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Tausende tote Häftlinge

Amnesty International: Nigerianische Armee für Folter und außergerichtliche Hinrichtungen verantwortlich. Weitere Anschläge mutmaßlicher Islamisten im Nordosten des Landes

Von Simon Loidl *

Amnesty International hat schwere Vorwürfe gegen die nigerianische Armee erhoben. Einem in der vergangenen Woche veröffentlichten Bericht zufolge sollen in den vergangenen Jahren mindestens 8.000 Menschen in Militärgewahrsam ermordet worden sein. Die Opfer seien »qualvoll verendet, zu Tode gefoltert oder rechtswidrig getötet« worden, erklärte die Organisation in einer Stellungnahme zu dem Bericht und fordert, dass Ermittlungen gegen hochrangige Militärs des westafrikanischen Staates eingeleitet werden.

Der Report beruht auf der Analyse von Militärberichten und -korrespondenzen sowie mehr als 400 Interviews mit Augenzeugen und Militärvertretern. Aufgrund der Recherchen kommt Amnesty zu dem Schluss, dass seit 2011 mindestens 7.000 Männer und Jungen in Militärgewahrsam verhungert waren, erstickt sind oder zu Tode gefoltert wurden. Etwa 1.200 weitere Häftlinge wurden zudem seit 2002 auf andere Art und Weise »rechtswidrig getötet«. Seit 2009 sind demnach im Kampf gegen die islamistische Miliz »Boko Haram« im Nordosten Nigerias mindestens 20.000 Männer und Jungen festgenommen worden. Gerichtsverfahren habe es nur wenige gegeben. Die Häftlinge wurden Amnesty zufolge häufig in »extrem überfüllte, unbelüftete Zellen gesperrt«, die Versorgung war äußerst mangelhaft. Folter stand demnach auf der Tagesordnung, und »Tausende verendeten an den Folgen der Misshandlungen und der entsetzlichen Haftbedingungen«. Die außergerichtlichen Tötungen waren dem Bericht zufolge häufig Racheaktionen nach Angriffen von »Boko Haram«. Im Verlauf der Kämpfe seien nach Auskunft eines hochrangigen Militärangehörigen seit 2014 Gefangene immer öfter getötet worden. Aus Korrespondenzen sei ersichtlich, dass die Armeeführung über die Vorfälle informiert war. Der Generalsekretär von Amnesty International, Salil Shetty, sprach von einer »Kultur der Straflosigkeit«, für die auch die politische Führung des Landes verantwortlich sei.

Das Militär die Vorwürfe zurück. In einer in nigerianischen Medien veröffentlichten Stellungnahme ist von »grauenhaften Anschuldigungen« die Rede. Amnesty versuche, die Reputation einzelner Militärangehöriger sowie das Ansehen der ganzen Armee zu beschädigen. Keine der in dem Bericht erhobenen Anschuldigungen sei ausreichend belegt, hieß es seitens der Armee: Die »Straflosigkeit, die von Amnesty unterstellt wird«, habe »innerhalb des nigerianischen Militärs keinen Platz«.

Der seit Ende Mai amtierende neue Präsident Nigerias, Muhammadu Buhari, bestätigte in einer Stellungnahme den Empfang des Amnesty-Berichts. Dieser beinhalte »beunruhigende Anschuldigungen«, so Buhari laut der nigerianischen Zeitung Vanguard. Er wolle Untersuchungen nicht vorgreifen, versichere aber, dass seine Regierung »alle Hebel in Bewegung setzen« werde, um rechtsstaatliche Prinzipien durchzusetzen, so der Präsident.

Unterdessen geht die Gewalt weiter. Im Bundesstaat Borno im Nordosten des Landes wurden bei einem Anschlag auf einen Viehmarkt am Samstag nach Angaben des Militärs 16 Menschen getötet. Auch am Freitag hatten nigerianische Medien mehrere Angriffe von »Boko Haram« in den Bundesstaaten Adamawa und Borno gemeldet. Dabei sind demnach mindestens 35 Menschen getötet und zahlreiche weitere verletzt worden. Zum ersten Mal war auch Yola, die Hauptstadt von Adamawa, von der Gewalt betroffen. Bei einem Bombenanschlag am Donnerstag abend nahe einem Markt sind lokalen Behörden zufolge mindestens 31 Menschen in den Tod gerissen worden. In Maiduguri, der Hauptstadt von Borno, war ein Checkpoint der Armee Ziel eines Selbstmordattentats. Dabei wurden vier Soldaten getötet. Bereits am Donnerstag hatte Buhari während eines Besuchs in der tschadischen Hauptstadt N‘Djamena die Mitglieder der multinationalen Einsatzgruppe gegen »Boko Haram« aufgerufen, den Kampf gegen die Islamisten zu intensivieren. Neben Nigeria und Kamerun sind auch die Streitkräfte des Tschad und Nigers an dem Einsatz beteiligt.

* Aus: junge Welt, Montag, 8. Juni 2015


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