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Nigerias Süden in Aufruhr

Ijaw gegen Chevron, Shell und die Itsekiri

Von Ruedi Küng, Nairobi *

Paul Obaro Akporowho spricht mit weicher Stimme und in bestem Englisch. Er ist Anführer einer Jugendgruppe des Ijaw-Volkes im Nigerdelta. «In den vierzig Jahren, in denen hier im Nigerdelta Öl gefördert wird, sind die Leute so ungemein marginalisiert worden, dass man es kaum glauben kann. Ihre Felder sind verseucht, und mehr als neunzig Prozent des Wassers, das sie trinken, ist kein Trinkwasser. Wir Jungen aber, die eine Ausbildung haben, fangen an, zu erkennen, dass diese Probleme von der Erdölproduktion herrühren und von der Vernachlässigung der Region. Der einzige Ausweg, der uns zum Überleben bleibt, ist der Kampf.» Das war vor vier Jahren. Heute verkündet ein Sprecher des Ijaw-Volkes, der seinen Namen nicht bekannt geben will, sie hätten Chevron, Shell und die anderen Erdölfirmen aufgefordert, alle Mitarbeiter von den Förderanlagen abzuziehen. Sollte die Regierung mit Polizei oder Militär gegen die Ijaw vorgehen und ihre Dörfer angreifen, würden sie die Pumpstationen in Brand stecken. Und wenn sie nicht auf ihre politischen Forderungen einginge, machten sie die Region unregierbar.

Die beiden Erdölmultis und auch TotalFinaElf evakuierten darauf ihre Arbeiter. Die nigerianische Produktion ging um über 300 000 Fass pro Tag zurück, das sind fünfzehn Prozent der gesamten Förderung. Nigeria ist das grösste Erdölland Afrikas, sechstgrösster Produzent der Welt und in grossem Mass vom Erdölexport abhängig. ChevronTexaco evakuierte mit Helikoptern nicht nur Personal, sondern auch hunderte von DorfbewohnerInnen. Diese suchten den gewalttätigen Auseinandersetzungen zu entkommen, denn die Ijaw-Milizen attackierten zuerst die Volksgruppe der Itsekiri und deren Dörfer. Dabei gingen sie nach Augenzeugenberichten mit grösster Brutalität vor – nicht zum ersten Mal. Die Ijaw fühlen sich gegenüber den Itsekiri benachteiligt. Die Wahlkreise bevorzugten die Itsekiri, klagen sie, und erlaubten den Ijaw keine angemessene Vertretung in den politischen Gremien. Die aber sei nötig, um Geld für die Entwicklung ihres Gebietes zu erhalten. Für eine neue Festlegung der Wahlkreise dürfte es drei Wochen vor den Regional-, Parlaments- und Präsidentenwahlen in Nigeria allerdings zu spät sein.

Angesichts der Gewalteskalation entsandte Präsident Olusegun Obasanjo, der vor vier Jahren durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen war, Truppen ins Unruhegebiet um die Provinzstadt Warri. Sie sollen den Ijaw-Milizen an Gewalt nicht nachgestanden sein und schiessend und brandschatzend die Dorfgemeinschaften terrorisiert haben. Das Militär bestreitet diese Vorwürfe und weist darauf hin, bis zum Wochenende seien mindestens zehn Soldaten getötet worden. In ihrem Zorn über den Militäreinsatz gingen die Ijaw-Milizen gegen die Erdölförderstationen vor und verlangten deren Stilllegung, um so die Regierung zum Nachgeben zu bewegen. Diese Strategie hat vor zehn Jahren schon das Ogoni-Volk angewandt, als es mit drastischen Aktionen den niederländisch-britischen Erdölmulti Shell zum Einstellen der Erdölförderung nötigte, trotz massiver Repression der damaligen Militärdiktatur. General Sani Abacha liess 1995 den Ogoni-Aktivisten Ken Saro-Wiwa und acht seiner Mitstreiter hängen. Bis heute stehen die Ölpumpen im Ogoni-Land still.

Mit rund tausend Soldaten, einer Ausgangssperre und verschärften Patrouillen mit Schnellbooten in den Flussarmen des Nigerdeltas hat die Regierung mittlerweile die Situation in der Umgebung von Warri etwas beruhigen können. Das Erdölgebiet im Süden Nigerias ist tropisches Sumpfland mit unzähligen Flussläufen und Wasserarmen. Es ist fast doppelt so gross wie die Schweiz. Weil das Erdöl keinen zusammenhängenden, unterirdischen See bildet, sondern in über tausend Kavernen nicht sehr tief unter der Erdoberfläche lagert, gibt es ebenso viele Förderstationen verstreut über das ganze Delta. Ein Teil des Erdöls und des Erdgases wird vor der Küste gefördert. Es wird dank seiner ausgezeichneten Qualität von den USA, die den grössten Teil davon beziehen, «sweet crude» genannt.

Die BewohnerInnen des Deltas allerdings verbinden mit ihm kaum süsse Eigenschaften. Das Öl fliesst in unzähligen beindicken Rohren kreuz und quer durch Landschaft und Dörfer, an Häusern und Hütten vorbei, Wegen und Naturstrassen entlang. Durch die Rohre gelangt es zu «Flowstations», Sammelstellen, von wo es in dicken Pipelines weggepumpt wird. Die Installationen sind alt. Die Ölfirmen zerstörten die Umwelt, schimpfte Nengj James, ein Anführer der Ijaw-Jugend, vor vier Jahren. Das Nigerdelta sei an zahlreichen Stellen mit ausgelaufenem Öl verseucht, gesäubert werde nichts. Die Ölfirmen beschuldigten die Jugendlichen, sie sabotierten die Anlagen. Doch die Rohre rosteten, sagte Nengj, es laufe ständig Öl aus. Und dann rede man von Sabotage.

Ganz unschuldig sind die DeltabewohnerInnen sicher nicht. Sie haben wiederholt Rohre angezapft. Dabei ist es bei Pipelines, durch die nicht Rohöl, sondern Benzin aus dem Delta in den Norden gepumpt wird, zu grauenhaften Bränden gekommen. Ijaw-Jugendliche sind schon in Produktionsanlagen eingedrungen, haben mit genauer Kenntnis die richtigen Regler zugedreht und die Ölförderung unterbrochen. Sie haben ausländische Fachleute entführt und Lösegeld für deren Freilassung verlangt.

Der Gewinn, den Nigeria aus dem Erdölexport erziele, sei für sie ausser Reichweite, lamentieren die Ijaw-AktivistInnen. Denn unter der Militärherrschaft der Haussa gelangte der Löwenanteil der Öleinnahmen in den Norden, was man der Infrastruktur dort immer noch ansieht; der Süden dagegen blieb fast völlig unterentwickelt. Daran hat sich auch unter Präsident Obasanjo nicht viel geändert. Es könne sich auch gar nicht viel ändern, rechnete kürzlich US-Ökonom Jeffrey Sachs vor. Bei einem durchschnittlichen Preis von 25 US-Dollar pro Fass nehme Nigeria täglich 50 Millionen Dollar ein, abzüglich der Produktionskosten blieben 30 Millionen, das mache pro NigerianerIn ganze 25 Cents im Tag. So führen die Völker Nigerias weiter einen harten Kampf um die Erdöleinnahmen – auch gegeneinander, wie im Fall der Ijaw und Itsekiri.

* Aus: Schweizer Wochenzeitung WoZ, 27. März 2003


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