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Nepal: Monarchie im Belagerungszustand

Der "Volkskrieg" der maoistischen Rebellen degradiert König Gyanendra immer mehr zu einem Herrscher ohne Volk - Mit einer Chronik

Von Armin Wertz*

Es war einmal ein König, der als Inkarnation des Gottes Vishnu galt und sich mit seinem Volk zusammen tat, um ein verhasstes Regime zu vertreiben. Dafür versprach er dem Volk eine Verfassung und Demokratie. Das nennt das Volk bis heute "Nepals erste Revolution" (s. Übersicht). Dann starb der König, das erhoffte Shangri-La erwies sich als Trugbild, es entrückte in weite Ferne wie ein unerreichbares utopisches Paradies.

Es vergingen Jahre, ehe ein neuer König wieder den mühsamen Weg in Richtung Demokratie suchte. Er gab dem Volk eine neue Verfassung, die seine absolute in eine konstitutionelle Monarchie verwandelte, er ließ wählen und das Volk sich selbst regieren. Nun durfte der König nur noch in Ausnahmesituationen das letzte Wort haben. Das nennen die Menschen "Nepals zweite Revolution". Doch weil im Nationalkonvent die meisten Volksvertreter nicht den Willen des Volkes vertraten, sondern korrupt und unfähig waren, gründeten enttäuschte Parlamentarier eine maoistische Partei, mit der sie eine "dritte Revolution" begannen, um dem Volk endlich die Macht zu geben, die ihm versprochen wurde.

Dann starb auch dieser König, den seine Untertanen zwar nicht als Gott verehrt, aber mehr geliebt hatten als die meisten Könige zuvor. Dass die Revolutionäre weite Teile des Landes kontrollierten und Wahlen verhinderten, nutzte der neue König (Gyanendra), den kaum noch jemand als gottgleichen Herrscher verehrte, geschweige denn liebte. Dieser König tat alles, um die von seinen Vorgängern an das Volk verlorene Macht zurück zu gewinnen. Er entließ Regierungen und ernannte Erste Minister, die willig seinen Anweisungen folgten und sich auf die Bajonette der Armee stützten.

Seither gibt es Nachrichten wie: "Nepalesische Maoisten töten vier Menschen bei einem Attentat", "Acht Rebellen und zwei Polizisten ums Leben gekommen" oder - wie erst vor Tagen - "Journalist von Maoisten getötet, neun weitere mit Hinrichtung bedroht". Manchmal dringen solche Meldungen über die Grenzen des kleinen Landes am Himalaja hinaus auf die Nachrichtenseiten der internationalen Presse, wenn von einer "erstmaligen Blockade Katmandus" die Rede ist, die in Wirklichkeit weder zum ersten Mal verhängt wird, noch die gesamte Hauptstadt erfasst. Was nichts daran ändert, dass die Guerilla heute in den Außenbezirken Katmandus so präsent und mächtig ist, dass sie - wie vor wenigen Wochen geschehen - Hunderte von Schulkindern zu einem einwöchigen "Umerziehungskurs in die befreiten Gebiete" entführen kann.

60 Prozent des Landes kontrollieren die Aufständischen Ende August 2004 - diese Angabe könnte das Ausmaß der Landnahme eher unter- als übertreiben.

"Eine Minderheit regiert bei uns einen Vielvölkerstaat", moniert der Politologe Deepak Thapa in Katmandu

Die Armee antwortet mit Massakern, außergerichtlichen Hinrichtungen, Vergewaltigungen, Artilleriebeschuss und - seit die USA und Großbritannien Nepals Bürgerkrieg als Teil ihres "Krieges gegen den Terror" ausgemacht haben - auch mit Bombardements. Gefangene werden in diesem Konflikt am Fuße der höchsten Berge dieser Erde längst nicht mehr gemacht. Das Schicksal zweier führender Mitglieder der maoistischen Guerilla war denn auch der Auslöser für die Eskalation dieser Tage. Nachdem sie der Polizei in die Hände gefallen waren, verschwanden sie spurlos. Daraufhin befahl eine den Rebellen nahe stehende Gewerkschaft, in Katmandu zwölf Unternehmen zu boykottieren, bis das Schicksal der Vermissten aufgeklärt sei - eine Order, die widerspruchslos befolgt wurde.

Wo sie regiert, lässt die Guerilla Brücken und Straßen bauen, sorgt - soweit möglich - für sporadischen Schulunterricht, zieht Steuern ein und bezahlt den Angestellten ihres öffentlichen Dienstes sogar Gehälter. Dabei ist unklar, ob die Bauern in den abgelegenen, oft schwer zugänglichen Bergen die maoistische Erweckung tatsächlich zu schätzen wissen oder nur den Weg des geringsten Widerstands suchen, indem sie sich der Herrschaft der jeweils präsenten Macht beugen.

Die Regierung in Katmandu schert sich traditionell wenig um die Bewohner der entlegenen, rauen Bergwelt oder der Tiefebene des Tarai im Westen. Zwar machen die Chetri und Bahun (Brahmanen) aus dem Tal von Katmandu nur 29 Prozent der 23 Millionen Einwohner Nepals aus, die sich aus einem Puzzle von nicht weniger als 60 Ethnien und Kasten mit Leibeigenen und Dalit (Unberührbaren) rekrutieren, doch Regierung und Administration sind bis heute in ihren Händen konzentriert. Dass die Verfassung von 1962 Nepal als ein Hindu-Königreich definiert und Nepali - eine Sanskrit-Sprache, die niemandes Muttersprache in diesem Lande ist - zur Landessprache bestimmt, haben die Nicht-Hindus der herrschenden Oberkaste nie verziehen. "Eine Minderheit regiert bei uns einen Vielvölkerstaat", moniert der Politologe Deepak Thapa in seiner Untersuchung A Kingdom Under Siege: "Anti-Sanskritismus ist eine der Sammlungsparolen der Maoisten." Sogar die gemäßigte parlamentarische Linke rufe gelegentlich nach einem "wirklichen Volkskrieg".

"Früher oder später wird jemand intervenieren - die Frage ist, wer und wann", schreibt die "Times of India"

Die indische Regierung fürchtet, die nepalesische Rebellion könnte sich über die Grenzen mit diversen separatistischen und maoistischen Bewegungen im eigenen Land verbinden, etwa in Uttar Pradesh, in Bihar oder in Manipur. "Der maoistische Aufstand ist nicht nur eine Bedrohung für die Sicherheit Nepals, sondern auch Indiens", meinte Shyan Saran, Indiens Botschafter in Katmandu, erst kürzlich wieder. Die Times of India verlangt bereits ein entschiedenes Eingreifen: "Nepal scheint außer Kontrolle zu geraten... Früher oder später wird jemand intervenieren müssen - die Frage ist, wer und wann?" Die US-Regierung spricht im Gegensatz zu den Nepalesen, die den Begriff mehrheitlich strikt ablehnen, ohnehin nur noch von einem "terroristischen Aufstand", der ihre strategischen und wirtschaftlichen Interessen an der chinesischen Grenze tangiere.

Die Opposition, die nach der Auflösung des Parlaments durch König Gyanendra nur noch als außerparlamentarische Bewegung in Erscheinung tritt, fordert den Herrscher unverdrossen auf, sich wieder an demokratische Regeln zu halten, da "andernfalls die Monarchie hinweggefegt werden könnte". Da Wahlen bis auf weiteres nicht in Aussicht stehen, denkt die Opposition seit Monaten laut über eine All-Parteien-Regierung unter dem Vorsitz eines von den Parteien gewählten (und nicht vom König bestimmten) Chefministers nach, der versuchen soll, die maoistische Guerilla zu einer Rückkehr in den politischen Prozess zu bewegen. Inzwischen halten Studenten landesweit "Referenden" ab, die der Monarchie wie dem politischen Establishment bedeuten, abgewirtschaftet zu haben.

Doch so schnell gibt der König seine Macht nicht preis. Immerhin deutete sich ein Einlenken an, als er vor zwei Monaten einen neuen Regierungschef berief: Sher Bahadur Deuba, den Gyanendra erst zwei Jahre zuvor wegen "Inkompetenz" gefeuert hatte. Der sitzt nun einem dreiköpfigen Notkabinett vor, in dem er selbst mehr als zwei Dutzend Ressorts auf sich vereint. "Der König hat Sher Bahadur Deuba gebeten, ein Kabinett zu bilden, in dem soweit wie möglich alle Parteien vertreten sein sollten", hieß es in einer Order aus dem königlichen Palast. Er soll "Gesetz und Ordnung aufrecht erhalten und bis Mitte April 2005 Wahlen für ein Parlament ermöglichen ..."

Das ist ohne Plazet der Guerilla undenkbar, so dass Deuba sich dazu durchringen musste, seine mächtigen Gegenspieler an den Verhandlungstisch zu bitten: "Lasst uns ohne Vorbedingungen Friedensgespräche führen", appellierte Deubas Stellvertreter Bharat Mohan Adhikari vor dem "Reporter´s Club" in Katmandu an die Aufständischen. "Da der Frieden in der Regierung höchste Priorität genießt, ist sie bereit, dafür jeden Weg zu gehen." Bisher jedoch vermochte es die Regierung nicht einmal, Kontakt zu den Rebellen herzustellen.

Ob die überhaupt daran interessiert sind, scheint fraglich. Inzwischen könnte ihnen klar sein, dass die Behinderung der Zufahrtswege nach Katmandu ihrer eigenen Sache so wenig gedient hat, wie die Ermordung des Journalisten Dekendra Raj Thapa, für die sich die Guerilla öffentlich entschuldigt hat. "Thapas Ermordung verstieß gegen die zentrale Politik der Partei. Ein solcher Fehler wird sich in Zukunft nicht wiederholen", hieß es am 21. August in einem Pressebulletin.




Chronik: Nepals drei Revolutionen

1951 - Ende der Rana-Herrschaft, des Patronats der erblichen Chefminister. König Tribhuwan stellt die Weichen in Richtung Mehrparteien-System und einer neuen Verfassung (1959). Nepals "erste Revolution".

1960 - nach dem Wahlsieg der Nepali Congress Party (NCP) suspendiert der König Mahendra das Parlament und die Verfassung.

1962 - eine neue Konstitution sieht ein Rätesystem ("panchayat") ohne Parteien vor, in dem der König die alleinige Macht ausübt.

1972 - König Mahendra stirbt - König Birendra folgt ihm auf dem Thron.

1980 - bei einem Verfassungsreferendum tritt eine knappe Mehrheit für das bestehende Panchayat-System ein. Der König stimmt direkten Wahlen für eine Nationalversammlung zu - allerdings ohne Parteien.

1985 - die Nepali Congress Party (NCP) beginnt eine Kampagne des zivilen Ungehorsams zur Wiederherstellung des Mehrparteien-Systems.

1990 - König Birendra beugt sich Pro-Demokratie-Demonstrationen der NCP und linker Gruppierungen und stimmt einer neuen demokratischen Verfassung zu - Nepals "zweite Revolution".

1991 - die NCP gewinnt die ersten demokratischen Wahlen - Girija Prasad Koirala wird Premierminister.

1994 - Koiralas Regierung unterliegt einem Misstrauensantrag. Neuwahlen führen zur Bildung einer kommunistischen Regierung [1].

1995 - die kommunistische Regierung wird aufgelöst. Radikale linke Gruppe wie die maoistische Nepal Communist Party beginnen in den ländlichen Gebieten einen Aufstand mit dem Ziel, eine Volksrepublik zu errichten - Nepals "dritte Revolution".

1998 - Koirala kehrt als Ministerpräsident zurück und bildet eine Koalitionsregierung.

April 2001 - ein von den maoistischen Rebellen ausgerufener Generalstreik bringt das Wirtschaftsleben in weiten Teilen des Landes zum Stillstand.

Juni 2001 - König Birendra, Königin Aishwarya und weitere Mitglieder der Königsfamilie werden bei einem Bankett von Kronprinz Dipendra erschossen, der sich anschließend selbst tötet - kurz darauf wird Prinz Gyanendra zum König gekrönt.

Juli 2001 - eine Offensive der Rebellen zwingt Girija Prasad Koirala zum Rücktritt. Bahadur Deuba tritt als Premier die Nachfolge an und bildet die elfte Regierung in elf Jahren.

Juli - November 2001 - Deuba führt Friedensverhandlungen mit den Rebellen, die jedoch scheitern.

Oktober 2002 - Premier Deuba wird von König Gyanendra entlassen, nachdem er unter Verweis auf die "maoistische Gewalt" geplante Wahlen verschieben wollte.

Januar 2003 - die Rebellen vereinbaren mit der Regierung einen Waffenstillstand.

August 2003 - nach sieben Monaten einer von beiden Seiten eingehaltenen Waffenruhe rufen die Rebellen einen Generalstreik aus, es kommt zu erneuten Kampfhandlungen.

Mai 2004 - der royalistische Ministerpräsident Surya Bahadur Thapa tritt nach wochenlangen Straßenprotesten der Opposition zurück.

Juni 2004 - König Gyanendra ernennt wieder Sher Bahadur Deuba zum Regierungschef.

August 2004 - maoistische Rebellen verhängen eine Teilblockade über die Hauptstadt Katmandu.

[1] Getragen wird diese Regierung von der Vereinigten Kommunistischen Partei Nepals (VKPN), die nicht identisch ist mit jener maoistischen Partei, die jetzt hinter der Guerilla-Bewegung steht. Die kommunistische Bewegung Nepals zerfällt in mehrere Parteien




Aus: Freitag 37, 3. September 2004


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