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Der kranke Mann vom Nigerdelta

Gefährliches Machtvakuum in Afrikas bevölkerungsreichstem Staat

Von Marc Engelhardt, Abuja *

Weil Präsident Yar'Adua krank im Ausland weilt, herrscht in Afrikas bevölkerungsreichstem Staat Nigeria ein olitischen Vakuum. Ein Netzwerk von etwa 50 militanten Gruppen im Nigerdelta hat mit neuer Gewalt gedroht. Sollte Vizepräsident Jonathan nicht bald als amtierender Präsident vereidigt werden, will das »Netzwerk der Freiheitskämpfer« den Kampf aufnehmen. Auch Regionalfürsten verlangen, Jonathan mit allen Vollmachten auszustatten.

Auch am sechsundsiebzigsten Tag nach der Abreise des nigerianischen Präsidenten Umaru Yar'Adua blieb die von den Blicken der Öffentlichkeit streng abgeschirmte Präsidentenvilla leer. Der 58-Jährige, der wegen einer Herzbeutelentzündung in Saudi-Arabien behandelt wird, ist in Nigeria nur noch auf Karikaturen zu sehen. Auf einer stehen Ärzte wartend hinter einer Runde alter Männer, die sich um den auf dem Krankenbett liegenden und offensichtlich bewusstlosen Yar'Adua versammelt haben: »Wir müssen mit der Visite wohl warten, bis die Kabinettssitzung vorbei ist«, flüstert ein Arzt dem anderen zu.

Hinter der beißenden Satire steht die bittere Realität. Nigeria, mit 140 Millionen Einwohnern Afrikas bevölkerungsreichste Nation, steckt in einer tiefen Regierungskrise, wie sie das Land seit Ende des Abacha-Regimes - General Sani Abacha war Nigerias Militärmachthaber von 1993 bis zu seinem Tode 1998 - nicht mehr erlebt hat. Kaum ein Nigerianer glaubt, dass der schon seit langem kränkliche Yar'Adua noch in der Lage ist, das Land zu führen. Dennoch will er die Macht nicht an seinen Vize Goodluck Jonathan übergeben.

Während Bürger protestieren und Gerichte widersprüchliche Urteile fällen, hat Nigerias Kabinett dem Regierungschef wiederholt das Vertrauen ausgesprochen. Kenner der politischen Szene in der Hauptstadt Abuja machen dafür zwei Gründe aus: die Sicherung der Pfründe bis zu den für kommendes Jahr geplanten Wahlen und den Einfluss der politischen Elite aus dem muslimisch geprägten Norden Nigerias, die keinem Christen aus dem Süden - wie Jonathan es ist - die Nachfolge Yar'Aduas überlassen will.

»Yar'Aduas Unterstützer wollen vor allem sich selber helfen«, bilanziert Auwal Mussa Ibrahim, Direktor von CISLAC, einem Lobbyverbund zivilgesellschaftlicher Gruppen in Abuja. »Es gibt eine Kabale rund um den Präsidenten, bei der man sich um das Volk einen Dreck schert.« Ibrahim kritisiert vor allem, dass seit Yar'Aduas Abreise kein einziges politisches Projekt vorangekommen sei. »Es gibt ein Kabinett, es gibt ein Parlament - die Arbeit könnte weitergehen, aber stattdessen herrscht Stillstand.«

Dieser Stillstand kommt Nigeria bereits teuer zu stehen. Die von Yar'Adua gegen große Widerstände beschlossene Waffenruhe mit Rebellen im Nigerdelta, kombiniert mit einer Amnestie, wurde von der »Bewegung für die Emanzipation des Nigerdeltas« (MEND) bereits aufgekündigt. Die Regierung hatte zugesagte Verhandlungen ohne Angabe von Gründen platzen lassen, vereinbarte Zahlungen an die ehemaligen Rebellen blieben aus. Erstmals hat MEND angekündigt, auch außerhalb der Ölregionen Anschläge zu verüben, um der Forderung nach Beteiligung an den Millionengewinnen Nachdruck zu verleihen. Der Ölmulti Shell musste schon Stunden nach der MEND-Erklärung die Ölförderung drosseln, nachdem angeblich Sympathisanten der Bewegung eine Pipeline beschädigt hatten.

Ein zweiter Brandherd schwelt im Zentrum Nigerias, wo vor zwei Wochen mehr als 550 Menschen bei Unruhen zwischen muslimischen und christlichen Milizen ums Leben gekommen waren. Jetzt meldete sich »Al Qaida im Islamischen Maghreb« zu Wort: Man sei bereit, die nigerianischen Brüder und Schwestern zu trainieren und mit Waffen auszurüsten, heißt es in einer Erklärung im Internet, die von einem der Anführer der Gruppe unterzeichnet ist.

Diplomaten in Abuja halten die Botschaft für authentisch. Und auch der Chef der islamischen Ansarudeen-Bewegung, Abdulrahman Ahmad, der eine Al-Qaida-Präsenz im Norden Nigerias zurückweist, warnt: »Unsere Sicherheitskräfte erledigen nicht ihren Job, Leben und Besitz der Nigerianer zu schützen.« Ahmad fordert wie viele Kritiker der Regierung mehr Engagement gegen Arbeitslosigkeit und Armut.

Doch das ist nicht in Sicht, auch nicht bei Alltagsproblemen. Nigerianer ärgern sich in diesen Tagen etwa darüber, dass sie stundenlang an den staatlichen Tankstellen anstehen müssen. »Wir sind Afrikas größter Ölproduzent und haben dennoch kein Benzin«, ereifert sich Taxiunternehmer Gideon Bello. »Seit Abachas Zeiten habe ich so etwas nicht mehr gesehen.«

* Aus: Neues Deutschland, 9. Februar 2010


Erleichterung **

»Es ist eine große Erleichterung, dass Goodluck Jonathan jetzt amtierender Präsident ist«, sagte gestern Abel Oshevire, Abgeordneter im Delta-Bundesstaat, und spricht damit vielen Nigerianern aus der Seele. Die Antrittsrede war typisch für den Mann mit Hut, der sich seit Beginn der Regierungskrise Ende November stets im Hintergrund hielt. Am Dienstag übernahm dann der bisherige Vizepräsident das Amt des Staatschefs. In Demut, wie er bekannte. »Mehr als je zuvor bitte ich alle gottesfürchtigen Nigerianer, für die vollständige Erholung und baldige Rückkehr unseres geehrten Präsidenten zu beten«, sagte Jonathan in seiner ersten Fernsehansprache. Niemand soll behaupten, der 52-jährige Sohn eines Bootsbauers habe die Krankheit von Umaru Yar'Adua genutzt, um sich an die Macht zu putschen. Im bevölkerungsreichsten Staat Afrikas prägen Machtpoker und Korruption die Politik.

Als erster Staatschef entstammt Jonathan einer der ethnischen Minderheiten des Vielvölkerstaates. Er ist ein Ijaw aus dem ölreichen Niger-Delta im Süden. Dabei scheint es, als sei sein Aufstieg in der Politik eher mit ihm geschehen, als dass er ihn selbst befördert hätte. Der promovierte Zoologe rückte 2005 als Gouverneur des Bundesstaates Bayelsa nur deshalb nach, weil der Amtsinhaber wegen Geldwäsche in London verhaftet worden war. Schon zwei Jahre später berief ihn der damalige Präsident Olusegun Obasanjo, ebenfalls ein Christ aus dem Landessüden, zum Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten. In seiner Demokratischen Volkspartei verfügt er zwar über keine Hausmacht. Doch konnten sich die Flügel nicht einigen, und so landete er an der Seite Yar'Aduas, Spross einer einflussreichen muslimischen Politikerfamilie aus dem Norden.

Kritiker halten Jonathan Unerfahrenheit vor. Doch hinter der bedächtigen Fassade steckt zweifellos ein geschickter Strippenzieher. Nach Monaten des Stillstands hat er nun ein umfangreiches Arbeitsprogramm vor sich: Die Lösung der Krise im ölreichen Niger-Delta, die Aufklärung der Unruhen in Zentralnigeria und schließlich der Kampf gegen die endemische Korruption gehörten zu seinen wichtigsten Aufgaben, betonte Jonathan jetzt in seiner Erklärung.

Marc Engelhardt, Nairobi

** Aus: Neues Deutschland, 11. Februar 2010


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