Zweifel am offiziellen Untersuchungsbericht
Das Massaker im Königshaus deutet auf eine tiefgehende Statskrise hin
Bereits Mitte Juni wurde in Kathmandu der offizielle Untersuchungsbericht über das Massaker im Königspalast, das am 1. Juni 2001 stattgefunden hatte, veröffentlicht. Danach wird Kronprinz Dipendra nun auch offiziell beschuldigt, im "Drogenrausch" seine Eltern, Geschwister und sich selbst erschossen zu haben. Dipendra habe zwei Gläser Whisky getrunken, Haschisch und eine andere Droge geraucht und mit seiner Freundin Deviyani telefoniert, bevor er das Massaker beging, hieß es im Untersuchungsbericht. Der Bericht wurde dem neuen König Gyanendra übergeben und veröffentlicht.
Der schnelle Bericht, der den jetzigen Thronnachfolger, Gyanendrs, von jedem Verdacht, seine Hände im Spiel gehabt zu haben, entlasten soll, ist wenig glaubwürdig. Die Bevölkerung in Nepal zweifelt die Beschuldigungen gegen Dipandra an. Wie auch immer die Tragödie sich zugetragen hat, die Vorgänge im Palast von Kathmandu sind nur ein - besonders bizarrer - Beleg für die tiefe Krise, die diesen Staat erfasst hat. Es ist erfreulich, dass sich in seriösen Zeitungen neben der Sensationsberichterstattung über das exotische Königsmorden in einem ebenso exotischen (aber wenig reizvollen, sondern äußerst armen und verwahrlosten) Himalaya-Staat auch Hintergrundberichte über die soziale Lage der Bevölkerung und die politische und militärische Opposition befinden. Am selben Tag, als die Süddeutsche Zeitung z.B., über den eben erwähnten Untersuchungsbericht berichtete, erschien auch ein längerer Artikel über die gespannte politische Lage im Land. Wir dokumentieren aus der Analyse ein paar Ausschnitte.
Nepals Krise nach dem Königsmord
In der Brutstätte der Maoisten
Von Karin Steinberger
... Hier in den Hügeln ein paar Stunden westlich von Kathmandu haben sie
kein Radio und keinen Fernseher – sie haben Sumsumar. Und die
skeptische Hochachtung, mit der die Bauern den 18-Jährigen
beobachten, zeigt, dass sie daran gewöhnt sind, dem Jungen
zuzuhören, auch wenn sie ihm keineswegs in allem zustimmen.
„Die Politiker sind korrupt, die Demokratie am Ende und der neue
König, nun, der kann sich den Platz in unseren Herzen nicht
gewaltsam nehmen“, sagt Sumsumar. Dann zieht er ein Bild der
ermordeten Königsfamilie aus seiner Hosentasche. Wie es die
Tradition fordert, hat auch er nach dem Massaker im
Königspalast elf Tage lang getrauert. Doch die Tage der Trauer in
Nepal sind vorbei, und der neue König ist nicht der alte. Als
gestern abend in Medien berichtet wurde, dass die
Untersuchungskommission Dipendra offiziell zum Königsmörder
erklärt habe, war dies auch für Sumsumar ein weiteres Signal,
dass er sich bereit halten muss – schlimmstenfalls für den Kampf.
Kampf gegen den König
Sumsumar ist vorsichtig genug, nicht offen zuzugeben, dass er
damit den Untergrundkampf der Maoisten meint. Doch jeder hier
weiß, dass es keine andere politische Kraft gibt, die zum Kampf
gegen den neuen König aufrufen könnte, geschweige denn
wollte. Die meisten Parteien sind an einer Stabilisierung der
Situation interessiert und haben Gyanendra bereits als König
anerkannt. Und während die Menschen in Kathmandu versuchen,
so zu tun, als würde das Leben einfach weitergehen, warten sie
ängstlich auf das, was nun passieren wird, da Dipendra nach den
Berichten offiziell zum Mörder erklärt wurde. Die seit fünf Jahren
im Untergrund kämpfenden Maoisten haben in den vergangenen
Tagen immer offener damit gedroht, den neuen König nicht
anzuerkennen, und sie haben die Bevölkerung aufgerufen,
gegen ihn zu kämpfen.
... Das Land – eingeklemmt zwischen den
Großmächten China und Indien – leidet schon seit längerem
unter einer Identitätskrise. Nepal fühlt sich besonders vom
kulturell nahe stehenden „großen Bruder“ Indien in vielerlei
Hinsicht missbraucht und von der Welt zum
Mount-Everest-Stützpunkt degradiert. Das Experiment
Demokratie droht fehlzuschlagen. In den vergangenen zehn
Jahren haben die Nepalesen zehn Regierungen kommen und
gehen sehen. Und die Menschen sind zunehmend frustriert von
einem System, dem sie nur wenig mehr vertrauen als den
korrupten Politikern. Ministerpräsident Girija Prasad Koirala ist in
einen Korruptionsskandal verwickelt. Deswegen verweigert die
Oppositionspartei UML, die Kommunistische Partei Nepals, seit
Monaten die Zusammenarbeit. ...
... im Gegensatz zu König Birendra,
dessen liberale und nationale Haltung selbst die Maoisten
schätzten, misstraut die Mehrzahl des Volkes dem neuen König
Gyanendra zutiefst. Und so suchen immer mehr vor allem junge
Nepalesen wie Sumsumar nach Alternativen. Mit einer kruden
Mischung aus Erlösungsgedanke und Terror versuchen die
Maoisten, die instabile Situation für eigene Zwecke zu nutzen.
Seitdem sie Mitte Februar 1996 den „People’s War“ ausgerufen
haben, fällt ein Dorf nach dem anderen in ihre Hände. In bis zu
zwölf der 75 Distrikte wurden Parallelregierungen ausgerufen.
Die Maoisten sollen mittlerweile in halb Nepal aktiv sein und
haben starken Einfluss im armen Westen des Landes. Distrikte
wie Rolpa, wo die Lebenserwartung 52 Jahre beträgt und das
durchschnittliche Jahreseinkommen unter 100 Dollar liegt, sind
seit Jahrzehnten kommunistisch.
1500 Menschen sind in diesen fünf Jahren zum Teil bestialisch
umgekommen – darunter nicht nur Maoisten und Polizisten,
sondern auch zunehmend Zivilisten. Die Strategie der 5000 bis
10000 hochmotivierten Untergrundkämpfer ist ganz im Sinne
ihres Vorbildes Mao Zedong. Erst einmal geht es darum, die
hungernde Landbevölkerung zu gewinnen, um dann die Elite in
den Städten, die Klassenfeinde, einzukreisen und umzuerziehen.
Es ist noch nicht so lange her, dass die Maoisten zusammen mit
den Zentrumsparteien und den gemäßigten Kommunisten für die
Demokratie auf die Straße gingen. Als am 6. April 1990 der Kampf
eskalierte und König Birendra – nachdem er zwölf Jahre als
absoluter Monarch regiert hatte – die Demokratie einführte und
Parteien erlaubte, verloren die Maoisten zunehmend an
Bedeutung. 1996 präsentierte der Maoisten-Führer Baburam
Bhattarai der Koalitionsregierung eine Liste mit 40 Forderungen,
die man schlimmstenfalls im bewaffneten Kampf durchsetzen
werde: Landreform, Ende der engen Beziehungen zu Indien,
keine ausländische Hilfsgelder mehr, Entmachtung der
Monarchie, Versorgung der Bevölkerung mit der notwendigen
Infrastruktur – Straßen, Wasser, Elektrizität und Schulbildung.
Ihren „People’s War“ finanzieren die Maoisten durch Überfälle
auf Banken und durch „Spenden“ und „Steuern“, die die
Bevölkerung freiwillig - oder auch unter Zwang – bezahlt.
Mittlerweile ist die Untergrundtruppe besser bewaffnet als die
Polizei. Im vergangenen Jahr kamen das erste Mal mehr
Polizisten als Maoisten um ...
Teile der Regierung fordern schon seit längerem, die
nepalesische Armee einzusetzen. Aber dagegen haben sich
bislang einflussreiche Generäle, die Opposition und der Palast
gewehrt. Armee und Rebellen ignorieren sich bislang. Es sei
schon vorgekommen, so der Maoisten-Experte Deepak Thapa,
dass Rebellen auf ihrem Weg zu einem Überfall auf eine
Polizeistation an einem Armeecamp vorbeimarschierten und auf
dem gleichen Weg zurückkamen, ohne dass etwas passiert ist.
Die Royal Nepal Army gilt als absolut loyal gegenüber dem
Königshaus, das unter Birendra die Mehrheitsmeinung vertrat:
dass die nepalesische Armee nicht gegen Nepalesen kämpfe
sollte. ...
... Mit 200 Dollar durchschnittlichem Jahreseinkommen zählt
Nepal zu den ärmsten Ländern der Welt. Es gibt gerade mal
5000 Krankenhausbetten für 23 Millionen Einwohner, von denen
mehr als 40 Prozent unter der absoluten Armutsgrenze leben.
Nach dem Tod Birendras sind die Bedingungen für die Maoisten
noch besser geworden. Der König war für viele der einzige
Lichtblick, da er demokratischer war als alle Demokraten des
Landes zusammen. Obwohl sich Gyanendra bei seiner Krönung
zu Demokratie und konstitutioneller Monarchie bekannt hat, kann
niemand sagen, ob er es ernst meint. Und es ist fraglich, ob
Jungen wie Sumsumar ihm Zeit geben werden, oder ob sie nicht
schon davor ihren Unmut aus ihren armen Hütten in die Stadt
des Geldes hineintragen werden.
Aus: Süddeutsche Zeitung, 15. Juni 2001
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