Für wen schlägt das Herz?
Der Westen wird sich aus der arabischen Welt zurückziehen, ist der Publizist Ulrich Tilgner überzeugt *
Ulrich Tilgner berichtet seit über dreißig Jahren aus dem Nahen und Mittleren Osten. Für seine Berichterstattung aus Bagdad erhielt er 2003 den Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis für Fernsehjournalismus. Seit 2008 arbeitet er als Korrespondent für das Schweizer Fernsehen. Zu seinen wichtigsten Buchveröffentlichungen zählen: »Umbruch im Iran« (1983), »Der inszenierte Krieg« (2003), »Zwischen Krieg und Terror. Der Zusammenprall von Islam und Politik im Mittleren Osten« (2006). In seinem neuen Buch »Die Logik der Waffen. Westliche Politik im Orient« (Orell Füssli Verlag, 264 S., br., 19,95 €) zeichnet er die Spur des Scheiterns westlicher Interventionen und Sanktionen nach. Mit Ulrich Tilgner sprach für »neues deutschland« Adelbert Reif.
Herr Tilgner, ist der Titel Ihres neuen Buches »Die Logik der Waffen« nicht verfehlt? Denn was für eine Logik ist das, Rüstungsgüter in eine Region zu exportieren, für die man sich vorgeblich Stabilität und Frieden wünscht?
Das ist eben ein Kernproblem der
Politik – zu glauben, mit der Anhäufung
und dem Einsatz von
Waffen Probleme lösen zu können.
Diese Vorstellung ist auf dem Boden
der Kriege der vergangenen
Jahre gewachsen. Das Gemeinsame
zwischen der Kabuler Regierung
unter Hamid Karzai und der
neuen Regierung in Bagdad ist,
dass sie – ungeachtet aller Unterschiede
– das Ergebnis westlicher
militärischer Intervention sind.
Und das setzt sich fort im Bürgerkrieg
in Syrien, der eine unglaubliche
Brutalität entwickelt.
Neben Syrien bestimmt Ägypten
zur Zeit das Krisengeschehen im
Nahen und Mittleren Osten. Welche
Kräfte werden sich über kurz
oder lang dort durchsetzen?
Ägypten steht vor einer Weichenstellung.
Präsident Mursi verspricht
allen eine gute Zukunft.
Aber wenn er keine große Koalition
schafft, wird er dem Druck seiner
radikalen Bündnispartner
nachgeben müssen. Jetzt versucht
er, die Straße zu beruhigen und die
liberalen und linken Nationalisten
irgendwie einzubinden. Langfristig
kommt er damit nicht durch. Er
muss die Öffnung wagen. Die Mitglieder
dieses politischen Spektrums
sind zwar meist auch gläubig,
betrachten jedoch Religion als
Privatsache, die keinen Einfluss
auf staatliche Politik haben soll.
Mursi und die Moslembrüder
scheuen sich, diesen Schritt zu gehen.
Aber ohne diesen Schritt wird
es eine weitere Radikalisierung
und eine weitere Aufsplitterung in
Ägypten geben.
Muss man befürchten, dass
Ägypten mittel- oder sogar längerfristig
in einen Zustand der
Anarchie verfällt?
Das glaube ich nicht. Ägypten ist
ein uralter Staat mit einer zentralen
Gewalt. Die Menschen wissen,
dass sie ohne eine Regierung nicht
weiterkommen. Der Sturz von
Mubarak kam viel zu spät. 15 Jahre
früher hätte eine neue Regierung
in Kairo ein leichteres Spiel
gehabt, die richtigen Weichen zu
stellen. Mittlerweile ist die Entwicklung
der Weltwirtschaft davongezogen.
Und wenn der zeitliche
Rückstand nicht wettgemacht
wird, sondern sich durch die innere
Zersplitterung noch weiter vergrößert,
werden die sozialen und
wirtschaftlichen Probleme in
Ägypten nicht gelöst werden können.
Die soziale Katastrophe ist
damit programmiert.
Worin unterscheiden sich die
Konflikte in Ägypten und Syrien?
In Ägypten erfolgte der Machtwechsel
durch einen breiten Protest
der jungen Generation. Gruppen
unterschiedlicher Ideologien
und Religionen waren beteiligt.
Christen, Muslime, Nationalisten,
Linke schlossen sich zu diesem
Bündnis der Straße gegen die Regierung
zusammen.
Dieser Ansatz scheiterte in Syrien
bereits zu Beginn, weil Saudi-
Arabien bewaffnete Gruppen sofort
mit Waffen unterstützte. Deserteure
bekamen Waffen und Geld
als Anreiz. Die Opposition der Intellektuellen,
der Akademiker und
der bürgerlichen Gruppen in Damaskus
und Aleppo wurde in den
Hintergrund gedrängt. Zudem
versuchte Assad, diese Gruppen
einzubinden. Das heißt, der friedliche
Protest, der klassische Arabische
Frühling wurde in Syrien
abgewürgt und sehr schnell durch
einen bewaffneten Kampf ersetzt.
Dieser mündete in einen Bürgerkrieg,
der zu einer unglaublichen
Selbstzerfleischung der syrischen
Gesellschaft führen wird.
Wie könnte die Zukunft Syriens
nach dem Ende des Assad-Regimes
aussehen?
Das lässt sich nicht vorhersagen,
weil nicht einmal klar ist, ob das
Assad-Regime fällt. Es könnte sein
– und das ist die Prognose von
Lakhdar Brahimi, dem UN-Vermittler
aus Algerien –, dass das
Land in verschiedene Herrschaftsgebiete
zerfällt: in sunnitische,
kurdische, christliche Regionen. In
Damaskus könnte es ein Machtzentrum
von Assad geben, das er
mit seinen Getreuen noch halten
kann.
Militärische Gruppen übernehmen
die Kontrolle in den jeweiligen
Gebieten und reiben sich in Clankämpfen
auf. Der Bürgerkrieg schwächt sich in
der Folge ab, und die jeweiligen Warlords
bauen ihre Strukturen aus.
Unterstützt werden sie aus dem
Ausland, von der Türkei, Saudi-Arabien, Iran, Russland und von
wo auch immer. Darum ist Brahimi überzeugt, dass jetzt gehandelt
werden muss. Wenn kein Kompromiss erzielt wird, droht die
Fragmentierung Syriens.
Welche Auswirkungen wird das
für den Westen haben?
Keine großen. Die innerarabischen
Auswirkungen sind viel bedeutsamer.
Es ist zu beobachten, dass
sich der Westen vorsichtig zurückzieht.
Er kann in dieser Region militärisch
und politisch nicht konstruktiv
arbeiten. Weder die westliche
Politik noch der westliche Militäreinsatz
erzielten Erfolge. Arabische
Akteure übernehmen die
Kontrolle über die Region, vor allem
Saudi-Arabien mit seinen immensen
Öleinnahmen. Die saudische
Königsfamilie hat großes Interesse
daran, den Arabischen
Frühling zu beenden. Mit seinem
Geld und seinem Einfluss, der religiös
vorgetragen wird, hat Saudi-
Arabien die Möglichkeit, in der
Region gefällige politische Strukturen
zu schaffen.
Wird es somit zu neuen Kräfteverschiebungen
im Nahen und Mittleren Osten kommen?
Langfristig wird die Region von
den reichen Staaten der arabischen
Halbinsel beherrscht werden,
die selbst aber immer größere
Legitimationsprobleme entwickeln.
Zur eigentlichen Veränderung
wird es erst kommen, wenn
die Monarchien und Fürstentümer
in der Golfregion zusammenbrechen.
Wann das passiert, ist nicht
prognostizierbar.
Der Westen wird sich aus der
Region mehr und mehr zurückziehen.
Das hängt damit zusammen,
dass die Ölproduktion von allen
Beteiligten – so unterschiedlich sie
sein mögen – mit aller Kraft vorangetrieben
wird. Sowohl die Regierung
in Teheran als auch das
saudische Königshaus und Assad
sind auf Devisen angewiesen. Einen
gemeinsamen Ölboykott wie 1970 wird es nie wieder
geben. Der Weltmarkt wird mit
Energie versorgt, und damit erübrigt
sich eine westliche Intervention.
Worin bestehen die größten Fehler der europäischen Politik im
Nahen und Mittleren Osten?
Die europäischen Staaten haben sich die amerikanische Art, Militäreinsätze
durchzuführen, zu eigen gemacht. Die Umstrukturierung
und die Professionalisierung der Streitkräfte sowie die Abschaffung
der Wehrpflicht erfolgten ebenfalls nach amerikanischem
Vorbild. Durch eine Wehrpflicht
wäre die Bevölkerung in Militäreinsätze ganz anders involviert,
als wenn eine Berufsarmee oder eine Armee von Zeitsoldaten
in einen Kampf geschickt wird.
Überall sind die USA das große
Vorbild. Damit hat Europa die
Chance verspielt, in der Region als
Partner für eine prowestliche, entmilitarisierte
Entwicklung gesehen und gewählt zu werden.
Wie sollte sich Europa gegenüber
den Problemen der Länder im Nahen und Mittleren Osten verhalten?
Extrem wichtig wäre es, dass Europa
eine konsequente Position im israelisch-palästinensischen Konflikt
einnimmt und auf die Schaffung eines lebensfähigen palästinensischen
Staates drängt. Es kann nicht sein, dass Europa mit
der Fatah in Ramallah verhandelt,
wenn es Probleme mit der Hamas gibt. Europa muss auch mit der Hamas verhandeln. In Syrien müsste es mit offensivem politischen
Einsatz auf die Beendigung des Bürgerkrieges drängen, statt
ihn zu verschweigen, wie dies derzeit
geschieht. Und schließlich sollte Europa sich um einen Dialog
mit Iran bemühen, in dem das Land ernst genommen wird und
man nicht nur Vorschriften macht.
Europa darf sich nicht in diese Sanktionsfalle der USA hineinbegeben. Langfristig führt es nur zur Schaffung eines weiteren Katastrophenherdes, wenn ein Land wie Iran implodiert, weil es so sanktionsgeschwächt
ist.
Sind Sanktionen überhaupt ein
geeignetes Mittel, um das Regime
in Iran zu lenken?
Die Sanktionspolitik führt zu einer Schwächung Irans als politisches,
wirtschaftliches und soziales Gebilde, aber nicht zu einer Schwächung
des Regimes. Und wenn Iran zu schwach ist, um eine neue
Politik entwickeln zu können, es an Geld und Ressourcen fehlt und die
Industrie zusammenbricht, kommt eine Entwicklung in Gang, die man
im Westen überhaupt nicht bedenkt. Die Sanktionen werden nicht dazu führen, dass die Islamische Republik durch eine prowestliche
Regierung ersetzt wird und sich eine neue produktive politische Atmosphäre entwickelt. Stattdessen
wird das Land zusammenbrechen. Es war seinerzeit ein großer
Fehler der USA, zu meinen, ein sanktionsgeschwächter Irak eigne
sich, das Regime zu stürzen und ein neues System aufzubauen.
Ähnlich wird es in Iran sein.
Seit geraumer Zeit ist eine immer
stärkere Beteiligung Deutschlands
an den Kriegen im Nahen
und Mittleren Osten und nun auch
in Afrika zu beobachten. Die Anschaffung
der Killerdrohnen durch
die Bundeswehr vervollständigt
das Bild deutscher Kriegsbereitschaft.
Welche Auswirkungen wird
dies auf das Bild von Deutschland
in jenen Regionen haben?
Das konnte man in Afghanistan
beispielhaft sehen. Nachdem die
AWACS-Flugzeuge geschickt worden
waren, gab es einen Schwenk
in der afghanischen Bevölkerung.
Man billigte Deutschland keine
Sonderrolle mehr zu, sondern betrachtete
es als Teil der westlichen
Staaten, im Bündnis mit den USA.
Das gilt mittlerweile für die gesamte
Region und für Afrika, selbst
wenn Deutschland nicht diese Art
des bewaffneten Eingreifens wie
die USA pflegt.
Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien
und jetzt Mali ... Es scheint,
dass sich die Spirale kriegerischer
Interventionen immer schneller
bewegt. Wie wird es weitergehen?
Mit den Drohnen erleben wir eine
völlig neue Phase der Kriegführung. Die USA sind federführend.
Sie führen Geheimeinsätze durch. Und wie viele Soldaten dabei umkommen,
erfährt man nicht. Mal sind es Soldaten, in anderen Fällen
werden CIA-Mitarbeiter als Soldaten
ausgegeben. Betrieben wird eine indirekte und geheime Kriegführung.
Sie erfasst immer größere Bereiche, weil die Idee, radikale
Kräfte mit militärischem Einsatz zu schwächen, nicht greift. Im Gegenteil, Militärinterventionen rufen
Widerstand hervor.
Der Kampf gegen den Terror führt zu einer Verbreiterung des
Terrors. Es sind ja nicht die Bewohner Malis, die auf einmal Terroristen
werden wollen, sondern es sind unzufriedene Populationen
und Stämme sowie vernachlässigte Minderheiten. Wer meint, durch
bewaffnete Verfolgung, Luftangriffe und Drohneneinsätze diese
Radikalen schlagen zu können, irrt. Sie werden sich immer neue
Wirkungsfelder suchen. Und gerade in Afrika werden sie noch viele
finden.
Sind Ihre Prognosen für Afrika ähnlich düster wie für den Orient?
Mittelfristig sind meine Prognosen auch für Afrika düster. Aber dass
die afrikanischen Staaten zwangsläufig
eine lange Periode des Horrors durchlaufen müssen, sehe ich
nicht. Langfristig haben sie eine aussichtsreiche Zukunft. Im Mittleren
Osten ist es nur eine Frage der Zeit, wann sich die politischen
Strukturen ändern. In Afrika wird
es ähnlich sein. Es gibt dort durchaus eigenständige Entwicklungen,
zum Beispiel in einigen ostafrikanischen Staaten. Viel wird
davon abhängen, was in Ägypten,
in Ghana und in den westafrikanischen
Staaten passiert.
Hilfreich wäre, wenn der Westen das Bündnis mit der jungen Generation und den Trägern zukünftiger
Modernität in diesen Ländern suchte, statt sich immer
wieder auf die Seite von merkwürdigen
Herrschern zu schlagen wie dem saudischen König, dem jordanischen
König, dem König von Marokko oder anderen autoritären
Herrschern in Afrika. Der Westen muss klar machen,
für wessen Seite sein Herz schlägt.
Kann er sich dazu nicht durchringen,
wird er künftige Bündnispartner
vor den Kopf stoßen und das Leben der Regime verlängern.
* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 10. April 2013
Das Buch zum Thema:
Ulrich Tilgner: Die Logik der Waffen. Westliche Politik im Orient
Orell Füssli Verlage: Zürich 2012, Hardcover; EUR 19,95 [D] 20,60 [A]; SFR 26,90; ISBN 978-3-280-05489-5
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