Was folgt den Aufständen?
Der Publizist Bernhard Schmid über die revolutionären Prozesse in Nordafrika *
Am 17. Dezember 2010, also
vor genau einem Jahr, zündete
sich ein Straßenhändler vor einer
Polizeiwache in dem tunesischen
Städtchen Sidi Bouzid
selbst an, um gegen die häufigen
Repressalien seitens der Polizei
gegen seinesgleichen zu protestieren.
Noch bevor er im Januar
an seinen Verletzungen starb,
breiteten sich die vor Ort beginnenden
Proteste der seit langem
unterdrückten Bevölkerung gegen
die staatlichen Autoritäten
im Land aus. In der Folge wurde
nicht nur der tunesische Herrscher
Ben Ali gestürzt. Ähnlicher
Aufruhr brach in ganz Nordafrika
und im Nahen und Mittleren Osten
los, mehrere Staatschefs
wurden abgesetzt oder zumindest
mit den stärksten Protesten
seit langem konfrontiert. Allerdings
gestalten sich die Umbrüche
nicht nur schwierig, sondern
auch unterschiedlich. Die Welt
blickt nach Rückschlägen und
Wiederaufflammen der Bewegungen,
nach erkämpften Parlamentswahlen
und brachialer Repression
weiterhin gespannt auf
die arabischsprachigen Länder.
Ihr aktuelles Buch heißt: »Die arabische
Revolution?« Warum das Fragezeichen?
Es soll anzeigen, dass es um einen offenen
Prozess geht. Es gibt eine demokratische
Revolution, die aber starke soziale Aspekte
hat: Die Leute wollen nicht nur eine andere
Regierung, sondern ein anderes Leben.
Eine wichtige Formulierung in Ihrem Buch
ist: Die Diktaturen Nordafrikas wurden
»enthauptet«. Was bedeutet das?
Das bedeutet, dass der Kopf weg, der Rumpf
aber zum Teil noch da ist. Von »Enthauptung
« spreche ich in Bezug auf Tunesien
und Ägypten, weil in beiden Ländern die
langjährigen Präsidenten zum Rücktritt gezwungen
wurden. Die jeweiligen Staatsparteien
wurden dann auch verboten. Übrigens
wurden sie erst nach den Umstürzen
aus der Sozialistischen Internationale
ausgeschlossen, dem Zusammenschluss der
sozialdemokratischen Parteien. Die Regime
wurden aber nicht an Rumpf und Gliedern
zerstört. Der Sockel des tunesischen Regimes
waren Polizei und Nachrichtendienste.
Diese Polizei ist nicht zerschlagen.
Sie war lediglich einige Wochen lang in die
Defensive gedrängt. Eine prominente linke
Anwältin, Radhia Nasraoui, hat schon im
Mai von neuen Folterfällen gesprochen, und
im August gab es wieder den ersten Toten
bei einer Demonstration. Der Polizeiapparat
ist also kaum angetastet, auch wenn sich
die Leute mehr trauen. Die Reichtumsverteilung
wird übrigens auch nicht angetastet.
In Ägypten ist es ähnlich, dort ist die Armee
bekanntlich der entscheidende Machtfaktor.
Sie hat ja nach dem Abgang Mubaraks
direkt die Macht übernommen. Sie
führt inzwischen auch direkt die Repression
aus, nachdem sie bei den Demonstrationen
gegen Mubarak populär blieb, als sie
sich zwischen die prügelnde und mordende
Polizei und die Demonstrationen stellte.
12 000 bis 13 000 Zivilpersonen wurden
bisher von Armeegerichten verurteilt – wegen
Demonstrationsdelikten wie Unruhestiftung
und Landfriedensbruch, aber auch
unliebsamer Berichterstattung im Internet.
Und die berüchtigte ägyptische Staatssicherheit
Amn al-Daula hat sich auch, unter
dem nur leicht abgeänderten Namen »Nationale
Sicherheit«, wieder gegründet.
Haben die Bewegungen das Potenzial,
sich auch gegen diese Machtapparate
durchzusetzen? Oder sind die jetzt »losgelassen
« und damit umso stärker und brutaler?
Das war eine Zeit lang so, ändert sich aber
periodisch. Definitiv ist die bleierne Angst
vor ihnen weg. Es gibt ein neues Selbstvertrauen,
auch eine Politisierung bei sehr
vielen Menschen. Die Bewegungen basieren
auf dem Wunsch nach einem besseren
Leben. Die demnächst zu bildenden Regierungen
werden da viele Enttäuschungen
bringen. Die Bevölkerung hat gesehen, was
sie erreichen kann. Die Konflikte dürften bei
Enttäuschungen wieder ausbrechen.
Gibt es in den verschiedenen Ländern gemeinsame
Entwicklungen? Oder sollten sie
nicht so global, sondern eher für sich betrachtet
werden?
Es gibt eine globale arabischsprachige Öffentlichkeit,
die unter anderem durch Medien
hergestellt wird. Und es gibt eine
Gleichzeitigkeit der Revolten. Das ändert
aber nichts daran, dass die Staaten ihre eigenen
Charakteristika haben. Das marokkanische
Regime, eine Jahrhunderte alte
Monarchie, ist ein anderes als das mafiöse
tunesische Regime unter Ben Ali, das keine
vergleichbare historische Tiefe hatte. Algerien
ist ein Sonderfall, weil die Gesellschaft
auf Grund des blutigen Bürgerkrieges
von 1992 bis 1998 relativ konfliktmüde
reagiert. Dort entladen sich die Konflikte
eher in zeitlich und räumlich begrenzten
spontanen Eruptionen in Form von Riots.
Die Regimes reagieren auch unterschiedlich.
In Tunesien und Ägypten wurden sie
dazu gezwungen, Zugeständnisse zu machen.
In Marokko bietet das Regime als Ausweg
institutionelle Reformen etwa in Form
der Verfassungsänderung vom Juni/Juli, die
den autoritären Charakter der Monarchie
etwas relativieren. In anderen Ländern gibt
es rein repressive Antworten, siehe Syrien.
Auch in Bahrain stand die Repression im
Vordergrund. Manche Staaten probieren einen
Mix aus repressiven Antworten und dem
Versuch, den sozialen Frieden zu kaufen,
indem Geld ausgeschüttet wird. Das gilt für
Saudi-Arabien und Algerien.
In Ihrem Buch werfen Sie die Frage auf:
»Was und wer ist da in Bewegung geraten?
« Wie lautet die Antwort?
Es sind vor allem soziale Kräfte in Bewegung
geraten. Die politischen Parteien waren
nicht die Akteure. Da sind zum Einen
die in Armut gehaltenen und zum Teil in
subproletarischen Verhältnissen lebenden
Bevölkerungsteile, und da vor allem die geburtenstarke
junge Generation zwischen 15
und 30 Jahren. Ein Teil dieser Generation
hat keine halbwegs erträglichen
Jobchancen, zumindest nicht auf
dem regulären Arbeitsmarkt,
und ist somit zum Teil auf
den so genannten
informellen Sektor
angewiesen. Dann
gerieten die gebildeten
Schichten in Bewegung, etwa Juristinnen
und Juristen, die ständig mit dem
Unrecht des Staates konfrontiert gewesen
waren. In Ägypten waren es eher die gebildeten
Schichten, die den Impuls aus Tunesien
aufnahmen. Ein anderer wichtiger
Faktor waren die Gewerkschaften, jedenfalls
die unabhängigen unter ihnen. Eine
Staatsgewerkschaft wie die ETUF in Ägypten
unter Mubarak wird nicht zum Generalstreik
aufrufen, aber es gab daneben auch
oppositionelle Gewerkschaften.
Ein weiterer Akteur sind die islamistischen
Kräfte.
Allgemeiner: die politischen Kräfte. Die
stärkste ist aber der politische Islam. Für
ihn war es am Anfang schwierig, sich auf
die Proteste zu beziehen, denn seine Anhänger
verstehen sich ja schon als Träger
eines Gerechtigkeitsideals, und einer gerechten
Alternative zu einem als ungerecht
verstandenen Bestehenden, das auf einem
moralischen Niedergang beruhe. Sie wollen
durch eine Remoralisierung, gerade
auch bei Familien- und Sexualmoral, eine
aus ihrer Sicht kranke Gesellschaft »heilen
«, die unter importierten Ideologien leide.
Das ist nicht im linken Sinne progressiv,
aber sie mussten sich gleichzeitig irgendwie
darauf beziehen, dass relevante
Teile der Gesellschaft gegen einen als ungerecht
empfundenen Zustand in Bewegung
gerieten. Trotz einer – nur
vordergründig – gemeinsamen
Ideologie positionieren sich islamistische
Parteien unterschiedlich im
politischen und sozialen
Raum: Manche sind konservative
Reformparteien mit sozialem Anspruch, manche sind wirtschaftsliberal,
andere sind eher faschismus-
ähnliche Bewegungen.
Die Annahme, »der« Islamismus bekomme
nun in den arabischen Ländern eine gefährlich
starke Position, ist also nicht gerechtfertigt?
Überhaupt nicht. Es gibt da keine Einheitlichkeit.
Das ist zwar eine politische Kraft,
mit der zu rechnen ist, sie muss sich aber
in unterschiedlichen Kontexten positionieren
und ist dadurch Widersprüchen ausgesetzt.
Es gibt keine Kommandozentrale
und keine einheitliche politische Willensbildung.
Diese Bewegungen sind politisch
sicherlich eher auf der Rechten als auf der
Linken zu verorten, aber die Frage ist, ob
sie das demokratische Spiel mitspielen.
! Und wenn eine entsprechende Partei bei
Wahlen an die Macht kommt?
Das war ja in Tunesien der Fall, wo En-Nahdha
über 40 Prozent der Parlamentssitze
erreichte.
Aber diese Partei ist ja nicht so radikal.
Ja, aber sie bezieht sich auf den Islam als
Quelle ihrer Ideologie. Ihre aktuelle Strategie
ist Produkt der Geschichte ihres Landes.
Sie war etwa das Hauptopfer der Repression
unter dem alten Regime, und im
Kampf dagegen hat sie sich für strategische
Bündnisse mit linken, liberalen, nichtgläubigen
Kräften entschieden.
Ist es möglich, dass sie sich jetzt, wo sie
dieses starke Wahlergebnis erreicht hat,
wandelt und radikalere, religiöse Politik
macht?
Es wird Spannungen innerhalb der Partei
geben. Es ist aber angesichts der jüngeren
politischen Entwicklung und der gesellschaftlichen
Erwartungen nicht anzunehmen,
dass sie sich mit Gewalt durchsetzen
und alle anderen Parteien ausschalten wird.
Sie hat sich strategisch dafür entschieden,
das demokratische Spiel mitzuspielen und
Koalitionen und Bündnisse einzugehen. Die
Gefahr ist eher, dass sie eine wirtschaftsliberale
Politik macht, die die Bourgeoisie
wieder so restauriert, wie sie war, und nicht,
dass sie Scharia-Gerichte einrichtet.
Gemeinhin wird der Elektronik eine zentrale
Rolle in den nordafrikanischen Revolten
zugesprochen. Was sagen Sie dazu?
Dazu habe ich im Buch ein eigenes Kapitel
geschrieben. Die neuen Medien, die modernen
Kommunikationsmittel wurden eingesetzt,
um Medienzensur (die in Tunesien
absolut war) und Versammlungsverbote zu
umgehen, um sich zu verabreden. Es verbietet
sich aber jegliche Fetischisierung von
Technik. Der dümmliche Glaube, dass es
sich um eine »Facebook-Revolution« gehandelt
habe, ist purer Unfug. Die Revolution
fand nicht im virtuellen Raum statt, dort
wurde sich nur verabredet und auf aktuelle
Ereignisse hingewiesen. Nicht uninteressant
ist dabei auch, dass zuerst das
ägyptische Regime, danach auch das libysche,
das syrische und zum Teil in Bahrain,
das Internet für ihre Bevölkerungen
dicht machten, tagelang und wiederholt. Das
hat ja nicht dazu geführt, dass der Protest
abgebrochen wäre. Die Bewegung wurde
sogar noch breiter und stärker, als das Internet
weg war.
Sie sagen, dass die Bewegung in Tunesien
keine Gesellschaftsalternativen zu bieten
hat, und dass auch deshalb die religiösen
Kräfte Erfolg haben, die mit ihren moralischen
Diskursen Zuversicht verbreiten
können. Welche Debatten gibt es zu der Frage,
was nach dem Regimesturz kommen
soll? Gibt es da Gemeinsamkeiten über Ländergrenzen
hinweg?
In Tunesien brachen die Streiks im Sommer
ein, weil die wirtschaftliche Situation
sich negativ entwickelte. Den Leuten wurde
immer klarer die Drohung um die Ohren
gehauen: Die Bourgeoisie zieht ihre Investitionen
ab, wenn ihr nicht spurt. Nach
dem Rückfluss der Streikbewegung hat tatsächlich
der Moraldiskurs der Religiösen als
Trost gewirkt, als Mittel gegen die sich ausbreitende
Verunsicherung. Es gibt keine
greifbare Alternative in Form eines Wirtschaftssystems.
Die Bilanz des real existierenden
Sozialismus ist präsent, und nicht
nur die aus dem Osten. Algerien war ja ein
staatssozialistisches Land, der Südjemen
auch. Der Sozialismus ist auch diskreditiert
durch Regime, die sich als sozialistisch bezeichneten,
aber eher nationalistisch-militaristisch
waren, wie die der Baath-Partei
in Syrien und Irak. Da es heute nicht mehr
die Bündnisoption des sozialistischen Blockes
gibt, fehlt ein Gegenmodell, auch wenn
die Verteilung des Reichtums im bestehenden
System als skandalös eingestuft
wird.
* Bernhard Schmid, geboren 1971,
lebt seit fünfzehn Jahren in Paris,
wo er als promovierter Jurist bei
einer antirassistischen Organisation
arbeitet. Dazu ist er freier
Journalist für mehrere deutschsprachige
Zeitungen und Zeitschriften,
sowie Autor mehrerer
Bücher über europäische neofaschistische
Bewegungen und zu
arabischen, beziehungsweise
afrikanischen Ländern. Im Oktober
erschien sein jüngstes Buch
»Die arabische Revolution? Soziale
Elemente und Jugendprotest
in den nordafrikanischen
Revolten« (Edition Assemblage,
brosch., 118 S., 12,80 €). Darin
beleuchtet Schmid die Subjekte
der Bewegungen, die Antworten
der Regimes, die Rolle der
mächtigen Staaten Europas und
Amerikas – und die emanzipatorischen
Potenziale der Revolten.
Interview: Ralf Hutter
Aus: neues deutschland, 17. Dezember 2011
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