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Der Shell-Konzern ist schuldig

Nnimmo Bassey über die Lage im nigerianischen Nigerdelta 18 Jahre nach der Ermordung Ken Saro-Wiwas *


Dr. Nnimmo Bassey ist Architekt, Dichter und Umweltaktivist. Bis 2011 war er Vorstandsvorsitzender der größten nigerianischen Umweltschutzorganisation »Environmental Rights Action«. Bassey erhielt 2010 den alternativen Nobelpreis und 2012 den Thorolf-Rafto-Gedenkpreis für sein Engagement für Menschenrechte und Umweltschutz. Mit ihm sprach für »nd« Peter Emorinken-Donatus.


Vor 18 Jahren ließ das damalige Militärregime Nigerias den Schriftsteller und Menschenrechtler Ken Saro-Wiwa und acht seiner Mitstreiter erhängen. Das Militär ist seit 1999 nicht mehr an der Macht. Hat das im Nigerdelta etwas geändert?

Wenig bis nichts. Einige Monate nach der Machtübergabe wurde ein ganzes Dorf namens Odi im Nigerdelta von Militärs überfallen und zerstört. Über 2000 Menschen wurden getötet – unter einer zivilen Regierung. Die Unterdrückung und Ausbeutung der Menschen im Nigerdelta durch das Militär setzt sich fort, trotz Demokratie.

Es gibt leider keine Verbesserung bei der Verwüstung der Umwelt durch multinationale Ölkonzerne, wie Shell. Im Gegenteil: Die Lage ist sogar prekärer geworden als vor ein paar Jahren. Da der Staat Nigeria in höchstem Maße von Devisen aus dem Erdölgeschäft abhängig ist, versuchen Politiker und Militärs, den Ölsektor mit aller Macht zu verteidigen, um Einnahmeausfällen zu entgehen. Solange diese Abhängigkeit besteht, wird es keine Verbesserung der Lage im Nigerdelta geben. Ich gebe zu, dass einige wenige Fortschritte in manchen Bereichen erzielt worden sind. Diese Fortschritte sind jedoch so minimal, dass man von einer dramatischen Verbesserung der Lage nicht sprechen kann.

Welche Fortschritte meinen Sie?

Das Thema Umwelt ist ein umfänglicher nationaler Diskurs geworden. Dies ist ein signifikanter Sinneswandel. Die Einwohner haben gelernt, die Umweltschäden selbst zu beobachten und zu melden. Bei möglichen Entschädigungsansprüchen bestehen sie auf einer gemeinsamen Inspektion mit Ölfirmen und wollen Dokumente nicht mehr einfach so unterschreiben. Die Menschen sind durchsetzungsfähiger geworden, was ihre Rechte angeht. Früher haben sich die verschiedenen Völker im Nigerdelta gegenseitig bekämpft. Heute haben sie begriffen, dass sie einen gemeinsamen Feind haben, der ihre Umwelt und ihre Gesundheit zerstört. Solcher Sinneswandel zeigt den multinationalen Konzernen, dass das Spiel vorbei ist; dass sie sich nun mit der Situation auseinandersetzen müssen. Ja, es gibt diese minimalen aber kaum erkennbaren Verbesserungen.

Die Hinrichtung Ken Saro-Wiwas und der anderen Aktivisten war ein Verbrechen gegen die Menschheit. Ökozid ist zwar derzeit kein Völkerrechtsverbrechen, dennoch kriminell. Wurden die Täter für diese Verbrechen zur Rechenschaft gezogen? Gab es bis jetzt irgendwelche Konsequenzen?

Im Nigerdelta gibt es zwei Arten von Reaktionen auf die Verbrechen, die Sie genannt haben – die gewaltfreien Reaktionen und natürlich das Gegenteil. Gerichtsprozesse sind eines der wichtigsten gewaltfreien Instrumente. Diverse Prozesse werden diesbezüglich geführt, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene. Viele Kommunen im Nigerdelta haben die Ölkonzerne und den Staat verklagt und fordern Entschädigung für die Schäden an ihrer Umwelt. Diese Schäden sind keinesfalls gering. In Ebubu-Ejama im Ogoniland ist eine 43 Jahre alte Ölpest immer noch nicht beseitigt. Man kann sie immer noch deutlich sehen; man kann sie sogar noch riechen.

Aber in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen, zum Beispiel im Falle Saro-Wiwas und der anderen Ogoni, gab es eine Klage gegen Shell vor einem New Yorker Gericht, die mit einem außergerichtlichen Vergleich endete. Shell zahlte mehr als 15 Millionen Dollar an die Hinterbliebenen der Hingerichteten, um einer riesigen Blamage zu entgehen.

Auch in den Niederlanden gab es jüngst ein Gerichtsurteil gegen den Shell-Konzern. Ist das nicht ein unverkennbares Zeichen der Schuld des Ölkonzerns Shell?

Das wollte ich Ihnen gerade erzählen. Das ist das jüngste Urteil 2013. Vier Bauern aus dem Nigerdelta hatten den Shell-Konzern vor einem niederländischen Gericht wegen der Verseuchung ihres Landes und der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen verklagt. Shell wurde in einem Fall für schuldig befunden. Die Tatsache, dass Shell keine Berufung eingelegt hat, zeigt, dass der Konzern schuldig ist. Shell hat den Vorwurf der Komplizenschaft also auch akzeptiert. Während ich mit ihnen jetzt spreche, haben sich diverse Organisationen von Fischern in den Ölgebieten Nigerias zusammengeschlossen und bereiten gemeinsam eine Klagewelle vor. Die Konzerne können sich nicht mehr verstecken. Sie müssen nur einfach handeln – oder das Land verlassen.

Warum wurden die Machenschaften der Konzerne in Nigeria bis jetzt geduldet? Gibt es im Lande keine Gesetze, die die rücksichtlosen Ölförderaktivitäten unterbinden?

Natürlich gibt es Gesetze, die die Umwelt und den Ölsektor regulieren sollten, aber die Konzerne nutzen Schlupflöcher aus. Der Staat ist ein großer Anteilseigner an allen Ölunternehmen in Nigeria. Die Ölfirmen besitzen jedoch die Förderanlagen, bestimmen die operative Tätigkeit im Alleingang und haben so das Heft in der Hand. Wir haben deswegen eine sehr problematische Situation, in der ein Mitangeklagter auch der Richter ist. Zum Beispiel: Nach dem Gesetz muss das Begleitgas weiterverwendet oder in das Bohrloch zurückgepresst werden. Aber das Abfackeln von Gas ist seit über 50 Jahren Routine. Während ich mit Ihnen spreche, wird Gas im Wert von 2 Milliarden US-Dollar in die Atmosphäre freigesetzt, das die Luft stark verschmutzt, die Menschen vergiftet und Ressourcen vernichtet. Das ist ein riesiges Problem.

Ken Saro-Wiwa warf den Konzernen Shell und Chevron Rassismus vor, weil sie sich in Nigeria Praktiken erlauben, die in ihren jeweiligen Herkunftsländern im Westen strengstens verboten sind. Stimmen Sie dieser Logik auch zu?

Ja. Es ist hinreichend dokumentiert worden, dass die operativen Standards der Ölkonzerne in Nigeria anders sind als international erlaubt. Der Bericht des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) von 2011 zeigt, dass Shells Aktivitäten in Nigeria gegen internationale Umweltnormen verstoßen. Der Konzern hält sich weder an die nigerianischen Vorschriften zum Schutz der Umwelt noch an seine eigenen operativen Standards.

Es gibt ständig Berichte über Sabotageakte gegen Anlagen der Ölfirmen, illegale Raffinerien, ethnische Auseinandersetzungen und andere Gewalt.

Die Gewalt im Nigerdelta hat ihre Geschichte. Es gab bereits Anfang der 1960er Jahren im heutigen Bundesstaat Bayelsa einen Aufstand, geführt von einem gewissen Isaac Adaka Boro. Er war der Kopf einer bewaffneten Rebellion, die die totale Kontrolle über ihre Ressourcen haben wollte. Es ist lange Zeit her. Danach war diese Region relativ ruhig, weil man glaubte, der Staat würde die Umwelt- und sozialen Probleme lösen. Aber der Staat hatte wiedermal versagt. Man hat die Menschen mit ihren Problemen und Sorgen allein gelassen. Dann wandten sich die Menschen ab Anfang der 90er Jahren an die Ölkonzerne, mit der Hoffnung, dass sie sich ändern und ihnen helfen würden. Die Konzerne haben nicht geholfen. Sie haben ein System aufgebaut, das die gewalttätigen Reaktionen schürt. Gewalt löst aber keine Probleme. Gewalttätige Reaktionen verschlimmern die Probleme, verschärfen die Krise. Sie erregen nur die Aufmerksamkeit des Staates, mehr nicht.

Wie kann Nigeria aus diesem Teufelskreis herauskommen?

Wir brauchen die globale Solidarität, um die destruktiven Kräfte der Umweltsünder zu bekämpfen. Weil diese transnationalen Konzerne aus dem globalen Norden stammen, wäre die Unterstützung und Solidarität der deutschen Gesellschaft sehr hilfreich.

Es gibt zum Beispiel eine Unterschriftenaktion der deutschen Sektion von »Friends of the Earth«, in Deutschland als BUND bekannt, die man unterstützen sollte. Diverse Regierungen Europas, wie die Niederlande und Norwegen, haben Aktien solcher Konzerne wie Shell. Die Erlöse dieser Aktien gehen in der Regel in die Pensionsfonds dieser Staaten. Um den Druck auf diese Konzerne zu erhöhen, müssen europäische Staaten ihre Aktien dieser Konzerne zurückgeben. Auch da können die Deutschen helfen. Denn: Die Konzerne verstehen nur die Logik des Geldes. Eine Zusammenarbeit zwischen deutschen und nigerianischen Fischern wäre auch sehr hilfreich. Nur so können die deutschen Fischer die prekäre Lage ihrer Kollegen im Nigerdelta zum Beispiel besser verstehen.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 24. Dezember 2013


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