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Lesen gegen die Armut

Alphabetisierungskampagne in Nicaragua. Analphabetenrate von 52 auf 12,9 Prozent zurückgegangen

Von José Adán Silva (IPS), Managua *

Für den 19. Juli hat sich Nicaraguas Regierung etwas Besonderes ausgedacht. An diesem Tag, wenn die sandinistische Befreiungsbewegung (FSLN) den Sieg über die Diktatur von Anastasio Somoza vor 30 Jahren feiert, soll ein weiterer Kampf gewonnen sein: die Alphabetisierung von mehr als 772000 Erwachsenen, unter ihnen über 400 000 Frauen. Die sandinistischen Volksrevolution, die den korrupten, US-hörigen Somoza-Clan 1979 nach 43 Jahren von den Schalthebeln der Macht entfernte, sorgte für einen Rückgang der Analphabetenrate von 52 auf 12,9 Prozent. Nach Angaben des Nationalen Instituts für Entwicklungsinformationen waren 2005 nur noch 500000 der damals rund 5,3 Millionen Nicaraguaner des Lesens und Schreibens unkundig.

Mit den jüngsten Plänen des ehemaligen Guerillaführers und heutigen Staatspräsidenten Daniel Ortega soll die Analphabetenrate bis Juli auf fünf Prozent verringert werden. Das reicht aus, um von der Weltkulturorganisation UNESCO als vollständig alphabetisiert anerkannt zu werden. Wie Nicaraguas Bildungsminister Miguel De Castilla jüngst erklärte, setzt die Regierung seit Anfang 2007 auf ein Heer von 54 000 Freiwilligen, um ihr Ziel zu erreichen.

Zu ihnen gehört die 40jährige Lorena Castillo aus Chontales, einem Dorf 139 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Managua. Dort, wo sich patriarchale Denkmuster bis heute halten, wurde Castillo auf ein Leben als Frau und Mutter vorbereitet – kein Grund für die Familie, sie zur Schule zu schicken. Doch inzwischen hat sie den Unterricht nachgeholt. »Ich habe meinen ersten Brief geschrieben«, berichtet sie stolz. »Bald kann ich sogar Zeitung lesen.«

»Es geht nicht allein darum, Frauen und Männern das Lesen und Schreiben beizubringen«, meinte Minister De Castilla. »Eine gebildete Person hat größere Möglichkeiten, der Armut zu entkommen.« Eine Aussage, die Elba Rivera aus eigener Erfahrung bestätigen kann. Die Lehrerin war 17 Jahre alt, als sie erstmals einen Stift zur Hand nahm. Inzwischen kann sie einen Universitätsabschluß und einen Hochschulaufenthalt in Deutschland vorweisen. Um anderen Menschen zu helfen, dem Analphabetentum zu entkommen, hat sie im ländlichen Departement Nueva Guinea, 283 Kilometer südwestlich von Managua, eine eigene Schule gegründet. Dort unterrichtet sie jetzt Mädchen und Jungen, Frauen und Männer. »Mir war klar, daß Bildung der beste Weg für mich ist, das Land voranzubringen.«

Rivera unterstützt auch die diesjährigen Alphabetisierungspläne der Regierung. Allerdings seien sie als Beitrag zur Gleichberechtigung unzureichend. So fehle eine Vision zur Überwindung des in dem mittelamerikanischen Land tief verwurzelten Machismo, »der die Rolle gebildeter Frauen vor allem darin sieht, den Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen«. Ähnlich denkt auch Juanita Jiménez von der Autonomen Frauenbewegung Nicaraguas (MAM). »Eine Sache ist es, Frauen das Lesen und Schreiben zu lehren, eine andere, die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Frau zu fördern«, sagte sie.

*Aus: junge Welt, 9. Mai 2009


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