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Umdenken statt intervenieren

Von Rüdiger Göbel *

Wie konnte eine Bewegung wie der »Islamische Staat« im Nahen Osten entstehen und so mächtig werden? Wer die Gegenwart verstehen will, muss die Vergangenheit kennen. Michael Lüders beschreibt auf knappem Raum politisch präzise und prägnant, noch dazu gut lesbar, die westlichen Interventionen im Nahen und Mittleren Osten seit der Kolonialzeit und erklärt, welche Auswirkungen sie auf die aktuelle Situation in der Region heute haben. Atomverhandlungen, Diktatorensturz, Bürgerkrieg und Besatzungsterror, in einem wahren Parforceritt führt der frühere Zeit-Korrespondent durch die Länder und Wirrungen der letzten Jahre. Und er fragt: »Die USA haben seit 2001 in sieben mehrheitlich muslimischen Ländern militärisch interveniert oder sie mit Drohnen angegriffen: Afghanistan, Irak, Somalia, den Jemen, Pakistan, Libyen, Syrien: In welchem dieser Staaten haben sich anschließend die Lebensbedingungen der Bewohner verbessert, zeichnen sich Stabilität und Sicherheit ab? Gibt es eine einzige militärische Intervention des Westens, die nicht Chaos, Diktatur, neue Gewalt zur Folge gehabt hätte?«

Westliche Politik glaube an das »Allheilmittel direkter oder indirekter militärischer Interventionen – ohne Rücksicht auf Verluste«, so Lüders. Sie unterstütze üble, aber »gemäßigte« arabische Regime, »allen voran die Golfstaaten und die Putschregierung in Ägypten, weil sie prowestlich sind und Stabilität verheißen«. Westliche Politik verkünde »Demokratie, Freiheit, Menschenrechte«, akzeptiere Wahlergebnisse aber nur, »wenn der Gewinner genehm ist«. So werde Feldmarschall Sisi, der neue Machthaber am Nil, hofiert und umworben, »nicht zuletzt, weil er, aus westlicher Sicht, als Vermittler zwischen Israel und den Palästinensern eine vermeintlich wichtige Rolle spielt«. Lüders konstatiert mit Blick auf Saudi-Arabien, das von der Bundesregierung als »Stabilitätsanker« betrachtet wird: »Westliche Politik macht einen großen Fehler, indem sie den Wahhabismus gewähren lässt, die Muslimbrüder hingegen als Bedrohung sieht. Richtig wäre es andersherum.«

Wie den IS besiegen? »Um dem ›Islamischen Staat‹ wirksam militärisch entgegenzutreten, nämlich mit lokalen Bodentruppen, braucht es die syrische Armee«. Sie allein sei in der Lage, so Lüders, dessen Guerillaverbände zu bekämpfen. Optimistisch ist der Autor nicht, denn »dafür müssten die westlichen Regierungen allerdings über ihren Schatten springen und ihre Differenzen mit dem Assad-Regime beilegen oder wenigstens doch vertagen«. Gleichzeitig den IS und Damaskus ins Visier zu nehmen, sei »abwegig«.

Zentrales Problem im Nahen Osten ist der westliche Freibrief für Israel. »Weder in Berlin noch in Brüssel, geschweige denn in Washington, hat man je Anlass gesehen, Israel auf die Normen internationalen Rechts zu verpflichten«, bringt es Lüders auf den Punkt. Und er stellt auch klar: »Der Gazastreifen gilt nach internationalem Recht auch weiterhin als besetztes Gebiet, ungeachtet des israelischen Abzugs 2005, weil Israel alle Zugänge zur Luft, zur See und auf dem Landweg kontrolliert (…).« Und: »Müssten irgendwo auf der Welt Menschen jüdischen Glaubens unter ähnlichen Bedingungen leben wie Palästinenser unter israelischer Besatzung, würden sie Vergleichbares durchleiden wie die Bewohner des Gazastreifens im Sommer 2014, gäbe es einen Aufschrei des Entsetzens in westlicher Politik und Publizistik.«

Lüders warnt: »Die einseitige Parteinahme für Israel hat Folgen. Sie entwertet Begriffe wie Demokratie und Menschenrechte im Orient, die als Synonyme gelten für Heuchelei und Doppelmoral.«

Das Buch sei insbesondere dem Jugendverband der Linkspartei ans Herz gelegt, der mittlerweile jedwede Israel-Kritik unter Antisemitismusverdacht stellt, sowie den Adepten von »Adopt a Revolution«, die nach vier Jahren Krieg und Zerstörung noch immer der Meinung sind, noch mehr Intervention sei eine Lösung für Syrien.

Michael Lüders: Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet. München 2015, 176 Seiten, 15,40 Euro

* Aus: junge Welt, Montag, 4. Mai 2016


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