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Angeheizte Konfrontation

Unruhen in nigerianischer Provinz halten nach Anschlägen an. Bekennerschreiben aufgetaucht

Von Thomas Berger *

Nach den erneuten gewaltsamen Ausschreitungen, die nach mehreren Anschlägen in der nigerianischen Provinzhauptstadt Jos am Sonntag ausgebrochen sind, befürchtet Nigeria ein Übergreifen der Konflikte auf die Bundeshauptstadt Abuja. Die Regierung hat die dortigen Sicherheitsmaßnahmen bereits zu Wochenbeginn massiv aufgestockt. Das zuständige Ministerium hat 1000 zusätzlich Stellen geschaffen, die Polizei intensiviert ihre Überwachung sensibler Bereiche, wie die englischsprachige Tageszeitung Guardian berichtete.

Nach Agenturberichten hat sich am Dienstag eine muslimische Extremistengruppe zu den blutigen Anschlägen bekannt. Die Organisation erklärte sich demnach auf ihrer Webseite verantwortlich sowohl für die Kette von Bombenanschlägen in der Stadt Jos als auch für zwei Überfälle auf christliche Kirchen in der Stadt Maiduguri. Die Echtheit des Bekennerschreibens wird allerdings von der Polizei angezweifelt. Insgesamt 32 Menschen waren bei und nach den Anschlägen gestorben, 70 wurden verletzt. Zwei der Explosionen ereigneten sich in der Nähe eines Marktes, einer in einem christlichen Viertel, die vierte Bombe explodierte nahe einer Moschee.

Vizepräsident Namadi Sambo hat unterdessen seine geplante Tour nach Jos abgesagt. Die Regionalhauptstadt des Bundesstaates Plateau State, in dem sich die Konflikte konzentrieren, sei auch für ihn inzwischen zu gefährlich.

Der Plateau State liegt an der Trennlinie zwischen dem islamischen Norden und dem christlich dominierten Süden des bevölkerungsreichsten Landes Afrikas. Schon in den vergangenen Jahren kam es zu heftigen Zusammenstößen zwischen ethnischen Lagern. Nach einer scheinbaren Beruhigung der Lage kochte der Konflikt im März erneut hoch, in drei Dörfern rund um Jos wurden mindestens 100 Personen ermordet. Auch aktuell starben die Mehrzahl der bisherigen Todesopfer nicht bei der Explosionen, sondern bei den nachfolgenden Straßengefechten und »Racheakten«.

Das faktische geistliche Oberhaupt der nigerianischen Muslime, Sultan Alhaji Sa’ad Abubakar, rief derweil zur Ruhe auf und machte die Führungsschwäche der Regierung für die Eskalation mitverantwortlich. Ein wunder Punkt: Der Einfluß der politischen Führung ist erodiert, der amtierende Präsident Goodluck Jonathan ist noch schwächer als seine Vorgänger. Er hatte den im Mai nach einer langen Erkrankung verstorbenen Yar’Adua abgelöst.

Das Jahr 2011 könnte für Nigeria, wo weit mehr als 100 Ethnien leben, die Entscheidung über einen gesamtstaatlichen Fortbestand bringen. Der Konflikt, der zunehmend auf ethnischer und religiöser Ebene ausgetragen wird, ist so­zial und politisch begründet. Der Kampf um regionale Dominanz oder das Ende langjähriger Benachteiligung einzelner Gruppen bilden den Nährboden für die jeweiligen Auseinandersetzungen. Es gärt im Norden, wo in den Bundesstaaten die Scharia-Gesetzgebung eingeführt wurde, sowie im südlichen Nigerdelta, wo sich die Ölförderung konzentriert. Nigeria krankt an einer großen sozialen Kluft, massiver Umweltzerstörung, der Willkür staatlicher Akteure, ausländischer Konzerne und radikaler Gruppen sowie einer ausufernden Korruption

* Aus: junge Welt, 29. Dezember 2010


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