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"Moralisches Sakrileg"

Massive Kritik an Wahlbündnis der Sandinisten

Von José Adán Silva, Managua *

In Nicaragua stößt das Wahlbündnis der linken Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) mit den Nationalliberalen (PLN) – der Partei der Diktatorensippe Somoza – auf massive Kritik. Die Gegner des ungewöhnlichen Bündnisses fühlen sich vom ehemaligen Staatschef Daniel Ortega, dem Präsidentschaftskandidaten der FSLN bei den Wahlen im November, verraten und halten seine ungleiche Allianz für kontraproduktiv. Dennoch könnten Ortegas Pläne aufgehen. Zurzeit liegt er bei den Wahlumfragen auf dem ersten Platz. Auch erfreut sich sein Bündnis der Unterstützung der katholischen Kirche, etlicher Gewerkschaften, einiger Ureinwohner- und Kleinbauernorganisationen und eines guten Teils der Geschäftswelt.

»Das Vereinte Nicaragua wird siegen« heißt der Slogan, mit dem Ortega und seine Verbündeten die Wahlen gewinnen wollen. »PLN und FSLN haben Gemeinsamkeiten. Unsere Wähler sind die Armen, wir wollen Programme für Entwicklung und Fortschritt und bekämpfen Armut und soziale Unsicherheit«, rechtfertigte Ortega seine Entscheidung, mit dem einstigen Erzfeind zusammenzugehen.

Bereits im März hat eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts MyR Asociados ergeben, dass Ortega im Alleingang wenig hätte ausrichten können. Seine erste Regierungszeit zwischen 1985 und 1990 wurde von 48,5 Prozent der Befragten als schlecht beurteilt. Besonders gut kamen die Jahre unter Staatspräsidentin Violeta Chamorro zwischen 1990 und 1996 davon. Ihre Präsidentschaft galt 27,9 Prozent der Umfrageteilnehmer als die beste, die Nicaragua je hatte. Den zweitbesten Platz mit 24,5 Prozent belegte die Diktatur unter Anastasio Somoza Debayle, dem letzten Vertreter des 1937 angetretenen Somoza-Clans, der 1979 die Macht an die Sandinisten abgeben musste. Einer der Rebellenführer, die Nicaragua aus den Klauen der Somozas befreiten, war Ortega.

Benannt ist die 1961 gegründet FSLN nach General Augusto César Sandino (1895-1934), der sich gegen den politischen und militärischen Einfluss der USA in Nicaragua zur Wehr setzte und 1934 auf Geheiß von Anastasio Somoza, Vater des 1979 zu Fall gebrachten Somoza Debayle und Gründer der PLN, ermordet wurde.

Nun macht Ortega nicht nur gemeinsame Sache mit dieser Partei, sondern hat auch Jaime Morales Carazo zu seinem potenziellen Stellvertreter an der Staatsspitze auserkoren. Morales Carazo war Chefunterhändler der so genannten Contras – einem von den USA finanzieren Kampfverband, der in den 80er Jahren von Honduras aus gegen die FSLN vorging. Edén Pastora, wie Ortega ehemaliger Rebellenführer und jetzt Präsidentschaftskandidat der Partei Alternative für Wandel (AC), ist schockiert. Er hält Ortegas Vorgehen für ein »moralisches Sakrileg«. Offenbar habe Ortega vergessen, dass der Somoza-Clan über 50 000 Tote auf dem Gewissen habe. »Wahrscheinlich ließe sich Ortega selbst mit Hitler ein, wenn dieser noch lebte. Sandino und Somoza würden sich im Grabe umdrehen.«

Alarmiert ist auch die frühere Guerillera Dora María Téllez, die sich bei den kommenden Wahlen um ein Abgeordnetenmandat für die Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS) bewirbt. Sie geht davon aus, dass Ortega sich verrechnet hat. »In Nicaragua sind die alten Wunden noch lange nicht verheilt. Viele Menschen können nicht vergessen, dass der Krieg fast 100 000 Tote gefordert hat.« Das werde Ortega bei der Abstimmung zu spüren bekommen.

Mit Kritik wartet auch der frühere PLN-Sekretär Leonel Téller auf, heute Sprecher der rechten Konstitutionellen Liberalen Partei (PLC) des früheren Staatspräsidenten Arnoldo Alemán, der im Dezember 2003 unter anderem wegen Geldwäsche zu 20 Jahren verurteilt worden ist. Für Téller ist das Bündnis zwischen FSLN und PLN ein Wahl-Gimmick und alles andere als eine wahre Allianz. Für einen Fehler hält den Bund auch der Historiker Aldo Díaz Lacayo. Wie Téllez meint auch er, dass sich die FSLN keinen Gefallen mit ihrer Entscheidung getan hat. Viele Wähler in Nicaragua seien in der Tat sehr jung und hätten keine eigene Erinnerung an die Menschenrechtsverletzungen der Somoza-Diktatur. Tausende aber würden den Namen PLN mit der schwarzen Vergangenheit in Verbindung bringen. Für sie seien Folter, Massaker und die vielen Verschwundenen, die auf das Konto der berüchtigten Nationalgarde der Somozas gingen, nicht vergessen. Das werde sich in ihrer Wahlentscheidung mit Gewissheit niederschlagen.

Nach inoffiziellen Schätzungen sind im nicaraguanischen Bürgerkrieg bis 1979 etwa 75 000 Menschen umgekommen, weitere 50 000 sollen im anschließenden Konflikt zwischen den Sandinisten und den Contras ihr Leben gelassen haben.

* Aus: Neues Deutschland, 12. September 2006


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