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Wechselstimmung in Kiwi-Land

Von einer abgewirtschafteten Regierung und den bescheidenen Bemühungen um eine neue linke Sammlungsbewegung. Wahlkampfimpressionen aus Neuseeland

Von Thomas Berger *

Über Auckland spannt sich ein blauer Frühlingshimmel. Der Verkehr wälzt sich eher träge durch die Straßen der mit über 400 000 Einwohnern größten Stadt Neuselands. Und auch in der Queen Street, die sich quer durch die City zieht und am Fährhafen endet und in der sich eine Bank an die andere reiht, ist nichts Außergewöhnliches bemerkbar. Kein Hauch von Wahlkampf. Dabei sollen die »Kiwis«, wie sich die Bewohner der beiden großen ozeanischen Inseln nach dem National- und Wappentier selbst nennen, in zwei Wochen über ein neues Parlament abstimmen.

Längs der »Königinstraße« – Neuseeland gehört dem Comonwealth an und Queen Elisabeth II. ist im Rahmen der parlamentarischen Demokratie das offizielle Staatsoberhaupt – befindet sich das Geschäftsviertel der Stadt. Wer es sich als Firma leisten kann, sitzt hier oder in den abzweigenden Straßenzügen. Die Gebäude streben in den Himmel, zehn oder gar 20 Stockwerke hoch, während einige der historischen Bauten mit ihren traditionell kaum mehr als zwei oder drei Etagen sich geradezu verschämt in deren Schatten ducken. Viel Glas haben die Schöpfer den Fassaden der neuzeitlichen Bürohochhäuser verpaßt, auf daß sich das eine im anderen spiegeln kann.

Über allem thront der Skytower, der besondere Stolz aller Aucklander. Zwei Jahre und neun Monate haben die Arbeiter einst an ihm gebaut, bis er 1997 feierlich eröffnet wurde: Das höchste Gebäude der südlichen Hemisphäre, mit 328 Meter höher als der Eiffelturm und auch dessen Gegenstück im australischen Sydney. 25 Neuseeland-Dollar (12,50 Euro) kostet eine Fahrt auf die Aussichtsplattform, noch einmal drei der Zutritt zum höchsten Deck. Der Ausblick ist grandios, und die warmen Sonnenstrahlen vertreiben trübe Alltagsgedanken – garantiert! Dabei schlägt sich die Inselnation mit allerlei sozialen und ökonomischen Probleme herum. Mit einigen seit langem, andere haben sich erst im Zuge der globalen Finanzkrise entwickelt oder verschärfen zumindest die Lage.

Bettelalltag

Etwa anderthalb Kilometer Luftlinie entfernt wird die Queen Street von der »Karangahape« gekreuzt, die das ziemliche Gegenstück zur Nobelmeile darstellt. In der »K’Street«, wie sie oft nur genannt wird, leben vor allem viele Polynesier, aber auch andere Ausländer, und Maori. Zwar gibt es ein paar flippige Geschäfte und Restaurants, doch überwiegen die deutlichen Zeichen des Verfalls und der Trostlosigkeit. Ein alter Mann mit strähnigen grauen Haaren und speckigem Pullover sitzt auf einer Bank und beißt in ein belegtes Brötchen, sein Freund bückt sich nach etwas, das für ihn noch Wert haben könnte.

Es sind Menschen, die am Rande der neuseeländischen Gesellschaft leben und die zeigen, daß es im einst vielgerühmten »Wohlfahrtsstaat« inzwischen eine Menge Verlierer gibt. Die Löcher im sozialen Netz sind größer geworden, seit der erste neoliberale Politikschwenk zu Beginn der neunziger Jahre mit Privatisierung und Sozialabbau schmerzhaft vor allem die Armen unter den vier Millionen Inselbewohnern traf – aber auch zusehends Teile der Mittelschichten massiv verunsicherte. Und nun die aktuellen Börsenturbulenzen weltweit: Man werde zukünftig kürzer treten müssen, proklamieren selbst die Parteien – und die wollen schließlich gewählt werden.

Ein Inder für Arbeit

Ravi, der den Kinderwagen mit seiner Tochter drin schiebt, ist nicht wahlberechtigt. Seit einem Jahr lebt der 34jährige Inder jetzt in Auckland und will sich gern für immer niederlassen. Das geht aber nur, wenn er einen guten Job bekommt oder seinen jetzigen bei Vodafone behält. Doch der ist befristet. So oder so hat er hier allemal bessere Aussichten als in seiner Heimatstadt Mumbai.

Es gibt viele Menschen wie ihn, Arbeitsimmigranten genannt. Nicht alle Einheimischen mögen sie. Ausländerfeindlichkeit gehört zum Wahlkampf, und die konservative Partei New Zealand First (NZFP) bläst einmal mehr zur rassistischen Attacke. Einwanderung war schon früher ihr populistisches Lieblingsthema. Und auch jetzt sind die Medien voll von dem Vorstoß des rechten Juniorpartners von Labour im Kabinett. Die Zahl der Migranten sei drastisch zu senken. Die NZFP versucht abzulenken, ist schwer angeschlagen durch einen Spendenskandal um ihren Vorsitzenden, Außenminister Winston Peters, und ruft »Haltet den Dieb!«. Das gelingt. Die anderen Parteien kommen am Thema nicht vorbei. Die meisten sagen, sie wollten an der bisherigen Regel nicht rütteln. Die Grünen verlangen, auch Menschen jener pazifischen Nachbarstaaten aufzunehmen, die von Überflutung ihrer Heimat durch den Klimawandel und den daraus resultierenden Anstieg des Meeresspiegels bedroht sind.

Betty für Helen

Das City Hospital von Auckland liegt jenseits des Stadtzentrums hinter einem Geländeeinschnitt am Rande von Domain, der grünen Lunge der Stadt. Der moderne Kastenbau stellt schmucklose Funktionalität zur Schau. Auf einem Mauervorsprung davor sitzt Betty, eine Mittfünfzigerin, in der Hand einen Coffee-to-go und auf dem Schoß ein Kreuzworträtsel. Betty outet sich als echter Fan von Helen Clark. Natürlich werde sie Labour ihre Stimme geben. Die Regierung habe ja keine schlechte Arbeit geleistet, so manches Problem angepackt. »Ich denke nicht, daß die Nationalen das besser können.«

Auf die Frage nach dem Gesundheitssystem, das infolge von Einsparung, verbürokratisierter Kontrolle und Privatisierungstendenzen stark in Mitleidenschaft gezogen ist, räumt Betty allerdings ein, daß die Regierung Clark versagt hat. Wie chaotisch es zugeht mit den Überweisungen, hat sie an ihrem Ehemann gesehen. Die Abstimmungsprobleme zwischen Hausärzten und Spezialkliniken über die regionalen Gesundheitsämter sind mitunter so gravierend, daß sich Erkrankungen der betroffenen Patienten in der Zwischenzeit extrem verschlimmert haben, schreibt der New Zealand Herald einen Tag später in seinem Aufmacherbeitrag.

Die Hauptkontrahenten bei den Wahlen sind die beiden Großen: Labour (LP) und die National Party (NP). Doch werden die Nationalen bei Regierungskritikern nicht immer als Alternative wahrgenommen – zu ähnlich sind sich vor allem die neoliberalen Programmatiken. Helen Clark allerdings hat aus der Sicht vieler abgewirtschaftet, nach jüngstem Stand liegt die Partei der Amtsinhaberin in Umfragen deutlich hinter der ihrer konservativen Herausforderer. »Alles, außer Labour«, sagen Sharon und Rupert, zwei Mittvierziger, die gerade mit ihrer etwa 13jährigen Tochter unterwegs sind. Ihr Abstimmungsverhalten werde sich danach richten, wer am meisten etwas für Familien zu tun gedenke. Das Paar in Auckland hält der Premierministerin, die selbst kinderlos ist, vor, von Familien und ihren Problemen keine Ahnung zu haben.

Im Hotel Imperial

Thames ist eine Kleinstadt, die sich am Fuße des Coromandel-Gebirges ausbreitet. Die Siedlung scheint sich an die Berge zu schmiegen, von denen die ersten unmittelbar im Hintergrund aufragen, das dunkle Grün ein Kontrast zum hellen Blau des Himmels. Als Eingangstor zur Coromandel-Halbinsel am nördlichen Ende der neuseeländischen Nordinsel begann Thames’ Blütezeit Ende des 19. Jahrhunderts. Damals fingen die Holzfäller in den angrenzenden Berggebieten an, die mächtigen Kauri-Bäume abzuholzen. Sogar einen Bahnanschluß sollte das Städtchen damals bekommen, der gleichwohl nie gebaut wurde. Im Hotel Imperial an einer der beiden parallel verlaufenden Hauptstraßen hängt an der Wand neben der Theke ein Plan mit den Gastwirtschaften und Unterkünften, die es damals hier gab. Heute ist Thames eine gemütliche Kleinstadt, wo abends um sechs die Bürgersteige hochgeklappt werden.

Auf der Coromandel-Halbinsel macht sie die bevorstehende Wahl zumindest optisch etwas bemerkbar: Ein paar Schilder werben für Labour oder die Nationalen. Oder auch die Grünen, die hier zumindest per Plakat stark vertreten sind. Kinder oder der Erdball zieren ihre Schilder, es wird drum gebeten, doch wenigstens mit der Zweitstimme grün anzukreuzen. Das System ist dem deutschen ähnlich – eine Mischung aus Personen- und Listenwahl mit einer Fünf-Prozent-Hürde, die mit mindestens einem errungenen Direktmandat umgangen werden kann.

Längere Zeit hatte es so ausgesehen, als ob die seit 1990 bestehenden Grünen diesmal deutlich zulegen könnten. Die Debatte um Ölpreise und die Krise fossiler Energieträger hatten die Kernthemen der neuseeländischen Öko-Partei salonfähig gemacht. Inzwischen aber dreht sich fast alles um die Wirtschaft, und die Grünen, bisher mit sechs Abgeordneten vertreten, werden wohl nur wenig dazugewinnen – es sei denn, die 63jährige Covorsitzende Jeanette Fitzsimons hat mit einem medienträchtigen Bungeesprung besonders viele Unentschlossene beeindruckt.

26 Namen auf der Liste

Hundert Kilometer weiter östlich, in der Provinzstadt Tauranga, präsentiert sich der Kampf um Stimmen vielfältiger als anderswo. Da fehlt auch die rechte Kiwi-Partei um das ehemaliges Parlamentsmitglied Bernie Ogilvy nicht. deren wesentliche Forderung ist, ein vor wenigen Monaten von der Regierung verabschiedete Gesetz wieder aufzuheben, das Eltern verbietet, ihre Kinder zu ohrfeigen.

Den Leuten vom RAM (Residents Action Movement), das sich selbst als »linkes Bründnis« betrachtet, fehlen für eine groß angelegte Wahlkampagne die Ressourcen. Dennoch hoffen die Mitglieder der noch jungen Bewegung auf einige Erfolge. Grant Brookes ist einer der beiden Spitzenkandidaten der 26 Namen umfassenden Liste und kandidiert in der Hauptstadt Wellington. Zumindest in Auckland hat sich die Partei inzwischen durchaus einen Namen gemacht, war sogar schon im Stadtrat vertreten. Als Graswurzelbewegung will sie einen Neuanfang im linken Lager wagen, wo durch das Driften von Labour nach rechts und auch eine Verschiebung bei den mittlerweile handzahm gewordenen Grünen eine Lücke entstanden ist.

Die Zeiten, da die seinerzeit auf maoistischen Kurs eingeschwenkte kommunistische Partei noch einigen Einfluß hatte, sind lange vorbei. Zuletzt scheiterte der Versuch, eine breite linke Sammlungspartei zu bilden. Die in den frühen neunziger Jahren aus der Taufe gehobene Alliance Party war zunächst von großen Hoffnungen begleitet, schaffte es bei den Wahlen 1996 auf zehn Prozent und 13 Abgeordnete, drei Jahre später immerhin noch 7,7 Prozent und zehn Sitze. Sie brach aber nach wenigen Jahren 2002 wieder auseinander. Als es um die Beteiligung an der Afghanistan-Besatzung an der Seite der USA ging, schieden sich die Geister.

Hinsichtlich einer breiten linken Front geben sich die RAM-Kandidaten zwar keinen Illusionen hin, nachdem beispielsweise die Grünen bei der jüngsten Kommunalwahl das Kooperationsangebot der Bewegung ignorierten und die auf der Südinsel punktuell noch vertretenen Reste der linken Progressive Coalition eine Absage erteilten. Dennoch seien die Grünen potentiell ein wichtiger Bündnispartner. Doch gebe es vor allem mit der Maori-Party, so Grant Brooks, eine echte Zusammenarbeit: »Wir haben eine gemeinsame Kampagne mit dem Ziel gestartet, die 12,5 Prozent Mehrwertsteuer auf Nahrungsgüter abzuschaffen«. Das käme vielen Niedrigverdienern zugute. »Wir hoffen, daß sich diese Kooperation in naher Zukunft vertieft und als Vorbild für andere dienen kann«, unterstreicht der RAM-Kandidat.

Die Geschichte der Maori

Zwar wird die Maori-Partei, die derzeit mit vier Abgeordneten in Wellington vertreten ist, von vielen noch immer als potentieller Koalitionspartner der Nationalen gehandelt, sollten diese die Wahl gewinnen. Doch ist die 2004 gegründete Partei letztlich dem linken Lager zuzurechnen. Viele Wähler entsprechender ethnischer Herkunft – 15 Prozent der Bevölkerung sind Maori – haben bei der vergangenen Wahl den Bewerbern der Partei ihre Erststimme gegeben und zudem meist bei Labour ihr Kreuz gemacht. Eine Koalition wäre auch deswegen unwahrscheinlich, weil die Konservativen die politische Repräsentanz der Ureinwohner beschneiden wollen. Zwar ist die Spaltung der Gesellschaft in Neuseeland nicht so gravierend wie nebenan in Australien. Offener Rassismus wird selten registriert. Dennoch gibt es Diskriminierung, vor allem soziale. Armut ist unter den Maori wesentlich stärker verbeitet als unter der weißen Mehrheitsbevölkerung.

Weit über anderthalb Jahrhunderte ist es nun her, seit Captain William Hobson, nachfolgend Neuseelands erster Generalgouverneur, für die britische Krone mit den Maori-Häuptlingen den Vertrag von Waitangi unterzeichnete. Viele Auseinandersetzungen hat es später wegen der unterschiedlichen Interpreation der in beiden Sprachen verfaßten Texte gegeben – die Briten als Kolonialmacht zogen die Ureinwohner über den Tisch, weiße Siedler nahmen deren Land in Besitz. Inzwischen wird behauptet, daß die Bevölkerungsgruppen Neuseelands zu einer »Nation zusammengewachsen« seien – einer Nation, in der gleichwohl die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft. Das zumindest belegt eine jüngst im New Zealand Herald (23.10.) veröffentlichte Statistik.

Ende offen

Derzeit weiß jeder dritte Wahlberechtigte noch nicht, für wen er am 8. November stimmen wird. Zudem gibt es immer die Hoffnung, daß sich die Nationalen selbst ein Bein stellen, wie oft genug geschehen. Parteichef und Spitzenkandidat John Key, der eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Stan Laurel hat, muß sich ständig in internem Krisenmanagement üben. Mal philosophiert sein verkehrspolitischer Sprecher über eine Mauterhebung bei neuen Straßen, dann wieder sorgt der immigrationspolitische Kollege mit einer flapsigen Bemerkung für Aufregung. »Er habe niemanden verletzten wollen«, entschuldigt sich Lockwood Smith zwar. Doch gesagt ist gesagt: »Gastarbeitern« aus den kleineren pazifischen Nachbarstaaten müsse »mancher Arbeitgeber« ja sogar die richtige Benutzung von Toilette und Dusche erklären – mit seiner Aussage offenbarte Smith jene weiße Überheblichkeit, die nicht so recht zum offiziellen Parteiimage und dem Nationenbegriff der Nationalen passen will. Also sieht sich Key wieder einmal gezwungen, sich von den eigenen Leuten zu distanzieren.

* Aus: junge Welt, 25. Oktober 2008 (Wochenendbeilage)


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