Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Westen greift ein

Suche nach entführten Schülerinnen: USA, Großbritannien und Frankreich beginnen Einmischung in den nigerianischen Bürgerkrieg

Von Knut Mellenthin *

Nigeria bekommt Unterstützung bei der Suche nach mehr als 200 Schülerinnen, die Mitte April von Islamisten entführt wurden. Die USA, Großbritannien und Frankreich haben die Entsendung von Geheimdienstleuten, Militärberatern und allerlei Experten angekündigt. China ist bereit, Satellitenaufnahmen zur Verfügung zu stellen. Auf die westlichen Helfer hätte Präsident Goodluck Jonathan gern verzichtet. Aber eine aggressive internationale Kampagne, die von Politikern, Showstars und anderen Prominenten unterstützt wird, ließ dem Staatsoberhaupt schließlich kaum noch eine andere Wahl. Nigeria schafft es nicht alleine, lautet die klare Botschaft.

Das könnte Auftakt einer länger dauernden Intervention werden. Aber, versichert man in Washington, London und Paris, militärische Einsätze seien zur Zeit nicht beabsichtigt. Trotzdem: Ganz ohne Soldaten wird es von Anfang an nicht abgehen. Die USA schicken, laut einem Bericht des neokonservativen Senders Fox News, zunächst zehn uniformierte Angehörige ihres Regionalkommandos für den afrikanischen Kontinent nach Nigeria. Sie kommen direkt aus dem AFRICOM-Hauptquartier in Stuttgart. Die Offiziere werden Teil einer »Koordinierungszelle« sein, die in der US-Botschaft in der nigerianischen Hauptstadt Abuja eingerichtet werden soll. Ihr werden auch Beamte der Bundespolizei FBI und Mitarbeiter des Pentagon, des State Department und des Justizministeriums angehören. Unter ihnen sind Fachleute für Logistik, Telekommunikation, Terrorismusbekämpfung, Verhandlungen mit Entführern, psychologische Fragen und sogar für Opferbetreuung. US-Außenminister John Kerry sagte am Donnerstag, daß das Team bereits in Nigeria angekommen sei und »sofort« die Arbeit aufnehmen werde.

Frankreich plant als erste Stufe die Entsendung von zehn Offizieren der Auslandsabteilung seines Geheimdienstes DGSE. Unter ihnen sollen Experten für die Auswertung von Satellitenfotos sein. Großbritannien will ein Aufklärungsflugzeug und Mitglieder einer Sondereinheit schicken.

US-Präsident Barack Obama äußerte am Dienstag die Hoffnung, daß die Entführung der jungen Nigerianerinnen »dazu beitragen kann, die gesamte internationale Gemeinschaft dafür zu mobilisieren, endlich etwas gegen die fürchterliche Organisation zu unternehmen, die dieses schreckliche Verbrechen begangen hat«. Gemeint ist eine Gruppierung, die weltweit nur als »Boko Haram« bekannt ist, obwohl sie sich selbst gar nicht so nennt. Die aus der nordnigerianischen Haussa-Sprache stammende Bezeichnung bedeutet ungefähr, daß westliche Bildung nach islamischem Recht verboten sei, und stellt nur einen Spottnamen dar.

Was »die gesamte internationale Gemeinschaft« konkret zu Nigerias Problemlösung beitragen könnte, ließ Obama offen. Die genannte Organisation, die seit 2009 bewaffnete Aktionen, mehrheitlich gegen die Bevölkerung ihres Landes, durchführt, landete erst nach langen internen Auseinandersetzungen am 13. November vorigen Jahres auf der vom State Department geführten Liste ausländischer Terrorgruppen. Vor allem die frühere Außenministerin Hillary Clinton, die jetzt sehr engagiert die Entführung der Schülerinnen beklagt, soll sich gegen diese Maßnahme gesperrt haben.

Die Mädchen im Alter zwischen 16 und 18 Jahren waren in der Nacht vom 14. auf den 15. April von bewaffneten Männern aus einer Schule im äußersten Nordosten des Landes verschleppt worden. Nicht unbedingt zuverlässige Zeugen wollen beobachtet haben, daß die LKWs, mit denen die Entführer und ihre Opfer unterwegs waren, die Grenzen zum Tschad oder nach Kamerun überquert haben. Nach anderen Aussagen könnten sie sich im Sambisa Forest, einem riesigen nigerianischen Wildreservat, befinden.

Der Überfall Mitte April war zwar die bisher größte, aber nicht die erste Aktion dieser Art. Seit Februar hatten bewaffnete Gruppen, die angeblich »Boko Haram« zuzurechnen waren, wiederholt Dörfer und kleine Städte überfallen, die Häuser durchsucht und Mädchen oder junge Frauen verschleppt. Auch in dieser Woche gab es zwei solcher Angriffe. Am Montag wurde ein Video bekannt, in dem der Chef der Organisation, Abu­bakar Shekau, seine Absicht ankündigte, die Entführten als Sklavinnen zu verkaufen.

Shekau hatte diese Drohung schon früher geäußert und dabei einen direkten Zusammenhang zum Vorgehen des nigerianischen Regimes hergestellt. Dieses hat in den Jahren 2011 und 2012 mehr als 100 weibliche Angehörige – Frauen und Kinder – von mutmaßlichen »Boko-Haram«-Kämpfern, angeblich auch von Shekau selbst, als Druckmittel festnehmen lassen und hält sie immer noch gefangen. Im Mai 2013 ließ Shekau erstmals junge Nigerianerinnen entführen, um einen Austausch zu erreichen, den die Regierung jedoch verweigerte.

Mit welchen Methoden die nigerianischen Streitkräfte den »Kampf gegen den Terror« führen, zeigte Mitte März auch ein Massaker in der Stadt Maiduguri, die im überwiegend islamischen Nordosten des Landes liegt. Nachdem mutmaßliche Kämpfer von »Boko Haram« eine Militärkaserne angegriffen und zahlreiche Gefangene befreit hatten, töteten Soldaten in einer Vergeltungsaktion an einem einzigen Tag mehrere hundert unbewaffnete Menschen. Zum Teil soll es sich dabei um geflüchtete Häftlinge gehandelt haben. Amnesty International schätzte die Zahl der Ermordeten in einem vorläufigen Bericht auf über 600.

Nigeria ist mit über 170 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land Afrikas. Jeweils ungefähr die Hälfte sind Christen im südlichen und Muslime im nördlichen Teil des Landes. Eine Verschärfung der Widersprüche mit der Perspektive einer Teilung oder Unregierbarkeit Nigerias läge auf der strategischen Linie, die die USA und ihre Verbündeten auch schon im Irak, in Libyen und in Syrien praktiziert haben.

* Aus: junge Welt, Samstag, 10. Mai 2014


Zurück zur Nigeria-Seite

Zur Nigeria-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage