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"Noch ist der König stark"

Gespräch mit Chandra Prakash Gajurel. Über den Weg Nepals aus der 240 Jahre alten Monarchie in eine Republik sowie den Kampf und die Ziele der Kommunistischen Partei (Maoisten)

Chandra Prakash Gajurel, genannt Gaurav, 59 Jahre, Sozialarbeiter, Sekretär für Internationale Fragen der Kommunistischen Partei Nepal (Maoisten). Diese ist maßgeblich an der Einleitung eines Friedensprozesses und am Übergang von einer parlamentarisch verbrämten Monarchie zur Republik beteiligt. Gajurel besuchte Ende vergangenen Jahres Europa. *



Wir freuen uns, Sie in Europa begrüßen zu können – und das aus einem besonderen Grund: Noch vor einigen Jahren versuchten Sie, hierher zu gelangen, scheiterten jedoch schon während der Anreise in Indien. Was geschah im August 2003 auf Ihrem Weg nach London?

Unsere Partei war damals verboten und zu einer »terroristischen Organisation« erklärt worden. Sie stand international auf diversen schwarzen Listen. Interpol fahndete in mehr als hundert Staaten nach vielen führenden Mitgliedern, darunter auch nach mir. In dieser Situation entschieden wir, auf der Suche nach Unterstützung für die Revolution in Nepal nach Europa zu reisen. Ich verfügte lediglich über einen gefälschten Paß und ein ebensolches Visum – und scheiterte. Ich wurde im indischen Chennai gefangengenommen.

Wie lange verbrachten Sie hinter Gittern?

Drei Jahre und vier Monate.

Welches waren die genauen Gründe für die Reise?

Wir merkten immer stärker, daß wir internationale Unterstützung brauchten. Die Regierung mit dem König an der Spitze versuchte, uns zu isolieren, und wir schlußfolgerten, daß wir seinen Angriff offensiv kontern und auf internationaler Ebene für unsere Revolution werben sollten.

Das liegt nun schon über vier Jahre zurück. Seitdem hat Nepal riesige Umwälzungen erlebt. Sie waren noch inhaftiert, als der Aufstand gegen den immer autoritärer agierenden König Gyanendra begann. Hatten Sie damit gerechnet?

Natürlich wußte ich nicht, wann genau der Umbruch stattfinden würde. Aber ich war absolut sicher, daß es dazu kommen würde. Wir vertrauten voll und ganz auf den Sieg der revolutionären Bewegung, darauf, daß die politisch Mächtigen einlenken müßten und sich die Verhältnisse von Grund auf ändern würden.

Mit dem königlichen Staatsstreich vom Februar 2005 begann der wohl endgültige Niedergang der Monarchie. Die KPN (M) schuf mit einem einseitigen Waffenstillstand wichtige Voraussetzungen für Verhandlungen mit der demokratischen Opposition (Sieben-Parteienkoalition) für die Schaffung einer Einheitsfront. Das gelang letztlich. Und ein Jahr darauf, im Frühjahr 2006, sorgten Massenproteste und ein Generalstreik für die Wiedereinsetzung des Parlaments und eine weitgehende Entmachtung des Königs. Der »90-Tage-Aufstand« ging in die Geschichte ein. Wann erfuhren Sie davon?

Ich saß noch im Knast, und sie versuchten, mich zu isolieren. Das gelang nicht. Ich erhielt viele Informationen, vor allem über meine Frau und – trotz der Zensur – auch über englischsprachige Zeitungen. Mit Hilfe einiger Freunde kam ich in den Besitz illegaler Schriften. Zusammengenommen war ich bestens informiert über die Lage in Nepal.

Haben Sie Solidarität erfahren?

Insbesondere, als öffentlich wurde, daß ich von Indien nach Nepal abgeschoben werden sollte, kam es zu internationalen Protesten. Die Forderung lautete: Keine Deportation – sonst wäre mein Leben gefährdet gewesen. Es gab eine entsprechende Unterschriftenkampagne in vielen Ländern auch Europas, die sich an den indischen Premierminister richtete. Dadurch erhöhte sich der Druck auf die Regierung in Delhi, so daß meine Abschiebung verhindert wurde.

Wann kehrten Sie zurück nach Kathmandu?

Ich war wegen meiner gefälschten Papiere zu drei Jahren verurteilt worden, doch man erhob gegen mich drei weitere Anklagen, darunter wegen angeblicher Unterstützung maoistischer Umsturzversuche in Westbengalen und gegen die Zentralregierung. Natürlich waren die Vorwürfe falsch. Als ich schließlich im Oktober 2006 freikam, wurde ich direkt wieder verhaftet und nach Westbengalen verbracht. Jedoch hatten sich die Zeiten geändert, der Druck, mich und meine Genossen freizulassen, war gewachsen. In Nepal hatten die Verhandlungen über die gesellschaftliche Perspektive bereits begonnen, und es kam außerdem zu Demonstrationen in Kathmandu für meine Freiheit. Letztlich wurden die Anklagepunkte verworfen, und sie entließen mich am 30. November – abends um zehn Uhr. Zwei Stunden später war ich bereits in Nepal – das Gefängnis lag nur etwa hundert Kilometer entfernt von der Grenze. Sie können sich vorstellen, daß es einen großen Bahnhof gab – mitten in der Nacht.

Ihre Organisation, die ein Dutzend Jahre einen Guerillakrieg gegen die Monarchie geführt hatte, war urplötzlich legal am Verhandlungs­tisch vertreten. Auch international hat sich viel bewegt. Mit welchen Erwartungen sind Sie nunmehr nach Europa gereist?

Wir möchten wissen, wie internationale Unterstützung unter den neuen Bedingungen aussehen kann. Zumindest war es diesmal überhaupt kein Problem, ein Visum zu erhalten. Wir treten für ein prosperierendes Nepal ein, politisch, ökonomisch, kulturell ... Bei der Entwicklung dahin und bei der Abschaffung der Monarchie möchten wir Unterstützung nicht nur von kommunistischen oder maoistischen Kräften, sondern von allen Progressiven, den Linken, den Demokraten, Sozialdemokraten, vielen verschiedenen Gruppen und Organisationen.

Und diese Kräfte wollen Sie für die Revolution gewinnen?

Wir verfügen über ein Minimalprogramm. Für die kommunistische Sache können wir derzeit nur wenig Unterstützung erwarten. In der jetzigen Situation wollen wir die Monarchie beseitigen, demokratische Verhältnisse schaffen und die Gesellschaft entwickeln. Das Minimalprogramm verschafft uns die Möglichkeit, breite Unterstützung aus Europa zu erhalten.

Hat die Partei Ihr sozialistisches Ziel aufgegeben?

Wir haben nicht kapituliert. Als wir in den Friedensprozeß eintraten, waren wir nicht vom Feind geschlagen, sondern im Gegenteil eine äußerst erfolgreiche Bewegung. Die Guerilla errang Siege, wurde immer stärker. Es geht nicht darum, daß wir unser Ziel aufgegeben haben. Wir haben auf nichts verzichtet. Vielmehr haben wir die Lage analysiert und sind zu konkreten Ergebnissen gekommen. Was wir unmittelbar bewaffnet durchsetzen konnten, das war nun auch auf friedlichem Wege möglich geworden. Also haben wir vorläufig den bewaffneten Kampf eingestellt und erreichten die Etablierung eines Friedensprozesses. Deshalb haben wir jedoch nicht unsere Ziele aufgegeben.

Zur KPN (M) gehört eine mächtige, vieltausendköpfige Guerilla – die UNO zählte über 30000 Mitglieder. Was geschieht nun mit den Waffen? Wie sollen die ehemaligen Kämpfer in die Gesellschaft integriert werden?

Bestandteil des Verhandlungsprozesses ist eine Art Roadmap, ein Fahrplan, nach dem wir im Parlament vertreten sind und uns an der provisorischen Regierung beteiligen. Ein weiterer Eckpunkt sind die Wahlen einer verfassunggebenden Versammlung. Zudem verständigten wir uns darauf, daß es zunächst zwei Armeen gibt: Die alte, die nun Nepal Army heißt, und die Volksbefreiungsarmee, also unsere bewaffneten Kräfte. Wir haben einem Übergangsprozeß unter Kontrolle der UNO mit mehreren Stufen zugestimmt, darunter einer Zusammenfassung der Kämpfer in mehreren Lagern, einer Verkleinerung unserer Armee ebenso wie der strengen Kontrolle über die Waffen. Dasselbe geschieht mit den gegnerischen Kräften. Sie werden ihre Plätze nicht vor den Wahlen verlassen. Wir sind damit einverstanden, daß nach der Abstimmung und der Bildung einer neuen Regierung die Armee neu strukturiert wird. Unser Plan ist es, die verschiedenen Kräfte in einer nationalen Armee zu integrieren.

Und Sie meinen tatsächlich, daß Guerilla und Königstreue, die ehemaligen Todfeinde, in ein- und derselben Armee zusammenarbeiten können?

Das ist sicherlich keine einfache Aufgabe. Aber bisher ist unsere Partei davon überzeugt, daß es klappt – auch deswegen, weil unsere Volksbefreiungsarmee aus ideologisch und politisch hochgebildeten Menschen besteht. Wir geben heute Leuten die Hände, die uns früher bis aufs Blut bekämpft haben, die für den König arbeiteten. Es gibt also inzwischen neue Konstellationen, es sind Bündnisse entstanden. Ähnlich wird sich das bei der noch zu schaffenden Armee darstellen. Unsere Leute verstehen die neue Lage sehr gut.

Die Hauptforderung Ihrer Partei hieß immer: Nieder mit der Monarchie! Nun scheinen Sie am Ziel. Und doch verfügt der König nach wie vor über Einfluß auf Militär, Polizei, Bürokratie ebenso wie über Beziehungen und internationale Kontakte. Kann er der Massenbewegung noch gefährlich werden?

Die neue Verfassung sieht vor, daß der König keine wichtige Rolle mehr spielt. Das ist der Anspruch. Aber praktisch ist er nach wie vor stark. Die Armee war immer eine Armee der Monarchie. Viele Offiziere sind der Königsfamilie weiter verpflichtet. Sie wurden von ihr eingesetzt. Zweitens arbeiten zahlreiche Königstreue in der Verwaltung. Diese Kräfte wünschen sich, daß die Monarchie zurückkehrt. Und schließlich gibt es jene, die mit Hilfe des Systems die Menschen ausbeuteten, sich der Ressourcen auf verschiedensten Ebenen bemächtigten – insbesondere auf dem Land, aber auch in der Stadt. Und diese Klasse ist zweifelsohne interessiert an einer Rückkehr der Monarchie.

Wieviel internationalen Rückhalt hat das Königshaus noch?

Von außen werden gerade diese Kräfte insbesondere von seiten des US-Imperialismus gestützt. Das Weiße Haus hat ein großes Interesse an Nepal, insbesondere wegen der geostrategischen Lage zwischen unseren beiden großen Nachbarländern Indien und China. Washington glaubt, seine Position in der Region am besten mit dem König halten zu können. Also versuchen die USA derzeit, das Land zu destabilisieren. Ansonsten erhält der König weiter Unterstützung aus Indien, insbesondere von den Hindu-Fundamentalisten unter Führung der Bharatiya-Janata-Partei, die zwar derzeit in der Opposition in Delhi sind, aber das Land über sechs Jahre regierten. Diese erklären den indischen Massen, daß ein Hindu-Staat möglich ist in unserer Zeit – und führen als Beispiel Nepal an.

80 Prozent der Einwohner Nepals sind Hindus ...

Nepal war ein Hindu-Königreich mit dem einzigen Hindu-König der Welt. Folglich gilt Nepal als exemplarisch dafür, daß ein Hindu-Staat auch heutzutage noch möglich ist. Insgesamt ergibt sich schließlich aus dem Konglomerat unterschiedlicher Kräfte, die nach wie vor auf die Monarchie orientieren, daß der König noch immer stark ist.

Nun gab es Probleme mit den Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung. Diese sollten ursprünglich am 22. November stattfinden, wurden aber zunächst auf unbestimmte Zeit verschoben. Die maoistischen Minister selbst traten deswegen im September vorübergehend aus der provisorischen Regierung aus. Wie stellte sich Ihnen diese Entwicklung dar?

Die Bildung einer verfassunggebenden Versammlung wird von uns seit sechs Jahren, beschlossen von unserer zweiten Parteikonferenz, gefordert. Damals wurde dieses Ziel von keiner anderen politischen Kraft unterstützt. Inzwischen ist die Forderung nationaler Konsens und wird international von den meisten Ländern gutgeheißen. Für die Befürworter der Monarchie ist deren Verhinderung der einzige Weg, um die Entwicklung weg vom Königreich zu stoppen. Sie spielen auf Zeit, da die Massenbewegung, die Gefühle der Bevölkerung eindeutig antimonarchistisch sind.

Unsere Forderung lautete immer: Abstimmung so bald wie möglich. Es kam zunächst zu einer Einigung, daß die Wahlen Mitte Juni 2007 abgehalten werden sollten. Doch der Termin wurde immer wieder verschoben – schließlich um sechs Monate, auf den 22. November. In der Zwischenzeit wurde eine Menge Konspiration betrieben. Der US-Imperialismus verbunden mit den Hindu-Fundamentalisten setzte zunehmend auf Gewalt und bewaffnete seine Kräfte. Dabei wurde die »ethnische Karte« gespielt. In den südlichen Terai-Gebieten, die mehrheitlich von indischstämmigen, ursprünglich aus den Bergen stammenden Madhesi bewohnt werden, kam es zu Angriffen und Übergriffen mit vielen Toten. Ich sage: Das war ein kalkulierter Coup des US-Imperialismus und indischer Drahtzieher, die eine Atmosphäre schaffen wollen, die nicht gut für Wahlen ist. Mit Bombenanschlägen sollte versucht werden, das Land zu destabilisieren und den Friedensprozeß zu zerstören. 50 Tote waren auf unserer Seite zu beklagen – eine Situation entstand, in der Wahlen nur schwer denkbar sind.

Sie arbeiten mit den anderen Parteien zusammen, darunter auch mit den weiteren kommunistischen. Wie kann die Blockade der Abstimmung zur verfassunggebenden Versammlung gebrochen werden?

Sicher mit Hilfe der anderen Parteien. Wir haben derzeit keine Mehrheit im Parlament, die KP Nepal (M) verfügt über 52 der 329 Sitze. Mit kommunistischen Parteien wie der United Marxist-Leninist (UML) und anderen kleineren Organisationen hätten wir die Mehrheit.

Entspricht der Einfluß, den die KP Nepal (M) in der Bevölkerung hat, der Präsenz im Parlament?

Einige Kräfte haben behauptet, daß die Maoisten an Boden verloren haben, seit der Friedensprozeß begonnen hat. Das stimmt nicht. Nachdem wir in Verhandlungen eintraten, haben wir sogar an Boden gewonnen. Zum Beispiel in Kath­mandu. Hier und in anderen Städten hatten wir nie besonders großen Einfluß. Also konzentrierten wir uns auf die Punkte, an denen wir relativ schwach waren, und haben mittlerweile eine Menge an Einfluß errungen. Wir hatten schon vor den Verhandlungen 50 Prozent der Bevölkerung auf dem Land befreit. Unser Problem war es, stärker Fuß zu fassen in den großen Städten. Außerdem haben wir es geschafft, unsere internationalen Beziehungen stark auszubauen. Wir arbeiten mit verschiedensten Kräften zusammen. Insgesamt konstatieren wir, daß unsere Position wesentlich stärker ist als vor den Verhandlungen.

Wie geht es weiter?

Wir sind nicht nur mit den Vertretern der Monarchie und den Konservativen konfrontiert. Uns machen auch zunehmend Kräfte von außen zu schaffen. Ich habe eine Bitte an alle Freunde außerhalb Nepals. Der US-Imperialismus mischt sich ebenso stark ein wie die herrschende Klasse in Indien. Es ist überlebensnotwendig, weltweit ein breites Bündnis gegen den US-Imperialismus herzustellen. Die USA wollen nach Afghanistan und Irak nun Iran angreifen. Sie sind der Menschheitsfeind Nummer eins.

Interview: Gerd Schumann

Monarchie am Ende

Zurückgekehrt nach Kathmandu erklärte Gajurel im Namen der KPN (M) am 24. Dezember 2007 in der Regierungszeitung Rising Nepal, das regierende Sieben-Parteien-Bündnis und die KPN(M) hätten sich darauf verständigt, »daß das Übergangsparlament das südasiatische Land in einer Resolution zur Republik erklärt«. Damit steht »die Monarchie in Nepal nach 240 Jahren vor dem Ende« (FAZ, 24.12.2007). Von den 329 Abgeordneten stimmten am 28.12. dann 270 für die Abschaffung der Monarchie, drei dagegen, die übrigen enthielten sich oder blieben der Sitzung fern. Inzwischen traten die Maoisten erneut der Regierung bei, die sie im September aus Protest gegen den schleppenden Verfassungsprozeß verlassen hatten, und stellen nun fünf Minister.
Am 10. April soll eine verfassunggebende Versammlung gewählt werden.

Nepal
Etwa 27 Millionen Einwohner, darunter 85 Prozent auf dem Land; Hauptstadt: Kathmandu (670000 E.); zahlreiche Ethnien, darunter Mahesi (30 Prozent), Chhetri und Bahun (jeweils 13), Magar und Tharu (jeweils 7); Sprachen: Nepalesisch (43 Prozent), Maithili (9,5), Bihari (6); Religionen: Hindus (80 Prozent), Buddhisten (10), Moslems (4). Haupthandelspartner: Indien, USA; jährliches Durchschnittseinkommen: 270 Dollar; starkes Sozialgefälle zwischen Stadt und Land; annähernd 50 Prozent Analphabeten.

KP Nepals (Maoisten)
1994 gegründet; Vorsitzender Pushpa Kamal Dahal, genannt Prachanda; seit 1996 führende Kraft im bewaffneten Kampf gegen die Benachteiligung der Landbevölkerung und gegen die Monarchie; kontrollierte große Teile des Landes mit Hilfe ihres bewaffneten Arms, der Volksbefreiungsarmee.



* Aus: junge Welt, 19. Januar 2008


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