"Alle Initiativen in und für die Region müssen darauf hinauslaufen, die Sicherheit Israels zu verbessern"
SPD verabschiedet Konzept für den Nahen Osten (Dokumentation) - Mit Anmerkungen von Reiner Bernstein
Vorschläge zur Lösung des Nahost-Konflikts erleben zur Zeit wieder eine Konjunktur. Vor wenigen Tagen haben wir das Konzept der Linksfraktion im Bundestag vorgestellt, kritisch kommentiert von Reiner Bernstein (siehe: Sicherheit für Israel – Gerechtigkeit für Palästina).
Heute dokumentieren wir die Vorschläge der SPD vom 18. August, ebenfalls mit einem kritischen Kommentar von Reiner Bernstein versehen.
18.08.2006
Für einen dauerhaften Frieden - Anstöße für ein politisches
Gesamtkonzept in Nahost
Unter Leitung des SPD-Vorsitzenden Kurt Beck hat das Präsidium der SPD
am Freitag (18.08.2006) einstimmig Anstöße für ein politisches
Gesamtkonzept in Nahost beschlossen. Lesen Sie hier den Beschluss des
Präsidiums im Wortlaut:
Durch die UN-Resolution 1701 gibt es die Chance, ein Ende des
erschütternden Konflikts im Nahen Osten zu erreichen.
UN-Generalsekretär Kofi Annan hat mit der israelischen und libanesischen
Regierung eine Vereinbarung über eine Waffenruhe getroffen, die von den
Konfliktparteien weitgehend eingehalten wird und die Anlass zur Hoffnung
gibt, dass das entsetzliche Leid der Menschen vor Ort beendet werden kann.
Dabei ist klar, dass der Nahost-Konflikt nicht allein durch militärische
und polizeiliche Maßnahmen gelöst werden kann. Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten wissen, dass man bei den Ursachen von Konflikten
ansetzen muss, wenn man zu einem dauerhaften und stabilen Frieden kommen
will. Unsere Ziele sind auch hier die Förderung von Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten.
Neben der schnellen humanitären Hilfe, die die Menschen erreichen muss,
ist es nun entscheidend, eine weitgehende politische Flankierung
vorzunehmen, um eine nachhaltige Perspektive in der Region zu
entwickeln. Nur die Kombination aus einer starken politischen Initiative
mit dem Einsatz einer UN-Friedenstruppe hat Aussicht auf Erfolg.
Jede Initiative muss dabei international eingebettet sein: Den Vereinten
Nationen im Quartett mit der EU, den USA und Russland kommt dabei eine
zentrale Rolle zu. Das Nahost-Quartett muss seine seit 2002 laufende
gemeinsame Arbeit zur Umsetzung des Nahost-Friedensfahrplans („roadmap“)
nun wieder verstärkt aufnehmen. Ebenfalls sind die Länder in der Region
gefragt, einen substantiellen Beitrag für einen stabilen Frieden zu leisten.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat diesem Ansatz Rechnung
getragen, indem er seine diplomatischen Initiativen eng mit unseren
internationalen Partnern abgestimmt hat. Mit seinem unermüdlichen
Engagement und durch seine Reisen nach Israel, Libanon, in die
Palästinensischen Autonomiegebiete, nach Ägypten, Jordanien und
Saudi-Arabien leistet der deutsche Außenminister einen entscheidenden
Beitrag zur Regelung des Konflikts und zu einem umfassenden Lösungsansatz.
Die Beschlüsse der Vereinten Nationen, der Europäischen Union, des
G8-Gipfels und der Libanon-Konferenz in Rom zeigen, dass die
internationale Gemeinschaft weiß, dass ein breiter Lösungsansatz für den
Nahen Osten Not tut.
Aus Sicht der SPD muss ein politisches Gesamtkonzept u.a. folgende
Punkte enthalten:
-
Israel sichern: Alle Initiativen in und für die Region müssen
darauf hinauslaufen, die Sicherheit Israels zu verbessern. Jeder, der
auch nur den leisesten Zweifel am Existenzrechts Israels aufkommen
lässt, muss mit unserem entschiedenen Widerstand rechnen. Israel hat ein
selbstverständliches Recht, in Frieden und ohne Furcht vor unsäglichen
Attacken zu leben. Die als Geiseln genommenen israelischen Soldaten
müssen unverzüglich und bedingungslos freigelassen werden.
- Libanon stärken: Der Libanon war nach Beendigung des Bürgerkriegs
auf einem guten demokratischen Weg. Die Menschen im Libanon haben ein
Recht auf eine friedliche Zukunft. Ziel aller Maßnahmen für den Libanon
muss sein, eine – auch für die Menschen vor Ort – funktionierende
Staatlichkeit wieder herzustellen, die für eine innere Befriedung des
Libanon notwendig ist. Dies beinhaltet humanitäre Hilfe und umfassende
Aufbauhilfe für die zerstörte Infrastruktur, beispielsweise beim
schnellen Wiederaufbau der Wasserversorgung. Zusätzliche Instrumente für
eine Stabilisierung des Libanon könnten u.a. eine internationale
Geberkonferenz, ein Schuldenerlass und die Einstufung des Libanon als
Kooperationsland für Entwicklungshilfe sein.
- Palästina aufbauen: In erster Linie muss es hierbei darum gehen,
den Geist der sogenannten roadmap, den von Israel und Palästina
anerkannten, bislang aber nicht umgesetzten Friedensplan, wieder neu zu
beleben. Es bleibt dabei, dass ohne die Herstellung eines eigenständigen
überlebensfähigen palästinensischen Staates eine Lösung des
Nahost-Konfliktes nicht möglich ist.
Außerdem müssen mit großem Nachdruck die Fragen der Grenzziehung,
der palästinensischen Flüchtlinge, der Siedlungen, des Status Jerusalems
und der Verteilung der Wasserressourcen geklärt werden.
Deutschland und die EU werden sich weiterhin mit großem
Engagement und substantieller Finanzhilfe für Palästina einsetzen.
Israel muss, um die Lebensbedingungen vor Ort zu verbessern, die
palästinensischen Mittel aus Steuern und Zoll freigeben, sowie die
Bewegungsfreiheit für Menschen und Güter wiederherstellen.
- Humanitäre Hilfe verstärken: In den palästinensischen Gebieten
ist die humanitäre Situation zum Teil erschütternd. Die internationale
Gemeinschaft – und damit auch Deutschland - muss über das bereits
Veranlasste hinaus, schnell und unbürokratisch Mittel zur Verfügung
stellen, um eine Versorgung der Menschen sicherzustellen.
- Zivilgesellschaftliche Strukturen fördern: In den
palästinensischen Autonomiegebieten gibt es positive
zivilgesellschaftliche Entwicklungen und Ansätze eines konstruktiven
innerpalästinensischen Dialogs. Es ist notwendig, diesen Prozess zu
begleiten und zu fördern, mit dem Ziel, zu einer inneren Befriedung in
Palästina zu kommen. Der palästinensische Präsident Machmud Abbas ist
der gewählte Repräsentant seines Volkes, der unsere intensive
Unterstützung verdient. Darüber hinaus hat das Nahost-Quartett der
Hamas-Regierung einen Dialog angeboten. Die hierfür genannten
Forderungen (Anerkennung Israels, Abschwören von Gewalt und das
Akzeptieren der einschlägigen internationalen Vereinbarungen) gelten
unverändert. Auf dieser Basis befürworten wir einen Dialog mit der
gewählten palästinensischen Regierung. Die Bildung einer Regierung der
nationalen Einheit, die die Quartett-Kriterien anerkennt, wird befürwortet.
- Freilassung von Gefangenen: Die Europäische Union hat zurecht
gefordert, die gewählten palästinensischen Regierungsmitglieder und
Parlamentarier freizulassen. Dies ist ein wichtiger Schritt, der zu
einer Entspannung der Situation beitragen würde.
- Regionale Mächte einbeziehen: Es ist ein richtiger Ansatz des
deutschen Außenministers, den schwierigen Gesprächspartner Syrien in die
diplomatischen Aktivitäten einzubeziehen. Allerdings kann ein solcher
Dialog nur auf der Grundlage eines klaren Bekenntnisses zum friedlichen
Ausgleich regionaler Interessenunterschiede erfolgen. Erst damit bietet
sich die Chance, in einen umfassenden Dialog über nachhaltigen Frieden
einzusteigen und Grenzfragen endgültig zu klären.
Auch andere Länder in der Region und die Arabische Liga sind
Gesprächspartner, die einen Beitrag zu einer Gesamtlösung leisten können
und müssen. Wir wollen den Dialog mit allen Partnern, die an einem
umfassenden Frieden auf der Basis internationaler Vereinbarungen
interessiert sind.
Das Angebot, das die Europäische Union zusammen mit den ständigen
Sicherheitsratsmitgliedern an Iran gemacht hat, zeigt, dass wir bereit
sind, mit allen Staaten in der Region in einen konstruktiven Dialog
einzusteigen. Iran sollte die Chance nutzen und konstruktiv auf den
Vorschlag reagieren.
- Abrüstungsinitiativen wiederbeleben: Wir müssen das Thema
Abrüstung wieder mit größerem Nachdruck auf die Tagesordnung setzen.
Dabei gilt es, den Nichtverbreitungsvertrag insgesamt zu stärken und
alle Länder, die ihn bislang nicht unterzeichnet haben, zu ermutigen,
dies zu tun. Wir halten am Ziel einer atomwaffenfreien Welt fest und
müssen auch über regionale Sicherheitsstrukturen den berechtigten
Sicherheitsinteressen der Länder Rechnung tragen.
Im Bereich konventioneller Waffen, auch der sogenannten kleinen
und leichten Waffen, müssen wir verstärkt initiativ werden. Die
Zusammenarbeit Deutschlands mit der Arabischen Liga und ihrer
Mitgliedsstaaten im Bereich der Kleinwaffenkontrolle und –zerstörung ist
ein gutes Beispiel für eine vorausschauende Politik, die intensiviert
werden muss.
Regionale Abrüstungsinitiativen - auch in Nahost – und ein
Konzept gemeinsamer Sicherheit in der Region sind Instrumente,
Stabilität zu erreichen und Ressourcen für Zukunftsinvestitionen
freizumachen.
- Terrorismus rechtsstaatlich bekämpfen: Terrorismus ist durch
nichts zu rechtfertigen, egal mit welcher Begründung er auftritt. Dies
gilt im Nahen Osten ebenso wie weltweit. Der Terrorismus muss weiterhin
entschieden bekämpft werden. Dabei ist es elementar, dass beim Kampf
gegen den Terror die internationalen Standards, die in den allgemeinen
Menschenrechten und im Völkerrecht rechtsverbindlich verbrieft sind,
strikt eingehalten werden.
- Transkulturellen Dialog ausbauen: Wir werden es nicht zulassen,
dass geistige Brandstifter überall auf der Welt, einen Konflikt zwischen
dem sogenannten Westen auf der einen und „dem Islam“ oder der arabischen
Welt auf der anderen Seite herbeireden. Der Islam ist eine friedliche
Religion, die wir wertschätzen und respektieren. Und die arabischen
Länder blicken auf eine lange Tradition zurück. Es gilt, auf allen
gesellschaftlichen Ebenen in einen tiefgehenden und kontinuierlichen
Dialog einzutreten. Hier haben staatliche Stellen ebenso eine Aufgabe,
wie Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Stiftungen und andere
zivilgesellschaftliche Akteure.
- Überprüfung bestehender Instrumente: Die Europäische Union hat
eine Reihe von Kooperationsinstrumenten mit den Ländern des Nahen Ostens
entwickelt. Es muss überprüft werden, ob diese Instrumente zu einer
kohärenten EU-Politik in der Region führen. Die EU muss – bei Bedarf –
hier nachsteuern, feinjustieren und ggf. neue Instrumente entwickeln.
Spätestens mit der deutschen Ratspräsidentschaft könnte hierfür die
Initiative ergriffen werden. Gleiches gilt selbstverständlich auch für
die Ressortabstimmung innerhalb Deutschlands.
Der Nahost-Konflikt, das entsetzliche Leiden der Menschen, hat uns alle
betroffen gemacht und schockiert. „Ohne den Frieden ist alles andere
nichts“ hat Willy Brandt sehr zutreffend formuliert. Es ist zu hoffen,
dass unter dem Eindruck des Krieges der letzten Wochen die Chance für
eine breitangelegte Friedensregelung ergriffen wird.
Die SPD und ihre Vertreterinnen und Vertreter werden sich weiterhin mit
großem Nachdruck für eine solche nachhaltige und dauerhafte Lösung
einsetzen. Dies sind wir den Menschen schuldig - und unserem eigenen
Verständnis als Friedenspartei.
Quelle: www.spd.de
Sicherheit durch Frieden oder Frieden durch Sicherheit?
Notizen aus Anlass der "Anstöße für ein politisches Gesamtkonzept in
Nahost" des SPD-Präsidiums vom 18. August 2006
Von Reiner Bernstein, München
Nach dem Verzicht des Deutschen Bundestages, sich nach Mai 2004 explizit
zu politischen Entwicklungen im Nahen Osten zu äußern, stellen die
Anstöße des SPD-Präsidiums „Für einen dauerhaften Frieden“ eine
interessante Positionsbestimmung der Sozialdemokratischen Partei als
Teil der Bundesregierung dar. Der Krieg zwischen Israel und der
libanesischen Hisbollah evozierte diesen Vorstoß, obwohl seit langem die
Ausstrahlung des israelisch-palästinensischen Konflikts auf die Region
offenkundig ist. Jetzt sieht sich die Bundesregierung, zunächst am
Parlament vorbei, zu schwerwiegenden Entscheidungen weit über ein
deutsches Kontingent für die UN-Schutztruppe in Libanon hinaus
veranlasst. Nahöstliche Rücksichten Berlins unter Verweis auf den
Holocaust gehören endgültig der Geschichte an, wenn
-
den deutschen Soldaten das Recht eingeräumt wird, ihr in den
internationalen Rahmen eingebrachtes Gewaltpotenzial gegen beide
Kriegsgegner zu nutzen, wie es die Bundesregierung nicht länger
ausschließt, Israel jedoch seine Luft- und Seeblockade fortsetzt und
sich „das Recht auf Selbstverteidigung“ vorbehält;
- die israelische Regierung entgegen den Entscheidungen der
UN-Truppenstellerkonferenz über die Zusammensetzung der Bataillone auf
libanesischem Territorium mitentscheiden will, aber die Beteiligung von
Staaten zurückweist, die keine diplomatischen Beziehungen zu Israel
unterhalten;
- Syrien tatsächlich eine Stationierung auf der libanesischen Seite
seiner dreihundert Kilometer langen Grenze als „eine feindliche
Situation“ ablehnt – „vorsorglich“ in dem Sinne, weil die Resolution
1701 vom 11. August 2006 eine solche Maßnahme nur für den Süden Libanons
ins Auge fasst und Kofi Annan die syrische Interpretation prinzipiell
bestätigt hat.
Dass sich Israel hüten werde, gegen deutsche Soldaten davon Gebrauch zu
machen (Ulrich Weisser), ist unwahrscheinlich, denn auch unter den
Nachgeborenen dürften deutsche Uniformen zumindest gemischte Gefühle
hervorrufen. Dennoch beginnt die deutsche Politik allmählich auf einen
Kurs der Äquidistanz einzuschwenken, nachdem israelische Politiker aus
dem Oppositionslager wie der Vorsitzende von „Meretz/Yachad“ Yossi
Beilin die Bundesregierung aufgefordert haben, ihre Politik nicht nur an
der Vergangenheit zu orientieren, sondern stärker in die Zukunft
friedlicher Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern zu
investieren. Mit der Resolution 1701 im Rücken tritt Europa insgesamt
als maßgeblicher Akteur im nahöstlichen Weichbild auf. Zu den
Voraussetzungen der Entspannung gehört die Einbindung Syriens, das
aufgrund seiner militärischen und politischen Unterstützung für die
Hisbollah die Resolution 1701 bislang nicht mitträgt. Wie schwer sich
nahöstliche Entwicklungen aus der Ferne steuern lassen, gab der jüngste
Streit zwischen Ehud Olmert und Zippora („Tsipi“) Livni über die
Aufnahme von Gesprächskontakten mit Syrien zu erkennen, nachdem
Frank-Walter Steinmeier seinen Besuch in Damaskus nach der Rede Bashar
Assads am 15. August gerade abgesagt hatte, in der er Israel und die USA
aus dem Friedensprozess verbannen wollte. Olmert folgts seinerseits dem
Generalstab, weil Syrien nur die Sprache der Gewalt verstehe. Die
Wiederbelebung von Abrüstungsinitiativen, die das SPD-Papier fordert,
rückt in weite Ferne.
Sollte es überdies zutreffen, dass die israelischen Angriffe auf
Einrichtungen in Libanon mit Planungen im Washingtoner Pentagon zur
Ausschaltung der iranischen Staatsmacht übereinstimmten, nachdem deren
Angebote nach dem 11. September 2001 zur gemeinsamen Bekämpfung von
„al-Qaida“ von George W. Bush zurückgewiesen worden waren, kann das
europäische Vertrauen in die transatlantische Führungsmacht aufgrund
ihrer Alleingänge auf diesem sensiblen Problemfeld nicht unberührt
bleiben. Besonders der deutschen Politik droht eine Entscheidung
zwischen den USA und Israel.
Für Israel ist die Erfahrung neu, dass sich die Hisbollah mit Iran im
Rücken als eine politisch-ideologisch gefestigte Bewegung präsentiert.
Sie beruft sich auf den schiitischen Islam wie spiegelbildlich der Staat
Israel auf den Zionismus, der nach 1967 eine Transformation von einer
nationalpolitischen Weltanschauung zu einer religiös fundierten Theorie
durchlief. Ein ähnlicher Rückgriff auf religiöse Metaphern war
spätestens nach dem Tod Yasser Arafats, der Integrationsfigur
vielfältiger palästinensischer Widerstandskräfte, in den israelisch
besetzten Gebieten – vor allem jedoch im Gazastreifen – zu beobachten.
Mit dem Sieg von Hamas bei den Parlamentswahlen fand dieser Prozess
seinen Höhepunkt.
Die vielfach als unverhältnismäßig bezeichneten Angriffe des
israelischen Militärs auf Ziele in Libanon haben einen Vergleich mit dem
Feldzug 1982 provoziert. Auch damals rückten israelische Soldaten bis
nach Beirut vor, auch damals wurden viele hunderttausend Libanesen zu
Flüchtlingen. Doch während es Israel gelang, die PLO als Staat im Staate
mit ihren Führungskadern aus dem Land zu vertreiben und ihre Schwäche in
den asymmetrisch angelegten Osloer Vereinbarungen zu verlängern, haben
die Politik und das Militär Israels im Sommer 2006 ihr Ziel nicht
erreicht, die „Partei Gottes“ zu vernichten: Ihre starke Verankerung in
der libanesischen Bevölkerung sowie die offenen und die geheimen
Nachschublinien im Osten und Norden haben die Räumung verhindert. Dieses
Versagen wiegt in israelischen Wahrnehmungen desto schwerer, als die
Politik an die Stelle regionaler vertrauensbildender Maßnahmen
frühzeitig die Doktrin setzte, dass keine, wie auch immer geartete
arabische Konstellation die Abschreckungskapazitäten des jüdischen
Staates gefährden könne. Nachdem die über die ägyptische Grenze in den
Gazastreifen geschmuggelten und die selbst produzierten
Katjuscha-Raketen der „Al-Aqza-Brigaden“ und der „Brigaden des Heiligen
Djihad“ nicht ausgeschaltet werden konnten, erwiesen sich nun auch die
Guerilla-Milizionäre im Norden als schwere Belastung für Teile der
israelischen Bevölkerung.
Gleichwohl ist Israel von einer Gefährdung seiner nationalen Existenz
weit entfernt, es bleibt die stärkste Militärmacht im gesamten Nahen
Osten. Seine derzeit einzige reale Bedrohung besteht in der
kontinuierlichen Neigung zu „vollendeten Tatsachen“ und „einsamen
Schritten“, wie sie sich seit langem in den palästinensischen Gebieten
manifestieren und wie sie im Abzug der Truppen aus dem Süden Libanons
Ende Mai 2000 auf der Grundlage der UN-Resolution 425 zum Tragen kam;
der Sicherheitsrat hatte keine Verhandlungen zwischen den Parteien
vorgesehen. Zum anderen gewann unilaterale Vorgehensweisen seit dem
Ausbruch der Zweiten Intifada im Herbst 2000 und mit dem Abzug aus dem
Gazastreifen im August 2005 neue Kraft. In diese Tradition reihte sich
die israelische Aussperrung der Hamas-geführten Autonomiebehörde als
„Partner“ ein.
Testfall für den Palästinakonflikt
Durch das UN-Mandat für Libanon ist Israel jedoch diplomatisch deutlich
geschwächt. Bislang hatten alle Regierungen die Präsenz und die
Mitwirkung fremder Mächte an Entscheidungen strikt abgelehnt, die als
unverzichtbare „essentials“ nationaler Politik bezeichnet wurden. Die
folgenschwere Frage wird nun darin bestehen, ob die international
getragenen Eingriffe in Libanon einen Durchbruch in den
israelisch-palästinensischen Beziehungen nach sich ziehen, über die
Jerusalem dann nicht mehr allein entscheidet. Damit könnte das Ende des
Krieges nicht nur zum Testfall für die künftige Stabilität in der Region
werden, sondern auch Israels Verhältnis zu seinen unmittelbaren Nachbarn
neu definieren. Auf palästinensischer Seite wird die Selbstkritik über
Anarchie, gezielte Tötungen, Landraub und Schlägereien im Gazastreifen
nach dem Abzug Israels offen ausgetragen; nicht alles lasse sich Israel
anlasten, so Regierungssprecher Ghazi Hamad. Auch die palästinensische
Menschenrechtsorganisation „Al-Haq“ kam nicht umhin, die Entführung
zweier US-amerikanischer Journalisten sowie die Entführung von mehr als
hundert Personen – darunter 34 Ausländern – auf die Rechtlosigkeit, das
Chaos und die weite Verbreitung von Waffen zurückzuführen.
Nach der institutionellen und politischen Erosion der PLO ist auch Hamas
in die Phase der Stagnation eingetreten, die ihre Aktionsfähigkeit nach
innen und außen stark beeinträchtigt. Manche Beobachter befürchten sogar
den Kollaps und die Rückkehr zum Status quo ante der Wiederherstellung
der israelischen Besatzung in Gestalt eines Militärregimes. Der
umfassende politische, wirtschaftliche und finanztechnische Boykott hat
tiefe Spuren der Paralyse hinterlassen, welche die Auflagen nach
Anerkennung Israels, dem Verzicht auf Gewalt und der Einhaltung
unterschriebener Vereinbarungen ad absurdum führen. Ohne die Aufhebung
der internationalen Ächtung sowie ohne grundlegende Reformen an Haupt
und Gliedern im Innern kann weder Machmud Abbas noch die
Autonomiebehörde mit politischer Autorität Israel gegenübertreten, aus
kollektiver Verzweiflung erwachsende Runden der Gewalt sind
wahrscheinlicher. Angesichts der genannten strukturellen Defizite und
Blockadeinstrumente entbehrt die Einschätzung des in Israel zu sechsmal
lebenslanger Haft verurteilten Fatah-Führers Marwan Barghouti der
Seriosität, dass die israelische Besatzung in der Westbank und in
Ost-Jerusalem in ihre Schlussphase eingetreten sei.
Mehr als ein syrischer Stellvertreterkrieg
Denn die Zahl und die Qualität der Hindernisse auf dem Weg zu einer
Verständigung sind enorm. Wäre eine Einigung zwischen Israel und Syrien
über die Zukunft der Golanhöhen – zu denen das 25 Quadratkilometer große
Gelände der sieben Shebaa-Gehöfte gehört – möglich gewesen, wäre der
Damaszener Machtapparat einer Konfrontation mit Israel wahrscheinlich
aus dem Weg gegangen. Der Stellvertreterkrieg, den Syrien über den
waffentechnischen und politischen Beistand für die „Partei Gottes“
schürte, hat freilich die Rivalitäten nicht besiegelt. Beide Seiten
beharren auf einen politisch-ideologisch unabhängigen Kurs – die
Vernichtung der (sunnitischen) Moslembruderschaft im Januar/Februar 1982
– fünf Monate vor der israelischen Libanon-Invasion, die die
Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich zog – unter Einsatz von
Artillerie, Panzern und Kampfhubschraubern im nordsyrischen Hama mit
offiziell zehntausend, nach unabhängigen Schätzungen bis zu
vierzigtausend Opfern und viertausend toten syrischen Soldaten lebt in
der Erinnerung stark fort. Empfindungen des Misstrauens sind nicht aus
der Luft gegriffen, Bashar Assad könnte die Hisbollah fallenlassen, wenn
ihr Selbstbewusstsein seinen Interessen entgegenstehen sollte, auch in
Zukunft in Libanon politisch mitzureden. Zudem ist das Konzept eines
palästinensischen Staates in Damaskus nicht eindeutig: Anfang März 2002
hatte der UN-Sicherheitsrat in seiner Resolution 1397 die „Vision einer
Region“ beschworen, in der „zwei Staaten, Israel and Palästina, Seite an
Seite in sicheren und anerkannten Grenzen leben“. Für die Resolution
stimmten 14 Mitglieder, während sich Syrien zumindest aus zwei Gründen
der Stimme enthielt: Zum einen galt sein Verhältnis zu Arafat spätestens
seit der Prinzipienerklärung von Oslo als zerrüttet, zum anderen
unterlagen die Beziehungen zu Saudi-Arabien starken Spannungen.
Israels „Samson-Option“
Für Iran gilt, dass dessen antizionistische Aggressivität international
isoliert werden könnte, wenn Israel mit derselben Nachdrücklichkeit auf
UN-Resolutionen verpflichtet würde. Auch die sunnitisch geprägten
arabischen Staaten fühlen sich vom iranischen Urananreicherungsprogramm
bedroht und bringen der Beschränkung Teherans auf seine friedliche
Nutzung wenig Vertrauen entgegen. Außerdem wollen sie den Wettlauf gegen
die Hisbollah in Libanon nicht verlieren; Jordaniens König Abdullah II.
hat sogar die Gefahr einer schiitischen Achse bis zum Mittelmeer
beschworen. Über Größe und Qualität des iranischen Waffenpotenzials
liegen zwar keine eindeutigen Zeugnisse vor, aber Teheran versucht, sich
als politische Vormacht in der islamischen Welt zu etablieren und an die
Stelle des gescheiterten Pan-Arabismus einen grenzüberschreitenden
Pan-Islamismus zu setzen, der gewillt sei, die Ungläubigen aus dem
nahöstlichen Krisenbogen zu vertreiben. Sollte Israel tatsächlich in
seiner Existenz bedroht werden, könnte es sich seiner als
„Samson-Option“ bezeichneten atomaren Abschreckungsreserven bedienen:
Mit dem biblischen Koloss sterben auch seine Gegner. Wie weltanschaulich
übergreifend diese Drohung rezipiert worden ist, hat der
israelisch-amerikanische Publizist Yossi Klein Halevi mit der Warnung
eines bekannten Kritikers der Besatzungspolitik unterstrichen: „Wenn uns
die Welt kein Stück Land für einen jüdischen Staat gibt, hat die Welt
kein Recht zu existieren. Und wenn sie in einem Nuklearkrieg im Nahen
Osten untergeht, ist das vielleicht poetische Gerechtigkeit.“ Die
Allianz mit den USA bietet im Ernstfall keinen verlässlichen Schutzschild.
Mit der Konzentration auf Libanon sind die Vorgänge in der Westbank aus
den internationalen Schlagzeilen verschwunden, obwohl die
Bodenenteignungen zum Bau der „Trennungsmauern“ und der Ausbau jüdischer
Siedlungen weitergehen, mehrere Minister, der Parlamentspräsident und
zahlreiche Abgeordnete des palästinensischen Parlaments in israelischen
Gefängnissen festgehalten werden und nach UN-Berichten von Ende August
seit der Entführung des israelischen Unteroffiziers Gilad Shalit am 25.
Juni mehr als zweihundert Palästinenser und ein israelischer Soldat im
Gazastreifen getötet wurden. Ehud Olmert hat am 18. August zu verstehen
gegeben, seine Rückzugspläne für die Westbank – über sie sind Beratungen
im israelischen Kabinett ausgeblieben – suspendieren zu wollen. Der
Krieg in der Zedernrepublik könnte der israelischen Politik den Vorwand
liefern, den Status quo der Besatzung aufrechtzuerhalten. Geschieht
dies, wären die Palästinenser die wahren Verlierer des Krieges. Denn die
Raketen aus Libanon bestätigen jene Kreise in Israel, die an keinen
Ausgleich mit den Arabern glauben und die Verfügung über die
palästinensischen Gebiete im besten Fall als strittig bezeichnen. Kommen
nachhaltige Regelungen für den Konflikt nicht zustande, wird seine
Symbolkraft ständig neue Anlässe für gewalttätige Ausbrüche finden, in
den Worten des früheren israelischen Außenministers Shlomo Ben-Ami: „Die
Palästinenser werden die zweiten Kurden im Mittleren Osten, eine Nation,
die sich von den Chancen eines Staates fortbewegt.“
Die Ohnmacht der „Road Map“
Die Forderung des SPD-Präsidiums nach verstärkter Wiederaufnahme der
Arbeiten an der „Road Map“ vom Frühjahr 2003 reicht nicht aus, wenn die
Gründe für ihr bisheriges Scheitern, zu denen die politische Schwäche
der Europäischen Union gehörte, ausgespart werden. Ganz abgesehen davon,
dass der Zeitrahmen des „Wegeplans“ bereits bei seiner Präsentation
überholt war, griff er zu kurz, weil er
-
die „destruktive Doppeldeutigkeit“ der Osloer Vereinbarungen (Shlomo
Ben-Ami) nicht aufhob;
- von der damaligen israelischen Regierung mit vierzehn „Modifikationen“
ausgehöhlt wurde, so dass vom „Geist der sogenannten roadmap“
(SPD-Vorlage) wenig übrig blieb;
- keine konkreten Vorschläge für die zentralen Probleme des Konflikts
„Zweistaatenregelung“, „jüdische Siedlungen“, „Jerusalem“ und
„palästinensisches Flüchtlingsproblem“ anbot, sondern sie den ungleichen
Partnern zur Verhandlung überantwortete;
- keinen Zusammenhang zwischen der palästinensischen Gewalt und der
israelischen Okkupation herstellte, sondern aus sicherheitstechnischen
Absprachen eine Dynamik politischer Dividenden ableitete;
- ein schwaches Verifikationsregime etablierte und auf die Androhung von
Sanktionen ganz verzichtete, falls eine Partei den Vollzug der „Road
Map“ verzögern oder sich ihr verweigern würde, und
- den arabischen Akteuren im israelisch-palästinensischen Konflikt keine
operative Aufmerksamkeit widmete, sondern sich damit begnügte, die
Beiruter Beschlüsse der Arabischen Gipfelkonferenz von Ende März 2002
als bedeutsam zu würdigen.
Der Verzicht auf entschiedenes politisches Handeln hat dazu geführt,
dass die Europäer im Nahen Osten kein Profil als „major player“
entwickelten. Der Sonderbeauftragte des „Quartetts“, James Wolfensohn,
hat Ende April 2006 in seinem Abschiedsbrief die selbstkritische Frage
gestellt, „ob humanitäre Hilfe ausreicht, um uns dem erwünschten Ziel
der Zweistaatenlösung gemäß der ›Road Map‹ näherzubringen“. Zu ihrer
Durchsetzung würde es neben der Betonung des Existenzrechts Israels der
nationalen Ebenbürtigkeit des palästinensischen Volkes bedürfen; beide
Komponenten müssen miteinander in Einklang gebracht werden. „Dieses Mal
müssen wir die Ärmel hochkrempeln und das Problem lösen“, hat der
italienische Außenminister Massimo D’Alema erklärt. Ob es die
europäische Politik tatsächlich ernst meint, ihre jahrzehntelange
Glaubwürdigkeitslücke in der Region zu schließen, wird sich zeigen.
Literaturhinweise:
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Palace, Damascus, August 15, 2006, via
www.sana.org/eng/21/2006/08/15/57835.htm.
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(Bashar Assad:) President Bashar al-Assad gives an interview to Dubai
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www.sana.org/eng/21/2006/08/24/20204.htm.
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(Marwan Barghouti:) Talking with Marwan Barghouthi (Interview), in
„Palestine-Israel Journal“ 13(2006)2 via www.pij.org.
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(Shlomo Ben-Ami:) Norman Finkelstein & Former Israeli Foreign Minister
Shlomo Ben-Ami Debate: Complete Transcript, in “Democracy Now!” via
www.democracynow.org/finkelstein-benami.shtml.
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Reiner Bernstein: Der verborgene Frieden. Politik und Religion im Nahen
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Reiner Bernstein: Von Gaza nach Genf. Die Friedensinitiative von
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(Massimo D’Alema:) „Die Mission ist schwierig, aber sie ist es wert“
(Interview), in FAZ 26.8.2006.
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Yossi Klein Halevi: The Wall. How Despair is Transforming Israel, in
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(Ghazi Hamad:) PA gov’t spokesman: People are to blame for situation, in
“ynet” 27.8.2006.
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Ulrich Weisser: Dieser Einsatz birgt wenig Gefahren, in SZ 30.8.2006.
-
(James Wolfensohn:) Akiva Eldar: Quartet to hold key talks on fate of
its Mideast peacemaking role, in „Haaretz“-online 2.5.2006.
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