Gottes Reich ist der Kommunismus
Ernesto Cardenal über Gott und die Revolution, die Theologie der Befreiung und den Sozialismus im 21. Jahrhundert
Er ist einer der berühmtesten, beeindruckendsten und umstrittensten
Priester. Er nennt sich Marxist und glaubt an den Kommunismus. Er hat
sich an Aufständen und an der Sandinistischen Revolution in Nicaragua
beteiligt, die 1979 die Somoza-Diktatur hinwegfegte. Auf Solentiname,
einer Insel im Großen See von Nicaragua, hat er eine Art neuer Kommune,
eine genossenschaftliche Gemeinschaft über zwölf Jahre ausprobiert. Mit
dem Theologen, Dichter und Revolutionär ERNESTO CARDENAL, geboren 1925
in Granada, sprachen in Berlin für das "Neue Deutschland" (ND) MARTIN
LING und KARLEN VESPER.
ND: Sie haben einmal gesagt, die Liebe hat Sie zu Gott geführt und Gott
zur Revolution. Wie passt das zusammen: ein gottesliebender und
gottesfürchtiger Mensch zu sein und zugleich ein Aufrührer, ein
Revolutionär?
Cardenal: Im Alten Testament haben wir den Gott, den man fürchtet. Der
Gott des Alten Testaments ist ein harter, grausamer Gott. Jesus ist
gekommen, um uns einen anderen Gott zu zeigen. Einen gütigen,
barmherzigen. Jesus zeigte uns, dass Gott Vater ist. Und nicht nur
Vater, sondern ein zärtlicher Papa. Das Evangelium hat mich zur
Revolution gebracht. Mehr als die Lektüre von Karl Marx.
Vermutlich sind die meisten Christen keine Marxisten und scheuen eher
Revolution oder Kommunismus, die Sie predigen, wie der Teufel das
Weihwasser.
Das ist unbegründet und falsch. Der Kommunismus hat einen christlichen
Ursprung. Die ersten Christen waren Kommunisten. Lukas berichtet über
sie: »Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und
hielten alle Dinge gemein. Keiner sagte von seinen Gütern, dass sie sein
wären.« Der Kommunismus wird verteufelt, weil er verfälscht wird wie das
frühe Christentum. Bei Lukas heißt es auch, dass jedem nach seinen
Bedürfnissen gegeben wurde. Ebenso hat es später Marx formuliert.
Wie sähe für Sie das Reich Gottes auf Erden aus? Wäre es identisch mit
dem, was Linke unter Sozialismus verstehen?
Ich glaube, dass der Sozialismus uns erst zu diesem Reich Gottes auf
Erden bringen wird. Das Reich Gottes auf Erden ist eine perfekte
Gesellschaft - entsprechend dem Ideal, das Gott von der menschlichen
Gesellschaft haben kann. Der Sozialismus ist ein Mittel, um zu dieser
perfekten Gesellschaft zu gelangen. Wenn man voraussetzt, dass es nur
zwei mögliche Wirtschaftssysteme gibt, den Kapitalismus und Sozialismus,
also eine Gesellschaft, die auf dem Privateigentum beruht, und eine
andere, die auf dem gemeinschaftlichen Eigentum basiert, dann ist das
Reich Gottes auf Erden ganz offensichtlich die Gesellschaft des
gemeinschaftlichen Eigentums, nicht des Privateigentums. Die perfekte
Gesellschaft ist identisch mit Kommunismus.
Sie glauben, trotz des grandiosen Scheiterns des Sozialismus, dass
Sozialismus machbar ist?
Der Sozialismus ist nicht gescheitert, weil er noch gar nicht richtig
praktiziert worden ist. Was bisher gewesen ist, war noch nicht
Sozialismus. Ich glaube, dass Sozialismus möglich und notwendig ist. Das
ist die Doktrin der Heiligen Väter, der Bibel: Das gemeinschaftliche
Eigentum ist heiliger als das Privateigentum; Gott hat den Reichtum für
alle geschaffen und nicht nur für einige Wenige.
Gott hat uns als Sozialisten erschaffen, weil er uns wollte und uns braucht.
Diese Meinung wird der Vatikan nicht teilen. Was ist übrigens aus der in
den 60er Jahren im vergangenen Jahrhundert, zunächst in Lateinamerika
entwickelten und sich über die ganze »Dritte Welt« ausbreitenden
Theologie der Befreiung geworden? Verebbt?
Die Theologie der Befreiung muss eigentlich Theologie der Revolution
heißen. Solange es Armut und Not auf der Welt gibt, muss es auch eine
Revolutionstheologie geben, die sich mit der Befreiung der Armen und
Elenden befasst. In jüngster Zeit ist eine neue Art von Theologie
entstanden, die aus der Befreiungstheologie kommt. Das ist die Theologie
des religiösen Pluralismus. Papst Benedikt der XVI. hat das erkannt und
deshalb gewarnt: Diese Theologie des Pluralismus, die aus der
Befreiungstheologie stammt, ist gefährlicher als jene war. Ich glaube,
da hat er Recht.
Die neuen Befreiungstheologen haben erkannt, dass alle armen Menschen
eine Religion haben, aber unterschiedliche Religionen. Und diese halten
sie auch voneinander getrennt. Um die Befreiung der Armen zu erreichen,
ist deren Vereinigung notwendig. Deswegen muss die Trennung überwunden
werden, aber nicht in dem Sinne, dass es eine einzige Religion für alle
gibt, sondern eine religiöse Pluralität. Alle Religionen sind
gleichermaßen anzuerkennen, die großen wie die kleinen, bis hin zu den
Religionen der Kannibalen. Keine Religion kann und darf für sich
reklamieren, die einzig wahre zu sein. Alle haben ihre
Existenzberechtigung, sind genauso falsch wie sie wahr sind. Sie müssen
sich untereinander respektieren, damit es eine tatsächliche Vereinigung
der Armen geben kann.
Unvergessen sind die Bilder, als Sie Papst Johannes Paul II. 1983 bei
seinem Besuch in Nicaragua mit der erhobenen Faust grüßten und er Ihnen
mit dem Finger drohte. 1985 hat er Sie dann als katholischer Priester
suspendiert. Warum haben Sie sich nie um eine Rehabilitierungbemüht?
Der Vatikan hat mich dazu verurteilt, dass ich die Sakramente nicht mehr
austeilen darf. Das macht mir nichts aus, denn ich bin nicht Priester
geworden, um nur die Sakramente auszuteilen, sondern um ein
kontemplatives Leben zu führen. Und deswegen besteht keine
Notwendigkeit, dass ich vor dem Papst bitte, die Sanktionen aufzuheben.
Ich werde vor ihm nicht in die Knie gehen.
Sie haben die Revolution in Nicaragua nicht nur unterstützt, sondern
aktiv mitgemacht und waren Kulturminister in der ersten Sandinistischen
Regierung. Was ist mit der Revolution passiert?
Die Revolution wurde durch US-amerikanische Intervention,
Wirtschaftsembargo und Blockade zu Fall gebracht. Und sie ist uns
verloren gegangen. Darüber habe ich ein Buch geschrieben.
Die Revolution wurde 1990 vom Volk abgewählt!
Die Sandinistische Revolution hat mit dem Sturz der Somoza-Diktatur
Nicaragua die Demokratie gebracht. Die Sandinisten mussten die Wahl des
Volkes akzeptieren. Das Volk war des Drucks von außen, der Erpressungen
aus den USA müde. Und auch der einstigen Revolutionsführer leid, die
sich nach dem Sieg wie Selbstherrscher aufzuführen begannen und das
Gegenteil von dem taten, wofür sie angetreten sind, wofür wir gekämpft
haben.
Sie denken da an Daniel Ortega, der seit 2007 wieder an der Regierung ist?
In Nicaragua spricht man von der Regierung Ortega-Murillo. Rosario
Murillo ist die Ehefrau und »Beraterin« von Ortega. Sie und ihre Kinder
bestimmen fast alles. Sie kontrollieren alle Staatsgewalten außer -
zumindest bis jetzt - die Streitkräfte. An dieser Regierung kann ich
nichts Gutes erkennen. Es ist eine Familiendiktatur. Diese Familie hat
sich am Reichtum des Landes bereichert. Keiner weiß wirklich, wie hoch
ihr Vermögen inzwischen ist. Ortega herrscht autoritär und hat einen
Personenkult um sich entwickelt. Wenn man durch die Straßen nicht nur
von Managua fährt, überall blickt einem von riesigen Plakaten Ortega an.
Die Regierung Ortega-Murillo ist weder eine Linksregierung, noch eine
revolutionäre, noch eine sandinistische.
Ist es eine historische Gesetzmäßigkeit, dass Revolutionsführer, einmal
an der Macht, ihre einstigen Ideale verraten oder vergessen? Die
Geschichte kennt jedenfalls viele Beispiele dafür.
Das ist keine historische Gesetzmäßigkeit, das liegt an der Psyche des
Menschen. Der Mensch ist leicht verführbar. Macht verführt. Und Macht
verändert den Menschen.
Er wird machtbesessen und kann nicht mehr von der Macht lassen. Droht
dieses »Schicksal« auch dem Präsidenten von Venezuela, Hugo Chávez? Hat
auch Fidel Castro die Macht nicht mehr loslassen können?
Fidel hat doch alle seine Ämter niedergelegt.
Nach über 50 Jahren, im Alter von über 80 Jahren.
Die Kubaner hätten ihn gestürzt, wenn sie Fidel nicht mehr als ihren
Caudillo oder Máximo Líder gewollt hätten. Und Chávez ist vom Volk
mehrfach wiedergewählt worden. Niemals und von niemandem in Venezuela
ist die Legitimität dieser Wiederwahl jemals bezweifelt worden. Das tut
man nur im westlichen Ausland. Chávez nimmt das unvollendete Projekt der
Revolution von Simón Bolívar wieder auf, alle Länder Lateinamerikas in
einem Bündnis zu vereinen, um sich gegen die USA wehren zu können.
Deshalb wird er in den westlichen Medien nieder geschrieben und
denunziert. Man versucht, ihn lächerlich zu machen. Er ist aber ein sehr
kluger, belesener und geistreicher Mann, der die Not der Armen und die
Wünsche des Volkes kennt.
Wie beurteilen Sie die neuen Linksregierungen in Lateinamerika? Haben
wir es im Venezuela von Chávez, im Ekuador von Rafael Correa und im
Bolivien unter Evo Morales mit dem Sozialismus des 21. Jahrhunderts zu tun?
Alle diese Regierungen - dabei sollte man Kuba nicht vergessen, dass die
erste Revolution vollzogen hat - kämpfen um die zweite Unabhängigkeit.
Der erste Unabhängigkeitskampf richtete sich vor 200 Jahren gegen
Spanien, der zweite richtet sich nun gegen das nordamerikanische
Imperium. Die einen schlagen dabei einen radikaleren Kurs ein als die
anderen, aber die Zielsetzung ist dieselbe.
In Brasilien regiert ein linker Gewerkschaftsführer. In Uruguay ist ein
Tupamaro-Guerrillero Präsident geworden, in Paraguay ein Bischof der
Armen und in Bolivien ein Indigener. All das hat man sich vor einer
Generation noch nicht vorstellen können. Es erscheint wie ein Wunder.
Deshalb bin ich überzeugter denn je, dass Lateinamerika und die ganze
Welt eines Tages sozialistisch wird.
Chávez kann gut mit Ortega.
Chávez ist in der Tat eine große Hilfe für Ortega. Ich habe mich oft
gefragt, warum ein linker Präsident wie Chávez Ortega unterstützt, der
diesen Kriterien nicht entspricht. Ich habe dafür keine Erklärung.
Nicaragua gehört auch der Bolivarianischen Alternative für Amerika
(ALBA) an, die von Venezuela und Kuba 2004 als Gegenprojekt zu der von
den USA anvisierten gesamtamerikanischen Freihandelszone gestartet
wurde. Wie sehen Sie den ALBA-Integrationsprozess?
Positiv, mit Ausnahme des Einbezugs von Nicaragua. Hier kommt ALBA nur
der Ortega-Familie zugute. Davon abgesehen begrüße ich die Idee und das
Projekt
Wie kann sich die nicaraguanische Gesellschaft wieder in progressive
Richtung transformieren?
Ortega von der Macht weg. Es gibt eine breite parteiübergreifende
Bewegung in Nicaragua, die seinem Versuch, die Verfassung zu verändern,
um eine Wiederwahl anzustreben, entgegentritt. Das wäre der erste
Schritt in eine bessere Zukunft.
Gekommen, um zu bleiben - Christen und Marxisten
Auf dem Parteitag der LINKEN in Rostock hat Ernesto Cardenal eine
begeistert aufgenommene Rede gehalten, von der ND hier einen Auszug
dokumentiert.
Es ist eine Tatsache, dass die Bibel die Reichen immer wieder
verurteilt, auch wenn die Bibelübersetzungen dies oft verfälschen. Nicht
selten wird »Reiche« mit »Übeltäter« übersetzt, womit die Verurteilung
versteckt wird: Es ist sicher nicht falsch, »Übeltäter« zu verurteilen.
Auch in Deutschland übt sich die Züricher Bibel, eine der verbreitetsten
hier, in dieser Praxis des Versteckens, und dort, wo der Text von
»Reichen« spricht, steht »Übeltäter«. Die Reichen sind in der Bibel die
»Ungerechten«. »Reich« ist gleichbedeutend mit »ungerecht«. Der Prophet
Habakuk sagt, sie sind die, »die das Recht in Bitternis verwandeln«. Und
er sagt über sie, dass sie dem Armen »kleine Mengen Weizen« wegnehmen,
das heißt sie tun dies Tag für Tag, und sie tun es auf legale Weise
durch ein ungerechtes System. Deshalb verwandeln sie das Recht in
Bitternis. Das ist der permanente Diebstahl, der permanente Raub des
Kapitalismus. Genauso sagt es auch Jeremias: Sie taten keine
Gerechtigkeit, das Recht des Weisen traten sie mit Füßen, sie achteten
nicht die Gerechtigkeit der Armen.
In der Bibel wird Reichtum durch Diebstahl, durch Raub angehäuft,
deshalb bedeutet »reich« »ungerecht«. Deswegen verurteilt die Bibel den
Reichen allein deshalb, weil er reich ist, ohne dass er unbedingt ein
schlechter »Reicher« sein muss. Deswegen ist »reich« auch ganz einfach
dasselbe wie »ungerecht«. Ungerecht hat dieselbe Bedeutung wie reich.
Oft wird die Bibel auch bewusst gefälscht (auch die Züricher Bibel),
indem »ungerecht« mit »gottlos« übersetzt wird. Auf diese Weise wird der
Eindruck erweckt, als ob die Atheisten verurteilt würden, nicht die
Reichen. Auch wenn viele dieser Reichen der Bibel keine Atheisten sind.
Der Apostel Jakobus sagt uns in seinem Brief ausdrücklich (2,6): »Sind
nicht die Reichen die, die Gewalt an euch üben und ziehen euch vor
Gericht?« Die Erwähnung des Gerichts geschieht deshalb, weil sie die
Gesetze nutzen. Das Gesetz ist auf ihrer Seite, und der Raub, den die
Reichen begehen, findet im Rahmen eines Unrechtssystems auf legale Weise
statt. Deshalb ist für die Bibel der Reiche schon allein dadurch
ungerecht, dass er reich ist ...
Es ist längst überfällig, dass Christen und Marxisten zusammengehen, so
wie es der Paläontologe und Mystiker Teilhard de Chardin schon
prophezeite. Wir Christen sind spät zum Marxismus gekommen, aber wir
sind gekommen, um zu bleiben. Besser gesagt, wir sind zu unseren Wurzeln
zurückgekehrt. Hatte nicht schon Engels darauf hingewiesen, dass das
Asketentum der Urchristen ein Protest gegen die Reichen war? ...
Vom Kommunismus kommen wir her. Kommunistisch sind unsere Wurzeln, die
Heiligen Väter. Der Heilige Gregor von Nisa sagte, dass zu Beginn »das
Meine und Deine, diese unseligen Wörter, fremd gewesen« seien. Und der
Heilige Basilius sagt: »Eine perfekte Gesellschaft ist die, die
jegliches Privateigentum ausschließt.« »Alle Dinge, die es auf dieser
Welt gibt, sollten allen zur Verfügung stehen«, sagt Clemente Romano.
Der Heilige Ambrosius von Mailand meint: »Der Herr hat gewollt, dass
diese Erde gemeinsamer Besitz aller Menschen sei.« Und Chrisostomus
sagt, dass die Gütergemeinschaft eine der menschlichen Natur
angemessenere Daseinsform ist als das Privateigentum ...
Die Menschheit war sozialistisch, bis das Privateigentum entstand. Der
Theologe Leonardo Boff hat Recht, wenn er sagt: »Die sozialistischen
Ideale sind tief in diesem politischen Wesen verwurzelt, das der Mensch
ist. Dort werden gefährliche Utopien genährt.«
* Aus: Neues Deutschland, 26. Mai 2010
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