Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ein Land am Ende

Nigerias Herrschaftsstrukturen werden von Militär und Polizei aufrechterhalten

Von Raoul Wilsterer *

Nein, eine Kirche sei nicht angegriffen worden, erklärte zu Wochenbeginn Ignatius Ayau Kaigama. Der Erzbischof der im nördlichen Zentral-Nigeria gelegenen Provinzhauptstadt Jos widersprach damit Medienberichten über einen »Religionskrieg« in der Region. Um einen solchen handele es sich nicht. Vielmehr gehe es bei den Kämpfen um die »politische Kontrolle« über Jos. Insgesamt seien die Gründe für die Kämpfe, denen in der vergangenen Wochen unbestätigten Meldungen zufolge bis zu 550 Menschen zum Opfer fielen, komplex, so der Kirchenmann.

Desolater Zustand

Kaigama hat insofern recht, als daß sich Nigeria insgesamt – nicht nur Jos als imaginärer Grenzort unterschiedlicher Ethnien und Religionen – im Zerfallsstadium befindet. Noch kann mit militärischer Gewalt ein definitives Auseinanderbrechen des Landes verhindert werden, doch sind die Anzeichen dafür längst überdeutlich. Im Staat herrschen Korruption und Amtsmißbrauch und die – bisher zuverlässige – Armee und Polizei. Die Gesellschaft ist zerrissen von unendlichen Gegensätzen zwischen einer überreichen Elite und 70 Prozent der Bevölkerung, die mit einem Dollar pro Tag auskommen müssen. Das föderale System existiert nicht mehr. Nigeria besteht aus der Hauptstadt Abuja als Zentrum und dem im Elend versinkenden Rest des Riesenlands inklusive der Riesenstadt Lagos mit seinen verzweifelten Bewohnern, den Elektroschrottbergen und den verelendeten Vierteln.

Der desolate Zustand Nigerias muß insbesondere den Westen beunruhigen, der in den vergangenen Jahrzehnten seine Paten im Land üppig bezahlte. Seit der Unabhängigkeit 1960 kassierten die Statthalter über 350 Milliarden Dollar aus dem Ölgeschäft. Zugleich floß eine ähnlich große Summe in die Taschen der niederländischen und britischen Ölkonzerne – und die Weltbank steuerte noch einmal zwei Milliarden Dollar jährlich für die Festigung der Herrschaftsverhältnisse bei.

Das achtgrößte Ölförderland der Erde befindet sich unter den weltweit zehn ärmsten Ländern – da ist die Furcht vor Aufständen nicht unberechtigt. Wie im Nigerdelta, aus dem unter anderem Shell und Exxon den Reichtum abschöpfen: Dort erpreßten sich über lange Jahre bewaffnet auftretende Gruppen von den Ölkonzernen dutzendfache Millionenbeträge durch Entführungen und Attacken auf Förderanlagen. Nicht nur diese stellen eine ständige Bedrohung für die westlichen Investitionen dar, sondern vor allem auch eine mobile Gewerkschaftsbewegung.

Ausbeutung gesichert

In der Vergangenheit gelang es allerdings stets, über die politsche und militärische Zentralgewalt in der Hauptstadt Abuja die supergünstigen Konditionen für die Ausbeutung des schwarzen Goldes zu sichern. Ein spezielles Vertragswerk (production sharing agreement) sichert eine besondere Profitträchtigkeit. 2007 beispielsweise erzielte der britische Firmenzweig von Shell einen Gewinn von 31 Milliarden Dollar – und das ausschließlich aus Exporten von Rohöl. Veredelt werden können die flüssigen Bodenschätze nicht im Land selbst. Alle drei Raffinerien befinden sich außer Betrieb. Reparaturmaßnahmen scheiterten. Wahrscheinlich versickerten die angeblich hierfür investierten eine Milliarde Dollar in dunklen Kanälen. Ob auch die Polizei davon abbekam, die ansonsten an Hunderten Checkpoints Passanten abkassiert, ist nicht bekannt.

Nunmehr geht im nigerianischen Bundesstaat Plateau und dessen Provinzhauptstadt Jos die Angst um. Dort hat die Polizei infolge der jüngsten Auseinandersetzungen mehr als 300 »Verdächtige« festgenommen. Von ihnen seien 129 nach Abuja gebracht worden, hieß es. Die Verlegung der Verdächtigen weckte »Befürchtungen, die Betroffenen könnten straflos ausgehen«, so die Agentur AFP (25.1.). »Jedes Mal, wenn es hier Gewalt gibt, werden die Verdächtigen nach Abuja gebracht, ihre Akten verschwinden, und sie werden nicht verfolgt«, sagte ein Vertreter der Regierung von Plateau, der anonym bleiben wollte. Dazu paßt, daß zu Wochenbeginn Fragen auftauchten: Es seien Waffen eingesetzt worden, »von denen wir nicht wissen, woher sie stammen«, erklärte Erzbischoß Kaigama. Und sein muslimischer Kollege, der Iman Scheich Ahmed Bala Mohammed Bala, berichtete von Beteiligten in Polizei- und Armeeuniformen: »Diese wurden festgenommen, und bis jetzt kann uns niemand sagen, was aus ihnen wurde.« Das sollte nun endlich geschehen, forderte der Geistliche. Denn wenn diese freikämen, »dann ist das Land am Ende«.

* Aus: junge Welt, 28. Januar 2010


Zurück zur Nigeria-Seite

Zurück zur Homepage