungsfonds (IWF) so angepasst verhält. Seiner Meinung nach hätte nicht einmal der IWF selbst ein so rigides Strukturanpassungsprogramm geschrieben, wie es sich die Regierung Ortega selbst auferlegt und so ihren Spielraum für Sozialausgaben eingeschränkt hat. Acevedo sieht deshalb eine Diskrepanz von Worten und Taten: »Die Regierung steht für linke Rhetorik auf der einen und neoliberale Wirtschaftspolitik auf der anderen Seite.« Und tatsächlich waren es die FSLN-Abgeordneten, die bereits vor dem Regierungswechsel dem Beitritt Nicaraguas zum Zentralamerikanischen Freihandelsabkommen CAFTA zustimmten.

Die Unternehmer des Landes sind zufrieden mit der Wirtschaftspolitik des Präsidenten. Investitionen in Freihandelszonen beispielsweise, in denen steuerfrei für den Export produziert wird, haben unter Ortega sogar zugenommen. Einen Arbeitsplatz haben dennoch nur die wenigsten Nicaraguaner. Mehr als zwei Drittel der Erwerbstätigen des Landes arbeiten im informellen Sektor. Daniel Ortegas Wahlversprechen von »Null-Arbeitslosigkeit« liegt in weiter Ferne. Für Juan, der gerade erst lesen und schreiben lernt, stehen die Chancen, seinen Traum von einem besseren Job zu verwirklichen, nicht besonders gut.

Aus: Neues Deutschland, 28. April 2008


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