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Blick linker Israelis und Palästinenser auf den Nahost-Konflikt

Zwei interessante Sammelbände

Von Christoph Jünke

Was die Diskussion des blutigen Nahost-Konfliktes in Deutschland, zumal auf der Linken so schwer macht, ist, daß zwei Fragen scheinbar unentwirrbar miteinander verwoben sind, die als solche wenig miteinander zu tun haben. Die eine Frage ist die nach dem Konflikt selbst, seinen Triebkräften, Widersprüchen, Akteuren, Perspektiven usw. Die andere Frage ist die nach jenem Blick, mit dem wir von Deutschland aus auf den Konflikt schauen. Da es den deutschen Blick an sich nicht gibt, sondern immer nur den Blick von Deutschen, also Klassen, Schichten, Strömungen, Institutionen, Individuen usw., sind »Mißverständnisse«, den eigenen Blickwinkel betreffend, geradezu programmiert. So sehr man beide Fragen behandeln muß, um zu einer umfassenden eigenen Stellungnahme kommen zu können, sosehr sollte man die beiden Ebenen analytisch auseinanderhalten.

Beide hier vorzustellenden Bücher sind wichtig, weil sie zur Beantwortung der ersten Frage Israelis und Palästinenser zu Wort kommen lassen und damit eine elementare internationalistische Pflicht erfüllen, die von deutschen Linken allzugern vergessen wird.

Das von Rudi Friedrich herausgegebene Buch behandelt schwerpunktmäßig die israelische Bewegung zur Verweigerung des Militär- und Kriegsdienstes und bietet ergänzende Beiträge zur Vertiefung des Gesamtkonfliktes.

Herausragend sind dabei vor allem der Beitrag der Kieler Soziologin Uta Klein, die die Geschlechterverhältnisse sowohl in Israel als auch in der palästinensischen Bevölkerung untersucht, sowie das ausführliche Interview mit dem bekannten Jerusalemer Historiker und Politikwissenschaftler Moshe Zuckermann. Im Mittelpunkt beider Beiträge steht die Analyse der zentralen Rolle der zionistischen Identität, bei Klein als männlich-militaristischer Diskurs, bei Zuckermann als politisch-ideologischer Mythos, dessen Aufklärung die israelische Gesellschaft als solche in Frage stellen würde. »Israel steht am Scheideweg«, so Zuckermann: »Eine endgültige Lösung des Konflikts stellt für die jüdische Bevölkerung Israels mehr oder weniger eine Entscheidung dar zwischen Skylla und Charybdis, zwischen Pest und Cholera.« Was einer friedlichen Lösung im Wege steht, sind für ihn die zentralen Postulate des israelischen Zionismus. Und die Infragestellung desselben habe durchaus nicht automatisch etwas mit Antisemitismus zu tun. Israel sei im Verhältnis zu Palästina »ein Land brutaler Repressionen und Unterdrückung«: »Und wenn dem so ist, muß man in Begriffen der universellen Kategorie der Emanzipation sagen, jede Linke der Welt – auch eine deutsche – hat das gute Recht, Israel unter diesem Gesichtspunkt zu kritisieren. Ich werde mir als Linker die Kritik an diesem Zustand von niemandem verbieten lassen, und es bleibt sich für mich gleich, ob ich nun die Sache in Berlin, in Jerusalem oder in New York vortrage.«

Es ließe sich hier noch einen Schritt weiter gehen und fragen, ob jemand, der oder die einen solchen elementaren Standard nicht teilt, noch als Linke(r) angesehen werden kann; unabhängig von der Frage, daß er oder sie sich selbst so sieht und von anderen so gesehen wird. Diese Frage stellt sich sicherlich nicht nur, aber auch bei der Lektüre einer Zeitschrift wie jungle world. Im von Irit Neidhardt herausgegebenen Buch berichten namhafte und weniger bekannte israelische und palästinensische Intellektuelle von ihrem Leben und ihrer Sicht auf den kriegerischen Konflikt. Und auch hier wieder wird unmittelbar deutlich, wie sich ein von außen, d.h. weltpolitisch überdeterminierter Konflikt vor allem in den Kämpfen um die jeweils eigene Identität niederschlägt.

Ella Habiba Shohat analysiert in ihrem Beitrag die Geschichte und Rolle der orientalischen und arabischen Juden, der sogenannten Mizrahim in Israel. Sie bilden »eine halbkolonialisierte Nation innerhalb einer Nation«. Sie würden ihrer Geschichte und ursprünglichen Identität gewaltsam beraubt und überwiegend in politischer Abhängigkeit und sozialökonomischer Ausbeutung gehalten. Mit ihrem detaillierten Blick auf die innere Spaltung der israelischen Gesellschaft liefert Shohat ein notwendiges Gegenmittel gegen die allzu losgelöste Betrachtung des Nahost-Konfliktes.

Beide Bücher zeigen auf, wie sich politisch-religiöse Identitäten mit von Klassenstrukturen geprägten Macht- und Herrschaftsverhältnissen scheinbar unentwirrbar verweben. Ohne Anerkennung der jeweiligen Identitäten wird es deswegen ebensowenig zu einer Lösung der offenen Wunden in Nahost kommen wie ohne ihre Überwindung. Viele deutsche Linke können sich offensichtlich nicht zu dieser Erkenntnis durchringen, da sie als Deutsche wesentlich zu jener jüdisch-israelischen Identität beigetragen haben, die es nun in Frage zu stellen gilt.

Nichts scheint auf den ersten Blick einfacher als eine Lösung jenes Konfliktes, der die Bewohner des israelischen Staates und die von Israel in Abhängigkeit und Unterdrückung gehaltenen Palästinenser so nachhaltig entzweit: Frieden ist ohne eine vollständige Räumung der von Israel besetzten palästinensischen Gebiete und der jüdischen Siedlungen dort, ohne eine lebensfähige Zwei-Staaten-Lösung mit Jerusalem als Hauptstadt beider Staaten und ohne eine zumindest symbolische Anerkennung des Rückkehrrechtes der ins Exil getriebenen Palästinenser nicht denkbar.

»Wenn die realpolitische Lösung ›Land für Frieden‹ dermaßen auf der Hand liegt, warum ist sie dann nicht umsetzbar?«, fragt Herausgeber Rudi Friedrich treffend. Doch seine Antwort ist ein schönes Beispiel abgebremster Aufklärung, die hinter die von ihm herausgegebenen Beiträge zurückfällt. Er möchte nicht Partei ergreifen und weist deswegen beiden Seiten gleichermaßen Schuld zu. »Offensichtlich«, so Friedrich, werde der Konflikt »immer wieder neu ideologisch legitimiert und angeheizt«, und zwar von den fundamentalistischen Hardlinern beider Seiten. Nicht nur geht hier der Aspekt verloren, daß diese radikalen Siedler ihre Radikalität aus dem jüdischen Zionismus gewinnen, sondern auch, daß es sich um eine asymmetrische Auseinandersetzung handelt, die auf der israelischen Seite nicht nur von fundamentalistischen Extremisten, sondern von einer Regierung getragen wird – bei breitem gesellschaftlichen Konsens.

Das macht Antworten wie die von Friedrich so hilflos und Konflikte wie den um die Zukunft Israels und Palästinas so kompliziert.

Rudi Friedrich (Hrsg.): »Gefangen zwischen Terror und Krieg?«. Grafenau, Trotzdem 2002, 150 Seiten, 12 Euro

Irit Neidhardt (Hrsg.): »Mit dem Konflikt leben?«, Münster: Unrast 2002, 168 Seiten, 14 Euro


Aus: junge Welt, 5. April 2003


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