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Ausweitung eines Krieges

Truppen des Tschad kämpfen gegen Boko Haram auf Territorium Nigerias. Frankreich führt Aufklärungsflüge durch, USA trainieren Armeen der Region

Von Simon Loidl *

Der Kampf gegen Boko Haram ist endgültig keine nur nigerianische Angelegenheit mehr. Am Dienstag haben tschadische Truppen im Kampf gegen die islamistische Gruppe die Grenze von Kamerun überquert und sind auf nigerianisches Territorium vorgedrungen, wo sie Gamboru eingenommen haben. Zuvor hatte die tschadische Luftwaffe tagelang Boko-Haram-Stellungen in der nigerianischen Grenzstadt beschossen. Bei der Operation sind offiziellen Angaben zufolge 200 islamistische Kämpfer und neun tschadische Soldaten getötet worden. Nur einen Tag später erfolgte ein Gegenschlag. Am Mittwoch überfielen Boko-Haram-Kämpfer die kamerunische Stadt Fotokol und ermordeten Agenturberichten zufolge Dutzende Zivilisten und mehrere Soldaten und steckten Häuser sowie die Moschee in Brand. Nach mehreren Stunden konnten demnach kamerunische und tschadische Einheiten die Kämpfer wieder aus der Stadt vertreiben.

Seit Mitte Januar sind Einheiten aus dem Tschad in Kamerun aktiv, nachdem dessen Präsident Paul Biya sich zuvor an die internationale Öffentlichkeit gewandt und um Unterstützung gebeten hatte. In den vergangenen Monaten war es vermehrt zu Operationen von Boko Haram auf kamerunischem Territorium gekommen. Dabei wurden immer wieder Ortschaften angegriffen und Dutzende Menschen entführt.

Der Friedens- und Sicherheitsrat der Afrikanischen Union (AU) hat zudem in der vergangenen Woche die Aufstellung einer 7.500 Mann umfassenden regionalen Eingreiftruppe beschlossen. Neben den Ländern der Tschadsee-region soll auch Benin Soldaten für militärische Operationen gegen die islamistische Miliz entsenden.

Zum Vordringen tschadischer Einheiten hieß es von nigerianischen Armeesprechern, dass die Souveränität des Landes dadurch nicht beeinträchtigt werde. Afrikanische Medien zitierten Sprecher Chris Olukolade mit den Worten, dass die nigerianische Armee die Offensive gegen Boko Haram geplant habe und maßgeblich durchführe – nicht jene des Tschad.

Noch relativ wenig Beachtung in internationalen Medien hat bislang die militärische Unterstützung durch westliche Mächte gefunden. Verschiedenen Berichten zufolge haben französische Militärflugzeuge Aufklärungsflüge durchgeführt. Paris hat in den meisten seiner ehemaligen Kolonien in Afrika Militärstützpunkte und greift regelmäßig in regionale Auseinandersetzungen ein – zuletzt in Côte d'Ivoire und Mali. Das französische Verteidigungsministerium betonte, dass die jüngsten Einsätze ausschließlich auf tschadischem und kamerunischem Territorium stattgefunden hätten und die Grenzen zu Nigeria nicht überquert worden seien.

Die USA begrüßten das Engagement des Tschad in dem grenzüberschreitenden Konflikt. Vincent Stewart, Chef des militärischen Nachrichtendienstes DIA, sprach in Zusammenhang mit den Entwicklungen der vergangenen Tage von »guten Nachrichten«. Die US-Armee trainierte bis vor kurzem »Antiterror«-Einheiten der nigerianischen Streitkräfte und liefert Ausrüstung. Zuletzt kam es jedoch zu Unstimmigkeiten zwischen den beiden Ländern. Die New York Times berichtete Ende Januar, dass sich US-Einheiten derzeit verstärkt auf die Unterstützung Kameruns, des Tschad und Nigers konzentrieren würden. Das Blatt zitierte hochrangige US-Militärs, die von mangelndem »Vertrauen« in die nigerianische Armee sprachen.

* Aus: junge Welt, Freitag, 6. Januar 2015


"Nordosten wurde vernachlässigt"

Aufstand von Boko Haram ist das Ergebnis jahrzehntelanger Versäumnisse der Regierungen Nigerias. Ein Gespräch mit Roman Loimeier **

Roman Loimeier ist Professor für Ethnologie an der Universität Göttingen.

Der rasante Aufstieg von Boko Haram während der vergangenen Jahre hat viele Beobachter erstaunt. Wie hat sich die Gruppe entwickelt?

»Boko Haram« gibt es seit fast 15 Jahren. 2002 bzw. 2003 hat sich die Organisation aus einer anderen radikalen Splittergruppe in Maiduguri gebildet. Von Anfang an war sie von inneren Streitigkeiten gekennzeichnet, die sich bis in die Gegenwart fortsetzen. Die Folge war der Zerfall in mehrere Fraktionen, von denen die größte derzeit die Schlagzeilen macht – aber es gibt noch fünf andere Gruppen, die unter dem Namen firmieren. Bis 2009 war Boko Haram auch eine Schlägertruppe, die für den damaligen Gouverneur des Bundesstaates Borno Wahlkämpfe bestritten hat und deswegen von diesem geschützt wurde. 2009 kam es zu einer Abkühlung zwischen der politischen Spitze dort und der Boko-Haram-Führung, der Schutz fiel weg. Es folgte ein Aufstand, bei dem etwa Gefängnisse angegriffen wurden, um Boko-Haram-Mitglieder zu befreien. In diesem Zusammenhang wurde der damalige Boko-Haram-Führer Mohammed Yusuf in Polizeigewahrsam ermordet. Die neue Führung der Gruppe um Abubakar Shekau leitete einen radikalen Strategiewechsel in Richtung militante Oppositionsbewegung ein.

Es gibt immer wieder Gerüchte, dass die Gruppe von außen finanziert wird.

Boko Haram finanziert sich vollkommen aus lokalen Quellen. Bis 2009 waren das Geldgeber aus dem Nordosten – Geschäftsleute oder Politiker. Heute gibt es lokale Steuern oder Zwangsabgaben, die Boko Haram erhebt, und die Einnahmen aus Entführungen, die ja in den letzten Jahren stark zugenommen haben.

Wer sind die Boko-Haram-Mitglieder?

Die Organisation rekrutiert sich aus ganz unterschiedlichen Milieus. Die Kerngruppe sind Schüler und Studenten von bestimmten radikalen islamischen Schulen. Allerdings darf man nicht annehmen, dass alle Koran-Schulen in Nordnigeria potentiell Mitglieder für Boko Haram ausbilden – im Gegenteil: die meisten religiösen Gelehrten in Nordnigeria haben sich gegen die Gruppierung gewandt, und deswegen wurden auch zahlreiche Gelehrte von ihr ermordet. Ein zweites Rekrutierungsmilieu sind unzufriedene arme Menschen im Nordosten Nigerias. Seit der Unabhängigkeit wurde dieser Teil des Landes vernachlässigt. Und schließlich gibt es Zwangsrekrutierungen insbesondere unter Jugendlichen. Diese finden bei Boko Haram auch ein Auskommen; die Gruppe zahlt Gehälter, die zwar gering sind, aber immer noch besser als das, was der Staat im Nordosten bietet.

Die Afrikanische Union (AU) hat nun die Aufstellung einer multinationalen Truppe für den Kampf gegen Boko Haram beschlossen. Eine richtige Entscheidung?

Ein wichtiger Schritt wäre, dass die Länder, die an einer Stabilität in der Region interessiert sind – also insbesondere Niger und Kamerun – den Kampf unterstützen. Beide Länder haben relativ stabile Regierungen und funktionierende Armeen, die sinnvoll eingreifen können, um eine Ausbreitung von Boko Haram auf ihrem Territorium zu verhindern. Das dürfte allerdings ohnehin ein geringeres Problem sein, weil die soziale Basis für die Organisation weder in Kamerun noch in Niger gegeben ist.

Zur nigerianischen Armee ist anzumerken, dass sich diese hauptsächlich aus drei Gebieten des Landes rekrutiert – aus dem Nordosten kommen nur ganz wenige Offiziere und Mannschaften. Das führt dazu, dass sich die Armee in dieser Region wie eine Besatzungsarmee aufführt: sie ist schlecht geführt, kennt sich nicht aus und ist ganz und gar korrupt. So hat es etwa immer wieder Waffenverkäufe aus der Armee an Boko Haram gegeben.

Ist eine militärische Lösung des Konflikts überhaupt möglich?

Es gib eine Tradition lokaler Selbstverteidigungsmilizen, die immer wieder Aktionen der nigerianischen Armee unterstützen. Immer dann, wenn das geschah, war sie im Kampf gegen Boko Haram effektiv. Diese Gruppen müsste die Regierung besser bewaffnen, um militärisch erfolgreich zu sein.

Aber darüber hinaus wäre wichtig, dass die Regierung, die ja eigentlich durch die Erdöleinkünfte über genügend Ressourcen verfügen müsste, endlich eine langfristige Entwicklungspolitik im Nordosten Nigerias beginnt. Diese müsste den Menschen in der Region Zugang zu Wasser, Kanalisation, Bildung und Gesundheitswesen bieten. Es geht also um grundlegende Maßnahmen, die in anderen Teilen Nigerias schon längst verwirklicht, aber im Nordosten sträflich vernachlässigt wurden.

Eine der Ursachen dafür ist, dass diese Region von der Bevölkerungsanzahl her ein relativ unwichtiges Gebiet innerhalb des Staates ist, das heißt, es gibt hier keine große Wählerschaft, keine große Lobby. Das hatte zur Folge, dass nie ein Interesse daran bestand, in dieser Gegend zu investieren. Die Regierung müsste in nächster Zeit unverhältnismäßig viele Mittel in die Region lenken, um für eine Befriedung zu sorgen und um der Bevölkerung das Gefühl zu geben, dass etwas getan wird.

Interview: Simon Loidl

** Aus: junge Welt, Freitag, 6. Januar 2015


Hintergrund: Gewalt im Wahlkampf

Von Simon Loidl ***

Die derzeitige Offensive von Boko Haram steht einigen Beobachtern zufolge in direktem Zusammenhang mit dem zu Ende gehenden Wahlkampf in Nigeria. Der südafrikanische Politikwissenschaftler Ola Bello betont, dass die islamistische Gruppe die Aufmerksamkeit der nationalen und internationalen Öffentlichkeit ausnutze, die durch die Wahlen am 14. Februar entstehe. Die mehrmaligen erfolglosen Versuche von Boko Haram, die Hauptstadt des Bundesstaates Borno, Maiduguri, einzunehmen, machten dies deutlich, so Bello gegenüber der südafrikanischen Internetplattform News24. Nach seiner Ansicht sollten die Wahlen dennoch durchgeführt werden, die Vorbereitungen dafür seien weit genug fortgeschritten. In den vergangenen Tagen wurde in nigerianischen Medien bereits darüber diskutiert, ob die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen angesichts der ständigen Attacken und Anschläge verschoben werden müssten.

In den von Boko Haram kontrollierten Ortschaften ist allerdings ebenso wenig von einer geordneten Abstimmung auszugehen wie in den täglich von Anschlägen und Kämpfen betroffenen Regionen des Nordostens. Kritiker werfen Präsident Goodluck Jonathan vor, in der Auseinandersetzung mit der islamistischen Miliz versagt zu haben. Insbesondere die zögerliche Reaktion der Regierung auf die Entführung von fast 300 Schülerinnen in Chibok im April 2014 kostete Jonathan viele Sympathien. Bis heute befinden sich mehr als 200 Mädchen in der Gewalt von »Boko Haram«.

Umfragen sehen derzeit Jonathan und seinen Herausforderer Mohammadu Buhari beinahe gleichauf. Der 72jährige Buhari regierte Nigeria nach einem Militärputsch bereits zwischen 1983 und 1985.

Mittlerweile hat die Gewalt den Wahlkampf auch direkt erreicht. Am Montag sprengten sich zwei Selbstmordattentäterinnen am Rande einer Veranstaltung von Jonathan in Gombe, der Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates, in die Luft. Dabei wurden mehrere Menschen getötet und weitere verletzt. Lokale Medien berichteten, dass im Anschluss Anhänger der Regierungspartei People‘s Democratic Party (PDP) attackiert wurden, da der Auftritt Jonathans als Ursache für den Anschlag gesehen werde. Bereits einen Tag zuvor hatte es in Gombe Anschläge auf einen Kontrollpunkt der Armee und auf einen Markt gegeben. Auch dabei starben mindestens fünf Menschen. (sl)

*** Aus: junge Welt, Freitag, 6. Januar 2015




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