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Staaten zertrümmern

Hintergrund. Libanon, Irak, Libyen, Syrien und anderswo: Der Westen arbeitet mit Hochdruck an einer Balkanisierung des »Greater Middle East«

Von Knut Mellenthin *

Die Auflösung Syriens und später auch Iraks in ethnische oder religiöse Einheiten ist langfristig Israels vorrangiges Ziel an der östlichen Front. Syrien wird, im Einklang mit seiner ethnischen und religiösen Struktur, in verschiedene Staaten zerfallen. Es wird dann einen schiitisch-alewitischen Staat entlang seiner Küste, einen Sunniten-Staat im Raum von Aleppo, einen anderen, mit seinem nördlichen Nachbarn verfeindeten sunnitischen Staat in Damaskus und die Drusen geben. Diese werden ebenfalls einen Staat bilden, vielleicht sogar auf unserem Golan, und mit Sicherheit im Hauran und in Nordjordanien. (…) Der Irak, der einerseits reich an Öl und andererseits innerlich zerrissen ist, steht als sicherer Kandidat für Israels Ziele fest. Seine Auflösung ist für uns noch wichtiger als die Syriens. (…) Es werden dann drei (oder mehr) Staaten um die drei größten Städte herum existieren: Basra, Bagdad und Mossul. Die schiitischen Gebiete im Süden werden von den Sunniten und vom kurdischen Norden getrennt sein.«

Die hier skizzierten Ziele, die gegenwärtig nahezu erreicht scheinen, sind Teil eines programmatischen Aufsatzes, der bereits vor gut dreißig Jahren veröffentlicht wurde. Der mit dem Namen Oded Jinon gezeichnete Artikel erschien im Februar 1982 auf Hebräisch in der von der World Zionist Organization herausgegebenen Zeitschrift Kiwunim (Richtungen) unter dem Titel »Eine Strategie für Israel in den 1980er Jahren«. Der in Polen geborene Holocaust-Überlebende Israel Schahak (1933–2001), damals Präsident der Israelischen Liga für Menschen- und Bürgerrechte, brachte Jinons Schrift kurz darauf in englischer Übersetzung mit einem Vor- und Nachwort heraus und machte sie dadurch breiteren Kreisen außerhalb Israels zugänglich.

»Präzedenzfall« Libanon

Schahaks Veröffentlichung trägt das Datum 13. Juni 1982. Eine Woche zuvor waren die israelischen Streitkräfte in den Libanon einmarschiert. Das erklärte Ziel des Feldzugs war, die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO), die dort ihre wichtigsten Stützpunkte hatte, vernichtend zu schlagen und sie vollständig aus dem Lande zu vertreiben. Das gelang tatsächlich, und die PLO mußte für die nächsten Jahre ihr Hauptquartier im weit entfernten Tunis beziehen.

Zugleich strebte Israel mit dieser Intervention an, den Bürgerkrieg, der seit 1975 im Libanon geführt wurde, zugunsten der klerikalfaschistischen Kata’ib – im westlichen Ausland meist »Falange« genannt – zu entscheiden. Ein weiteres Ziel hatte Jinon, der offenbar mit der internen Diskussion vertraut war, in seiner vier Monate vor dem Krieg erschienenen Schrift so formuliert: »Libanons totale Auflösung in fünf Provinzen wird als Präzedenzfall für die gesamte arabische Welt dienen, einschließlich Ägyptens, Syriens, Iraks und der arabischen Halbinsel.«

Israel hatte zuvor schon 1978 und 1981 in geringerem Umfang militärische Operationen gegen den Libanon durchgeführt. Zum zeitgenössischen Hintergrund von Jinons Artikel gehört außerdem der Krieg zwischen Irak und Iran, den Saddam Hussein im September 1980 mit massiver westlicher Ermunterung und Unterstützung begonnen hatte. Er endete erst im August 1988, nachdem auf beiden Seiten Hunderttausende Menschen getötet worden waren und die zwei Länder sich gegenseitig riesige wirtschaftliche Schäden zugefügt hatten.

Als Jinons Aufsatz erschien, war an den Fronten nach anfänglichen irakischen Erfolgen überwiegend Stillstand eingetreten. Auffallend ist, daß dieser Krieg in Jinons Schrift nur mit einem einzigen Satz erwähnt ist, der zudem nicht dessen tatsächliches Stattfinden reflektiert: »Ein irakisch-iranischer Krieg wird Irak auseinanderreißen und zu seinem Ruin führen, bevor es überhaupt imstande ist, gegen uns einen Kampf an breiter Front zu organisieren.« Das könnte darauf hindeuten, daß das Papier in Wirklichkeit schon einige Jahre vor seinem Erscheinen verfaßt worden war. Möglich ist auch, daß der Autor, der höchstwahrscheinlich in dienstlichen Zusammenhängen agierte, seine Gedanken zu diesem Punkt nicht veröffentlichen wollte oder durfte.

Als Jinons Aufsatz publiziert wurde, stand Israel kurz vor dem Abschluß seines Truppenrückzugs von der seit dem Junikrieg 1967 besetzten Sinai-Halbinsel. Grundlage dafür waren die Camp-David-Abkommen von 1978 und der israelisch-ägyptische Friedensvertrag von 1979. Konträr zur Regierungslinie von Menachem Begin forderte Jinon, daß die Wiedergewinnung der Halbinsel ein vorrangiges Ziel sein müsse. Er begründete das mit der großen Bedeutung der dortigen Erdöl- und Naturgasfelder sowie anderer Bodenschätze für die israelische Volkswirtschaft. Der Verlust des Sinai, behauptete er, werde in naher Zukunft zu einer Energieknappheit führen und »unsere Ökonomie zerstören«.

Territoriale Aufgliederung

Zur Rückeroberung der Halbinsel gebe es zwei Wege, »einen direkten und einen indirekten«. Der direkte Weg, eine militärische Besetzung unter Bruch des Friedensvertrages, komme nur in Frage, falls Ägypten einen massiven Vorwand liefern würde. Das sei jedoch wenig wahrscheinlich, da Ägypten nach zwei Kriegen (1967 und 1973) wirtschaftlich aufs äußerste geschwächt und nicht an einer weiteren militärischen Konfrontation interessiert sei. Erfolgversprechend sei hingegen eine territoriale Aufsplitterung des Landes entlang des Gegensatzes zwischen muslimischer Mehrheit und koptisch-christlicher Minderheit sowie weiterer interner Widersprüche. »Wenn Ägypten auseinanderfällt, werden auch Länder wie Libyen, Sudan oder selbst die weiter entfernt liegenden Staaten nicht in ihrer gegenwärtigen Form fortbestehen können, sondern sich dem Niedergang und der Auflösung Ägyptens anschließen. Die Vision eines Kopten-Staates in Oberägypten neben einer Reihe schwacher Staaten mit sehr begrenzter lokaler Macht und ohne eine Zentralregierung ist der Schlüssel zu einer historischen Entwicklung, die nur durch das Friedensabkommen zurückgeworfen wurde, aber langfristig unvermeidlich erscheint.«

Die gesamte muslimisch-arabische Welt, so Jinon, sei lediglich »ein vorübergehendes Kartenhaus, das von Ausländern – Frankreich und Großbritannien in den 1920er Jahren – zusammengeschoben wurde, ohne die Wünsche und Bestrebungen der Bewohner zu berücksichtigen«. »Auf lange Sicht wird diese Welt in ihren derzeitigen Zusammenhängen nicht existieren können, ohne tiefe revolutionäre Veränderungen durchzumachen.« Alle arabisch-muslimischen Staaten stünden vor der »ethnischen und gesellschaftlichen Zerstörung von innen, und in einigen tobt bereits der Bürgerkrieg«. Das traf damals in erster Linie auf den Sudan, Libanon und Syrien zu, wo die Kämpfe zwischen der Regierung in Damaskus und sunnitisch-fundamentalistischen Gruppen in den Jahren 1979–1981 einen Höhepunkt erreicht hatten.

Neben den arabischen Ländern sei auch anderen muslimischen Staaten ein ähnliches Schicksal, also die territoriale Aufsplitterung, bestimmt, meinte Jinon. Explizit nannte er in diesem Zusammenhang die Türkei, den Iran, Afghanistan und Pakistan. Neben ethnischen Unterschieden in den einzelnen Ländern hob er besonders das Konfliktpotential zwischen Sunniten und Schiiten hervor.

Chefstratege Scharon

Israel Schahak interpretierte Jinons Aufsatz in seinem Vorwort als »den genauen und detaillierten Plan des derzeitigen zionistischen Regimes für den Nahen Osten«. Ausdrücklich nannte er in diesem Zusammenhang Ariel Scharon – damals Verteidigungsminister und Chefstratege des Libanonkrieges – und Rafael Eitan, den Generalstabschef der israelischen Streitkräfte. Weiter Schahak: »Die Vorstellung, daß alle arabischen Staaten von Israel in kleine Einheiten zerbrochen werden sollten, trifft man immer wieder im israelischen strategischen Denken. Zum Beispiel schreibt Ze’ev Schiff, der Militärkorrespondent von Ha’aretz (und vermutlich der Kenntnisreichste zu diesem Thema in Israel), das ›Beste‹, was den israelischen Interessen im Irak passieren könne, sei ›die Auflösung Iraks in einen schiitischen Staat, einen sunnitischen Staat und die Abtrennung des kurdischen Teils‹.«

Zahlreiche später erschienene Strategiepapiere folgten der gleichen Linie. Das bekannteste unter ihnen ist das außenpolitische Programm für Benjamin Netanjahu, das 1996 von namhaften Neokonservativen wie Richard Perle, Douglas Feith (von Juli 2001 bis August 2005 Pentagon-Staatsekretär für Politik in der Bush-Administration) und David Wurmser verfaßt wurde. Die Schrift trägt den Titel: »Ein klarer Bruch – Eine neue Strategie zur Sicherung des Herrschaftsbereichs«. Hintergrund war die Ermordung von Premierminister Yitzhak Rabin durch einen ultranationalistischen israelischen Attentäter am 4. November 1995 und der Sieg von Netanjahu in den dadurch notwendig gewordenen Neuwahlen. Grundthema des Papiers der Neokonservativen war die radikale Abkehr von Rabins Verhandlungspolitik gegenüber den Palästinensern und eine aggressive »Neugestaltung« der gesamten Israel umgebenden Region.

Dazu gehörten die Zerstörung Syriens und der Sturz von Saddam Hussein im Irak. Israel müsse »diplomatisch, militärisch und operativ« ein gewaltsames Vorgehen der Türkei und Jordaniens gegen Syrien, unter anderem mit Hilfe »arabischer Stämme«, unterstützen. Ziel sei es, »die Karte des Nahen Ostens neu zu zeichnen, was die territoriale Integrität Syriens in Gefahr bringen würde«. Im Irak solle Israel die Bestrebungen des jordanischen Königshauses der Haschemiten unterstützen, sich wieder der Herrschaft zu bemächtigen, die es 1958 durch einen Militärputsch verlor. Insgesamt wurden diese Punkte in dem Papier allerdings nur beiläufig, konfus und wenig kenntnisreich behandelt. So findet sich dort nichts zum Gegensatz zwischen Sunniten und Alewiten in Syrien oder zwischen Sunniten und Schiiten im Irak, wenn man von der naiven Annahme absieht, daß die libanesischen und irakischen Schiiten aus religionsgeschichtlichen Gründen bereit sein könnten, mit dem jordanischen Königshaus zu kooperieren.

US-Planspiele

Im Juni 2006 veröffentlichte die US-amerikanische Militärzeitschrift Armed Forces Journal einen Artikel von Ralph Peters unter dem Titel: »Blutgrenzen – Wie ein besserer Mittlerer Osten aussehen könnte«. Der Autor, ein 1998 aus den Streitkräften ausgeschiedener Offizier, hatte zuvor mindestens zehn Jahre lang für den militärischen Geheimdienst gearbeitet. Peters setzte, ähnlich wie 24 Jahre vor ihm Jinon, bei der historischen Tatsache an, daß die meisten Grenzen im Mittleren Osten und in Afrika von den »selbstsüchtigen« europäischen Kolonialmächten gezogen wurden, ohne auf ethnische, soziale und religiöse Zusammenhänge Rücksicht zu nehmen. Noch konsequenter als sein israelischer Vorgänger entwickelte der US-Amerikaner auf dieser realen Grundlage die Vorstellung, daß alle Staaten der Region (mit Ausnahme Israels) aufgelöst und ganz neue, seiner Ansicht nach »gerechte« Grenzen gezogen werden müßten. Zum Teil entsprangen diese allerdings nur der Phantasie des Autors. So etwa die Bildung eines »Großlibanon« unter Einbeziehung des syrischen Küstenstreifens, was bis dahin noch niemand, von dem die Welt Kenntnis erhalten hat, gefordert hatte.

Peters »neue Landkarte« sah selbstverständlich einen »kurdischen Staat« vor, der aus der Türkei, Syrien, dem Irak und Iran herausgeschnitten werden soll. In der Realität gibt es allerdings zwischen den Kurden dieser Länder nur wenig nationalen Zusammenhalt, aber dafür vielfältige Widersprüche. Diese hängen damit zusammen und bilden zugleich die Voraussetzung dafür, daß unterschiedliche kurdische Kräfte sich immer wieder zum Instrument von Machtinteressen konkurrierender Staaten und Regimes machen und gegeneinander ausspielen ließen.

Neben dem kurdischen Norden sollen nach Peters’ Vorstellungen auf dem Territorium Iraks auch ein sunnitischer und ein schiitischer Staat entstehen. Das entspricht ungefähr der real entstandenen Lage nach der Zerschlagung des Baath-Regimes, jedoch mit dem Unterschied, daß der US-amerikanische Geostratege dem neuen Schiitenstaat auch Teile Irans und Saudiarabiens einverleiben wollte. Iran müßte außerdem ein Gebiet im Norden um die Stadt Täbriz an Aserbaidschan abtreten.

Saudi-Arabien soll nach diesem Konzept Gebiete an Jordanien, Jemen und den eben erwähnten Schiitenstaat abtreten, auf dessen Gebiet demnach die meisten saudischen Erdölvorkommen lägen. Darüber hinaus soll ein Gebiet um Mekka und Medina als »Heiliger Islamischer Staat« von Saudi-Arabien abgetrennt werden.

Pakistan würde nach dem Willen von Peters auf nicht einmal die Hälfte seines gegenwärtigen Territoriums verkleinert. Der gesamte Norden und Nordwesten des Landes soll Afghanistan zugeschlagen werden. Im Südwesten Pakistans soll ein »Freies Balutschistan« entstehen, das auch Teile Irans einschließt.

Die genannten Beispiele stehen für eine sehr viel breitere politische Literatur, die sich mit der Destabilisierung und Balkanisierung des gesamten – mehr oder weniger künstlich konstruierten – Großraums zwischen der Straße von Gibraltar im Westen und der chinesischen Grenze im Osten oder auch monothematisch mit der Zerschlagung einzelner Staaten beschäftigt. Länder »von der Landkarte zu fegen«, dem iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad mit Hilfe eines falschen Zitats angehängt, ist in Wirklichkeit ein beliebtes Thema westlicher Strategiebildung, Politik und Publizistik.

Wie weit Jinon und seine Nachfolger den herrschenden Diskurs widerspiegeln oder beeinflussen, ist eine spekulative Frage, die sich aber aus der praktischen Anschauung der letzten Jahrzehnte hinreichend klar beantworten läßt: Vor allem seit dem 11. September 2001 sind die USA und ihre Verbündeten dabei, eine Schneise der Destabilisierung durch die muslimische Staatenwelt zu schlagen.

Wie Irak in absehbarer Zukunft jemals wieder als einheitlicher Staat regiert werden könnte, ist nicht zu erkennen. Der kurdische Norden funktioniert bereits weitgehend unabhängig von Bagdad. Die Gegensätze zwischen Sunniten und Schiiten im Rest des Landes scheinen unüberbrückbar und werden durch menschenverachtende Terroranschläge, die überwiegend von extremistischen Sunniten ausgehen, immer weiter verschärft. Wirtschaft und Gesellschaft sind durch die Flucht mehrerer Millionen Menschen ins Ausland nachhaltig geschädigt.

In Afghanistan wird ein Bürgerkrieg entlang religiöser, ethnischer, regionaler und politischer Spaltungslinien nur durch die befristete Präsenz der NATO-Truppen zurückgestaut. Die offiziellen afghanischen Militär- und Sicherheitskräfte, die in den vergangenen Jahren mit westlicher Unterstützung maßlos aufgebläht wurden, werden auseinanderfallen und die Armeen der Bürgerkriegskräfte stärken, sobald die Kontrolle durch die NATO nachläßt. Am Rande sei angemerkt, daß die systematische Zerstörung Afghanistans schon 1979/80 mit der US-amerikanischen Unterstützung für die sunnitisch-fundamentalistischen Rebellen gegen die säkulare Zentralregierung in Kabul begann.

Libyen ist nach der westlichen Intervention des vorigen Jahres und dem dadurch erzwungenen Sturz von Muammar Al-Ghaddafi in Dutzende konkurrierender und sich bekriegender Machtbereiche zerfallen. Auf religiösem Gebiet sind gewaltsame Konflikte zwischen gemäßigten muslimischen Strömungen und radikalen Extremisten programmiert. Die durch den Bürgerkrieg freigesetzten libyschen Waffen tragen dazu bei, weitere Länder durch Aufstände und Terror zu destabilisieren – von Mali und Niger im Westen bis nach Syrien im Osten. Es gibt keine funktionierende Zentralmacht mehr, und es zeichnet sich auch nicht ab, wie sie künftig neu entstehen könnte – außer durch neue bürgerkriegsartige Kämpfe, die wieder zu einem autoritären, repressiven Staat führen.

Während die unterschiedlichen Gegner Ghaddafis sich wenigstens während des Bürgerkrieges von Anfang bis Ende unter einer gemeinsamen politischen und militärischen Führung zusammenfanden, ist in Syrien nicht einmal das der Fall. Unter diesen Umständen erscheint selbst eine Aufsplitterung Syriens in drei oder vier geschlossene staatliche Einheiten illusorisch.

Erwünschtes Chaos

In allen vier Fällen brauchten die imperialistischen Strategen im wesentlichen nichts zu erfinden oder künstlich zu erschaffen, sondern konnten schon seit langem vorhandene Widersprüche und Sollbruchlinien nutzen. Die vier Staaten, von denen drei – Irak, Syrien und Libyen – ausschließlich das Produkt westlicher Kolonialpolitik am Kartentisch waren, wurden letztlich weder durch eine gemeinsame Nationalgeschichte noch durch eine belastungsfähige einheitliche Ideologie zusammengehalten, sondern nur durch eine starke Zentralmacht, die sich diktatorischer Mittel bediente. Es reichte aus, diese Zentralmacht durch eine militärische Aggression zu zerstören, wie im Irak und in Afghanistan, oder durch allseitige Förderung und Unterstützung von Rebellionen einen »Regimewechsel« herbeizuführen, um die real existierenden Widersprüche zu entfesseln und zu einem kaum noch reparablen Chaos zu steigern. Daß genau dies geschah, war kein ungewollter Betriebsunfall, sondern mit größtmöglicher Sicherheit vorauszusehen. Drei der so produzierten »Failed States« – Irak, Libyen und Syrien – waren vergleichsweise säkular und modern regiert worden.

Die Liste gründlich und dauerhaft destabilisierter Staaten des »Greater Middle East« ist auf jeden Fall um den im vorigen Jahr nach jahrzehntelangen Kämpfen geteilten, aber damit noch keineswegs befriedeten Sudan zu ergänzen. Der Libanon befindet sich mehr oder weniger schon seit fast 40 Jahren im Bürgerkrieg und wird voraussichtlich durch den Zerfall Syriens noch stärker in Mitleidenschaft gezogen werden. Auch im Jemen gibt es keine funktionierende Zentralmacht mehr, sondern statt dessen permanente bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen instabilen Allianzen tribalistischer, regionaler und religiöser Gruppen. Die Zertrümmerung Saudi-Arabiens, das als Staat nach dem Ersten Weltkrieg gewaltsam geschaffen wurde, ist ein erklärtes Hauptziel der US-amerikanischen Neokonservativen. Ebenso wie die anderen Staaten der Halbinsel wird auch Saudi-Arabien in seiner jetzigen Form nur so lange existieren, wie es den Interessen der maßgeblichen Kreise der USA entspricht. Völlig ungewiß ist nicht zuletzt die künftige Entwicklung in Ägypten, wo sich nach dem Sturz Mubaraks im vorigen Jahr noch kein neues Machtzentrum herausgebildet hat.

Abgerundet wird das Bild durch den desolaten Zustand der Arabischen Liga, die zur Zeit nicht mehr als ein vollständig von Saudi-Arabien und Katar beherrschtes Instrument westlicher Interessen ist. Die Entsolidarisierung der muslimischen Welt hat einen Tiefpunkt erreicht. Die Gründe dafür sind nicht nur in den Machenschaften des Westens, sondern auch in ihren eigenen Strukturen und Handlungsweisen zu suchen.

* Aus: junge Welt, Freitag, 31. August 2012


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