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"Tatbestand Völkermord"

Gespräch mit Henning Melber. Über den deutschen Genozid an den Herero und Nama und namibische Forderungen nach Wiedergutmachung. Über das Verhältnis SWAPO–DDR und einen Besuch Margot Honeckers in Windhoek *

Dr. Henning Melber, 1950 in Westdeutschland geboren, 1967 mit seinen Eltern nach Namibia ausgewandert, trat bereits 1974 als einer der ersten Weißen der antikolonialen Befreiungsbewegung SWAPO bei. 1990 wurde Namibia unabhängig. Nach einigen Jahren Forschungs- und Lehrtätigkeit an der Universität Kassel leitete Melber von 1992 bis 2000 das namibische Forschungsinstitut NEPRU, danach wechselte er als Forschungsdirektor an das Nordic Africa Institute in Uppsala (bis 2006). Seit 1. November ist er Direktor der schwedischen Dag-Hammarskjöld-Stiftung.



Der Völkermord an den Herero und Nama, begangen ab 1904 von deutschen Kolonialtruppen im Südwesten Afrikas, spielt hierzulande kaum eine Rolle – weder in der Geschichtsschreibung, noch auf politischer Ebene oder im öffentlichen Bewußtsein. Wie ist der juristische Umgang damit?

Der Völkermord an den Herero und Nama kann in Deutschland geleugnet werden, ohne daß es strafrechtliche Folgen hätte – im Gegensatz zu Auschwitz. Ich bin mir aber auch nicht sicher, ob es ein probates Mittel wäre, dieses zu ändern. Das würde zwar den öffentlichen Diskurs um den ersten Genozid des zwanzigsten Jahrhunderts und seine Anerkennung befördern, doch sollte das auch auf anderem Weg als mit strafrechtlichen Restriktionen möglich sein.

Wie soll das geschehen, zumal vor allem die elektronischen Medien das Thema Namibia derzeit ungewohnt gehäuft präsentieren? Da wird in TV-Soaps und Reisereportagen die deutsche Kolonialgeschichte weichgespült und der Völkermord relativiert. Fleißige Deutsche kultivieren das Land und lehren die zwar freundlichen, aber unwissenden Schwarzen den Bau der Eisenbahn. Hat da eine Aufklärung überhaupt eine Chance?

Kaum. Wir verfügen nicht über die Medien, und in den Schulen hat sich wenig getan. Es wird also weiter eine Relativierung der deutschen Kolonialgeschichte stattfinden. In diesem Zusammenhang wäre es aber schon interessant zu erfahren, wie die Akzeptanz derartiger Verfälschungen durch Teile der Bevölkerung zustande kommt. Es müßten die tiefenpsychologischen Wurzeln offengelegt werden, die es ermöglichen, daß es nach wie vor gelingt, Kolonialgeschichte relativierend darzustellen – so wie das auch eine Zeitlang im Umgang mit dem deutschen Faschismus geschah. Da war klar, daß in der Debatte über kurz oder lang der Hinweis auf die Hitlerschen Autobahnen kam und auf die Verringerung der Arbeitslosigkeit. So wurde letztlich das Verbrecherische des Naziregimes verdeckt.

Ist der Völkermord von Berlin offiziell anerkannt?

Eine klare Antwort darauf ist auch über hundert Jahre danach schwierig. Die vier Nachkriegsjahrzehnte hindurch wurde er in der BRD nicht anerkannt. Im August 2004 dann hat Heidemarie Wieczorek-Zeul als die für Entwicklungspolitik zuständige Ministerin bei einer Gedenkfeier in Namibia davon gesprochen, daß unter Zugrundelegung des heutigen Rechtsverständnisses die Ereignisse von 1904 und danach dem Tatbestand eines Völkermords gleichkommen. Und daß ein General von Trotha, der Befehlshaber der Schutztruppen war, nach heutigen Rechtsnormen für Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen werden müßte.
Das äußerte eine einzelne Ministerin– und dazu eines Ministeriums, das nun nicht gerade die größte Bedeutung hat in Deutschland. Es fand keinerlei Niederschlag in einer offiziellen parlamentarischen Entschließung des Bundestags. Es fand keine Entsprechung in Form von Verlautbarungen des Auswärtigen Amtes oder des Außenministers geschweige denn des Kanzlers oder des Bundespräsidenten. Von daher ist die Bedeutung dieser Entschuldigung ungeklärt: Ist sie nun staatsoffiziell oder ministeriell?

So oder so blieb Wieczorek-Zeuls Rede vom August 2004 folgenlos. Seitdem herrscht seitens Berlins das große Schweigen in dieser Sache. Welche Konsequenzen hätte es geben müssen?

Die Anerkennung der Notwendigkeit von Kompensationsleistungen und Reparationszahlungen – in welcher Form auch immer. Das kann ausgehandelt werden.

Welche Vorstellungen gibt es hierzu?

Es wurde unter anderem ein Fonds vorgeschlagen, der Infrastrukturmaßnahmen in den Gebieten der damals am meisten betroffenen Bevölkerungsgruppe finanziert. Die durch die damalige Vernichtungsstrategie geschaffenen und seither gesellschaftlich verankerten Benachteiligungen, die im nachkolonialen Namibia weiter bestehen, sollten zugunsten der Nachkommen der damals Betroffenen gemindert werden. Bis heute bleiben die strukturellen Folgen des begangenen Unrechts erkennbar, indem auf dem früheren Herero- und Nama-Land weiße kommerzielle Farmer leben und darüber als ihr Privateigentum verfügen. Grundsätzlich geht es ausdrücklich um eine Kompensationsleistung als Ergebnis des Eingeständnisses von Unrecht, das in deutschem Namen begangen wurde.

Um welche Geldbeträge würde es sich handeln?

Natürlich wären es höhere Summen als die derzeit im Gespräch befindlichen 160 Millionen Namibia-Dollar (20 Millionen Euro) für eine von der BMZ-Ministerin angeregte »Versöhnungsinitiative«. Aber auch diese stellen genau betrachtet für Deutschland nicht das Haupthindernis dar für einen Schritt in Richtung Schuld­anerkennung, Wiedergutmachung und Versöhnung. Was immer der Betrag wäre, ließe sich genau besehen für das bundesdeutsche Säckel verschmerzen.

Was hindert die reiche Bundesrepublik, den Völkermord anzuerkennen, die Gelder lockerzumachen, zumindest den Anschein von Reue zu erwecken und souverän damit umzugehen?

Einerseits ein Kräfteverhältnis, das es der Bundesregierung erlaubt, diese praktische Schuldanerkennung einfach zu verweigern. Es gibt keine politischen Kräfte, die das entsprechend einfordern könnten, denn die Herero und Nama sind ja nicht die Sieger gewesen. Sie waren die Verlierer, und sie hatten zudem bis vor kurzem auch in Gestalt der namibischen Regierung keine Fürsprecherin, die sie nachhaltig unterstützen würde. Zum anderen rüttelt es an ein Grundverständnis, koloniales Unrecht nicht zu kompensieren. Dies geht mit der Befürchtung einher, mit einem solchen Schritt würde die Büchse der Pandora geöffnet.

Ist also mit weiteren Reparationsforderungen zu rechnen?

Eigentlich nicht. Tatsächlich entspricht lediglich das Vorgehen gegen die Herero und Nama der Definition von Genozid durch die Völkerrechtskonvention. Das unterscheidet ihn auch von den meisten anderen Formen kolonialer Massenvernichtung. Trotzdem würde dessen Kompensierung durch Reparationen die grundsätzliche Frage aufwerfen, wie denn jetzt zum Beispiel Großbritannien angesichts der neuesten Erkenntnisse an Massenvergewaltigung, Folter und Vernichtung der Kikuyu während des Mau-Mau-Aufstandes in den fünfziger Jahren in Kenia damit umgehen würde – zumal dort noch direkt Überlebende die Reparationen einfordern könnten. Oder wie sich Paris angesichts der Massengewalt, Vergewaltigungen, Exekutionen, Folter der Algerier im Widerstand gegen die französische Besatzung verhalten würde.

Das ließe sich angesichts der grundsätzlich blutigen Kolonialgeschichte der Europäer und US-Amerikaner dann beliebig erweitern...?

Wenn es zeitlich nicht gebunden ist an Überlebende, sondern einfach an »Wiedergutmachung« von begangenem Unrecht, dann landen wir früher oder später bei der Frage, die seit Jahren im Raum steht: Wie stellen es sich Europa und die USA eigentlich vor, die strukturellen Ungleichheiten, die durch den Sklavenhandel geschaffen wurden, unter denjenigen zu kompensieren, die seither ständig die global Benachteiligten waren?

Die postkolonialen Täterstaaten wehren sich gegen Rechtsansprüche. Wie kann man sich das vorstellen: Haben sie sich diesbezüglich international koordiniert oder zumindest abgesprochen?

Ich glaube, einer solchen Absprache bedarf es nicht. Die Bundesregierung würde sich schon rein intuitiv nicht auf dieses Minenfeld begeben. Ich schließe aber auch nicht aus, daß es bei der einen oder anderen Begegnung im EU-Rahmen zu der einen oder anderen Bemerkung en passant gekommen ist, mit der der Außenminister aus Großbritannien, Frankreich, Portugal, Spanien, Belgien oder einem anderen früheren Kolonialland den deutschen Kollegen zur Vorsicht gemahnt hat. Aber das ist spekulativ. Ich halte es aber nicht für abwegig.

Welche Chancen bestehen angesichts auch dieser internationalen Barrieren, das Thema auf die Agenda der deutschen Politik zu bekommen?

Es ist nicht davon auszugehen, daß sich im öffentlichen Bewußtsein etwas bewegt, und wenn doch, dann eher wenig. Interessanter ist die Entwicklung in Namibia. Einerseits wurde gerade die wochenlang geführte parlamentarische Debatte beendet, und das Parlament entschied sich einstimmig dafür, Berlin mit dem Thema Reparationsforderungen zu konfrontieren. Ein entsprechender Entschließungsantrag war vom Herero- Häuptling Kuaima Riruako als Initiator der Klage vor den US-Gerichten im Parlament eingebracht worden. Die Sache der Herero und Nama wurde zu einer nationalen Sache erklärt und die Forderung nach Reparationen unterstützt. Die Bundesregierung hat ihren Bündnispartner in Gestalt der SWAPO-Regierung in dieser Frage verloren. Das ist eine wesentliche Akzentverschiebung.

Warum hat sich die Position der SWAPO verändert?

Nicht unwesentlich wirkte der Auftritt des Linkspartei-Abgeordneten Hüseyin Aydin im August in Namibia. Er sei Internationalist und empfände es als Skandal, daß der Entschuldigung der Ministerin im August 2004 bisher keine Anerkennung von Kompensation oder Reparation gefolgt ist, erklärte er als Gastredner bei den Gedenkfeiern der Herero, wo er auch mit Regierungsvertretern sprach.

Die Rede des Abgeordneten einer nicht regierenden und weitgehend abgeblockten Partei löst einen derart folgenreichen Prozeß aus – wie ist das vorstellbar?

Warum das Wirkung zeigte, geht auf zwei Gründe zurück: Einerseits vertritt Aydin eine Partei, die die Regierungsvertreter in Namibia an das Deutschland erinnert, das bis 1989 den Befreiungskampf der SWAPO unterstützt hat. Der »gute deutsche Staat« war mit dem Mauerfall abhanden gekommen, lebt aber im SWAPO-Bewußtsein heute in der Linkspartei indirekt weiter. Zum zweiten repräsentiert Hüseyin Aydin von seiner Erscheinung und Herkunft her nicht den deutschen Mainstream, sondern eine Minderheitengruppe, die selbst persönliche Erfahrung mit Ausgrenzung, Unterdrückung, Marginaliserung und Diskriminierung besitzt. Auch dadurch wurden Tore dafür geöffnet, sich mit Forderungen auseinanderzusetzen, die vorher abgeprallt waren.

SWAPO-Generalsekretär Ernest Ngarikutuke Tjiriange ist selbst Herero und studierte in den Siebzigern mehrere Jahre in der Sowjetunion – auch ein Grund für den innernamibischen Brückenschlag?

Er ist tatsächlich prädestiniert dafür, die Verbindung zwischen Herero und Regierung herzustellen. Die war bisher schwer möglich, da die Herero-Interessen von Gruppierungen vertreten wurden, die für ihre Anti-SWAPO-Position bekannt sind. Noch vor zwei Monaten hätte kein Mensch daran geglaubt, daß ein SWAPO-Generalsekretär im Parlament die grundsätzliche Unterstützung der Herero-Forderung erklären würde.

Wie sehen Sie das deutsche Verhältnis zu Namibia ohne DDR, zu der die SWAPO ja herausragend gute Beziehungen hatte?

Es war von Pragmatik auf beiden Seiten geprägt. Eine Bundestagsentschließung bediente sich bereits 1989 eines skandalösen Euphemismus, als sie von der »besonderen historischen Verantwortung« gegenüber Namibia redete und so den Völkermord verniedlichte. Aber die SWAPO-Regierung hat keinen Anstoß genommen, daß unter Verweis darauf die BRD die größte staatliche Geberin im Bereich von Entwicklungshilfeleistungen wurde. Die bilateralen Beziehungen sind kein Liebesverhältnis, sondern ein pragmatischer Pakt unter Regierungseliten. Als Präsident Sam Nujoma 1996 und 2002 auf Staatsbesuch in Deutschland war, wurde allerdings auch augenscheinlich, daß er sich im Osten am wohlsten fühlte, während in der alten BRD schon seine Körpersprache ein sehr distanziertes Verhältnis zum Ausdruck brachte.

Die Erfahrungen mit dem solidarisch agierenden Realsozialismus prägten die SWAPO sicherlich auch programmatisch mit. Was ist heute gemessen am ursprünglichen Anspruch der SWAPO noch sozialistisch?

Nichts. Die Loyalitäten der Vergangenheit existieren auf einer Gefühlsebene. Es ist die Affinität zu einem System, mit dem man vertraut war, in dem man sich sicher fühlte. Verwundete Kämpfer der SWAPO wurden in DDR-Krankenhäusern gepflegt. Die DDR war ein Land, dem die Befreiungsbewegung mehrere hundert der eigenen Kinder anvertraut hat, um sie zu erziehen, zu sozialisieren. Das Gefühl gegenüber dem Osten ist immer noch anders als dem feindlichen kapitalistischen Westen gegenüber– selbst wenn dann die Regierungspolitik der SWAPO inzwischen eher einem neoliberalen Programm verpflichtete ist.

Als in Namibia im November 1989 die Volksabstimmung über die verfassungsgebende Versammlung durchgeführt wurde, fiel gerade die Mauer in Berlin. Als Namibia im März 1990 unabhängig wurde, wählte die DDR gerade eine antikommunistische Regierung. Es drängte sich seinerzeit der Eindruck auf, als hätte die SWAPO schnell und pragmatisch die Vergangenheit entsorgt, oder?

Vielleicht. Aber doch tut sich manch Überraschendes auf der Ebene von emotionalen Affinitäten. So waren zu den Unabhängigkeitsfeiern 2005, anläßlich derer auch der neue Staatspräsident Hifipekunye Lucas Pohamba als Nachfolger von Sam Nujoma vereidigt wurde, zwei deutsche Ehrengäste eingeladen: Der frühere BRD-Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der sich aufgrund seiner Integrität bei den Verhandlungen um die UNO-Resolution 435 zur Unabhängigkeit 1989 hohes Ansehen erworben hatte bei der SWAPO, und Margot Honecker. Genscher erschien aus Krankheitsgründen nicht, doch Margot Honecker, die aus Chile angereist war, saß bei der Fernseh-Live-Übertragung auf der Ehrentribüne drei Stunden lang voll im Bild.

Das wird die Bundesregierung nicht gefreut haben.

* Aus: junge Welt, 11. November 2006 (Wochenendbeilage)


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