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Terror und Wachstum

Jahresrückblick 2014. Heute: Nigeria. Aufstand islamistischer Gruppen erreicht neuen Höhepunkt

Von Simon Loidl *

Nigerias Politik drehte sich im vergangenen Jahr erneut vor allem um den Aufstand islamistischer Gruppen im Norden des Landes. Dabei war während der vergangenen Monate eine qualitative Veränderung zu beobachten. Nachdem die als »Boko Haram« bezeichnete Gruppierung seit ihrem Auftauchen vor etwa zehn Jahren vorwiegend durch spektakuläre Überfälle und Anschläge von sich reden gemacht hatte, begann im Lauf des Jahres 2014 eine regelrechte militärische Kampagne der Islamisten. Dutzende Dörfer und Städte wurden in den nördlichen Bundesstaaten angegriffen und teilweise eingenommen.

Derzeit kontrolliert die Gruppe Teile der Bundesstaaten Yobe, Borno und Adamawa, für die Präsident Goodluck Jonathan im Frühjahr 2013 den Notstand erklärt hatte. Seitdem ist das nigerianische Militär in den Konflikt involviert, was ihn weiter eskalieren ließ. »Boko Haram« operiert auch immer wieder jenseits der Grenze in Kamerun. Der spektakulärste Anschlag im Nachbarland Nigerias war ein Überfall auf das Haus des kamerunischen Vizepremiers Amadou Ali, bei dem dessen Ehefrau entführt wurde.

Von der Armee wurden territoriale Eroberungen durch die Gruppe zunächst geleugnet. Mittlerweile steht aber fest, dass mit der Eroberung von Gwoza im August dieses Jahres eine Wende in der Auseinandersetzung stattgefunden hat. Die Islamisten zeigten sich seitdem mehrmals in der Lage, sich mit der regulären Armee in direkter Konfrontation zu messen. Zwar gelang es den Sicherheitskräften immer wieder, Städte und Gebiete zurückzuerobern, dennoch dürften Ausrüstung und Organisationsgrad von »Boko Haram« 2014 auf ihrem bisherigen Höhepunkt angelangt sein. Zugleich gibt es immer wieder Meldungen über Desertionen nigerianischer Soldaten, die ihre Fahnenflucht mit der unzureichenden Ausrüstung für den Kampf gegen die Islamisten begründen. »Boko Haram« rückt vor

Die Gruppe finanziert ihren Kampf durch Raubüberfälle, militärische Ausrüstung übernimmt sie auch von fliehenden Armee-Einheiten. Zudem kamen einige im vergangenen Jahr veröffentlichte Untersuchungen zu dem Schluss, dass »Boko Haram« über Kontakte zu »Al-Qaida im Islamischen Maghreb« Zugang zu Geldquellen in Saudi-Arabien und Großbritannien haben dürfte.

Aber auch in Nigeria selbst gibt es nach Ansicht einiger Beobachter Finanziers des Aufstands. Hochrangige Lokalpolitiker unterstützen – auch nach Angaben von »Boko Haram« selbst – die Gruppe mit dem Kalkül, die Auseinandersetzung zwischen dieser und dem Staat zum eigenen Nutzen anzuheizen.

Der Konflikt spielt im laufenden Wahlkampf eine zentrale Rolle. Präsident Goodluck Jonathan, der sich im Februar 2015 erneut um das höchste Amt bewerben möchte, gerät zunehmend unter Druck. Politische Gegner, aber auch einstige Weggefährten, werfen ihm vor, über keine geeignete Strategie gegen »Boko Haram« zu verfügen.

Vor allem die Entführung von knapp 280 Schulmädchen in der Stadt Chibok im April machte das Versagen der politischen Führung Nigerias deutlich. Zunächst reagierte der Präsident kaum auf dieses ungeheuerliche Verbrechen und traf erst drei Monate nach der Entführung mit Angehörigen einiger Mädchen zusammen. Chibok rückte den Terror von »Boko Haram« auch ins Zentrum der weltweiten medialen Aufmerksamkeit. Unter dem Schlagwort »Bring back our girls« wurde das Thema im Internet diskutiert.

Michelle Obama, die Gattin des US-Präsidenten Barack Obama, zeigte sich als Fürsprecherin einer Kampagne, die ein weiteres Mal eine Intervention von außen als mögliche Lösung präsentierte. Bis heute sind mutmaßlich etwa 200 der entführten Kinder in der Gewalt von »Boko Haram« – die Organisation sprach von »Verheiratungen« der Mädchen.

Mitte Dezember kam es zu einer weiteren Massenentführung. In Gumsuri im Bundesstaat Borno wurden nach Berichten internationaler Medien erneut bis zu 200 Menschen von »Boko Haram«-Kämpfern entführt. Verhandlungen gescheitert?

Angesichts der Eskalation des Konflikts überraschten im Oktober Meldungen über eine angebliche Waffenruhe. Der Generalstabschef der nigerianischen Armee wandte sich an die Öffentlichkeit mit der Nachricht, dass es positive Verhandlungen gegeben habe und auch mit einer Freilassung der Schulmädchen aus Chibok zu rechnen sei.

Bereits wenige Stunden nach dieser Verlautbarung kam es zu neuen Anschlägen. Hintergrund der Meldung dürfte gewesen sein, dass es sich bei »Boko Haram« nach Einschätzung zahlreicher Experten längst nicht mehr um eine homogene Organisation handelt. Die diversen Einheiten agieren zum Teil in Eigenregie, hinzu kommen Auseinandersetzungen über die weitere Strategie. Diese Konflikte versuchten die Verhandler der nigerianischen, tschadischen und kamerunischen Regierungen auszunützen.

Ein kleiner Lichtblick bei diesen Unterredungen wurde sofort als Durchbruch präsentiert – ohne dass öffentlich bekannt wurde, wer seitens der Islamisten überhaupt am Verhandlungstisch saß. Wenige Tage später war von einer Waffenruhe keine Rede mehr, die Attacken von »Boko Haram« erreichten in den darauffolgenden Wochen sogar eine neue Qualität, es kam zu parallelen Anschlägen in mehreren Städten des Landes mit Dutzenden Toten. Der Versuch der Regierung, etwas von dem politischen und medialen Druck abzulassen, war gescheitert. Wirtschaft im Aufwind

Nigeria machte im vergangenen Jahr aber auch in anderen Bereichen Schlagzeilen. Das Land war vom Ebola-Ausbruch in Westafrika betroffen, konnte die Verbreitung der Seuche aber relativ rasch eindämmen. Am 20. Oktober erklärte die Weltgesundheitsorganisation die Epidemie in Nigeria für beendet, 20 Menschen hatten sich infiziert, von denen acht gestorben waren.

Im Frühjahr meldeten die Wirtschaftsteile der internationalen Medien, dass das Land Südafrika überholt habe und zur größten Volkswirtschaft des afrikanischen Kontinents aufgestiegen sei. Dies ergab sich aus neuen Daten der nigerianischen Statistiker, die auf ein größeres Bruttoinlandsprodukt schließen ließen als während der vergangenen Jahre errechnet wurde.

Die Euphorie über die neuen Kennzahlen blieb freilich gedämpft. Denn zum einen basiert das Wachstum der nigerianischen Ökonomie fast ausschließlich auf dem Export von Öl, das unter immensen ökologischen und sozialen Kosten gefördert wird. Zum anderen ändert der Status als größte afrikanische Volkswirtschaft nichts an der Armut großer Teile der Bevölkerung des Landes.

Präsident Jonathan schrieb nach Bekanntwerden der neuen Zahlen auf seiner Facebook-Seite, dass er diese Entwicklung »nicht feiern« könne, »bevor nicht alle Nigerianer die positiven Auswirkungen« spüren könnten. Nach wie vor würden »zu viele unserer Bürger in Armut« leben. Dass Jonathan in den Jahren seiner Präsidentschaft kaum Weichen in Richtung einer Veränderung gestellt hat, steht freilich auf einem anderen Blatt.

Neben dem Versagen im Kampf gegen »Boko Haram« sind Korruptionsvorwürfe und Tatenlosigkeit im Kampf gegen die soziale Ungleichheit die größten Bürden bei Jonathans Bemühungen um eine Wiederwahl im Februar. Immer wieder kommen dem Präsidenten auch Mitstreiter abhanden, die aus der regierenden »People’s Democratic Party« (PDP) austreten.

Die Wahlen 2015 werden eine Auseinandersetzung zwischen der PDP und dem »All Progressives Congress« (APC), einem Zusammenschluss der wichtigsten Oppositionsparteien. Als Spitzenkandidat des APC tritt neuerlich Muhammadu Buhari gegen Jonathan an – wie bereits bei den Wahlen 2011. Der 72jährige Buhari ist eine altbekannte Figur der politischen Geschichte Nigerias. Nach einem Militärputsch regierte er von 1983 bis 1985 das Land. Dass Buhari nun neuerlich als Hoffnungsträger der Opposition auftritt, zeigt vor allem, wie verkrustet das politische System Nigerias ist. Hoffnung auf einen grundlegenden Wandel dürften die Wahlen wohl bei den wenigsten Menschen auslösen.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 30. Dezember 2014


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