Nahostkonflikt: Israels "Präventivschläge" führen die Region an den Rand des Krieges
Anschlag auf Fatah-Führer Barguti - Internationale Kritik an Israel wächst
Trotz vereinbarter Waffenruhe gehen die Auseinandersetzungen im Nahen Osten mit unverminderter Gewalt weiter. Ende Juli/Anfang August spitzte sich der Konflikt weiter zu, nachdem Israel immer häufiger zum Mittel der gezielten Liquidierung mutmaßlicher Terroristen griffen. Am 4. August versuchte die israelische Armee sogar, den politischen Führer der Fatah-Bewegung, Marwan Barguti, zu töten.
Am 31. Juli wurden bei einem israelischen Militärschlag gegen ein Gebäude in der westjordanischen Stadt Nablus acht Menschen getötet worden. Darunter befanden sich auch zwei Kinder im Alter von acht bzw. zwölf Jahren, die sich gerade vor dem Wohnhaus aufgehalten hatten. Die israelische Armee bezeichnete die Aktion als einen Akt der "Selbstverteidigung". Im Haus hätten sich führende Terroristen der Hamas-Bewegung aufgehalten, die eine Attentatsserie gegen Israelis vorbereiten wollten. Einer von ihnen ist Jamal Mansour, der als vielversprechendes politisches Talent der Hamas-Bewegung gilt und große Popularität in Palästina genießt. Ob er nun tatsächlich ein Drahtzieher von Terroranschlägen war, wie Israels Propaganda und glauben zu machen versucht, oder nicht: Seine Liquidierung wird Israel um keinen Deut sicherer vor Attentaten machen. Im Gegenteil: Der Ruf nach "Rache" unter den Palästinensern wird noch lauter werden und es finden sich im Nu zahlreiche neue Freiwillige, die sich als Bombenleger oder fanatische Selbstmordattentäter einen Namen machen wollen.
Israels Rechnung geht nicht auf
Dass der gezielte Raketenangriff gegen das vermeintliche Hamas-Terroristennest nicht den von Israel gewünschten Effekt hatte, konnte man schon einen Tag danach sehen. Bis zu 100.000 Menschen groß war die Versammlung der trauerenden und wütenden Palästinenser bei der Beerdigung in Nablus. In den Palästinensergebieten wurde eine zweitägige Staatstrauer
ausgerufen. Der israelische Rundfunk meldete, dies sei die
größte Demonstration im Westjordanland seit Jahren. Bei den Demonstrationen hieß es immer wieder, Israel habe "unserem Volk
den Krieg erklärt". Sprecher der radikal-islamischen Hamas-Bewegung riefen öffentlich zur Ermordung der politischen Führung Israels auf und erteilten
erneut der von Palästinenserpräsident Jassir Arafat
befürworteten Waffenruhe eine Absage. Zehntausende riefen zum "heiligen Krieg" gegen Israel auf.
Bei dem Raketenangriff auf das Haus in Nablus handelte es sich nicht um den ersten massiven Militäreinsatz seit dem - formellen - Eintritt des Waffenstillstands vor wenigen Wochen. Von Waffenstillstand konnte igentlich nie eine Rede sein. Weder hielten sich die radikalen Palästinensergruppen - von denen Hamas nur eine ist - an die Verabredung, noch verzichtete Israel in Wort oder Tat auf unversöhnliche Gesten der Einschüchterung und auf militärische Aktionen. Die israelische Regierung pocht auf ihr "Recht" mutmaßliche Terroristen und "Staatsfeinde" zu liquidieren. Hierfür hat sie Sondereinheiten ausgebildet, die auf eigenem Territorium und in den Autonomiegebieten der Palästinenserbehörde operieren. Ein Unterschied zur Kampfführung terroristischer Gruppen ist nicht zu sehen. Mit Ausnahme vielleicht von der Tatsache, dass die Terrorangriffe der Israelis in der Regel unmittelbar keine eigenen Opfer fordern, weil sie mit überlegenem militärischem Gerät und Präzisionswaffen ausgeführt werden, während palästinensische Terroraktionen nicht selten mit einem hohen persönlichen Tötungsrisiko verbunden sind. Das Risiko für Israel liegt indessen darin, dass sein Staatsterrorismus regelmäßig Racheakte auf den Plan ruft, denen nicht selten Zivilpersonen zum Opfer fallen. In Erinnerung ist beispielsweise die palästinensische Reaktion auf die Ermordung des Hamas-Aktivisten Jehie Ajasch vor fünf Jahren. Der mutmaßliche Terrorist und "Bomben-Ingenieur" Ajasch wurde vom israelischen Geheimdienst nach allen Regeln der Kunst in die Luft gesprengt. Innerhalb von nur zehn Tagen erfolgten daraufhin zwei Selbstmordattentate auf eine Jerusalemer Buslinie sowie ein Sprengstoffanschlag vor dem Dizengoff-Zentrum in Tel Aviv. Insgesamt 60 Israelis, vorwiegend Zivilisten, kamen dabei ums Leben.
Indessen wächst die internationale Kritik an Israels Politik. Das
US-Außenministerium warf Jerusalem am 1. August Provokation, Eskalation und
den Einsatz exzessiver Gewalt vor. Großbritannien und
Frankreich beschuldigten es der Unverhältnismäßigkeit im Kampf
gegen die Intifada und forderten Zurückhaltung. Frankreich erinnerte an die Forderung, internationale Beobachter aus den USA und der EU im Nahen Osten zu stationieren, eine Initiative, die auch von Arafat unterstützt, von Israel aber bisher strikt abgelehnt wird. Am 2. August äußerte sich der belgische EU-Ratspräsident tief besorgt über die "Fortsetzung der Gewaltspirale" im Nahen Osten und rief zur Mäßigung auf. Ausdrücklich verurteilt wurde "die gezielte Tötung militanter Palästinenser durch Israel, denn diese stellt einen Verstoß gegen internationales Recht dar". Den Angriff auf das Hamas-Büro vom 31. Juli bezeichnete die EU-Präsidentschaft als "Mord".
Die israelische Regierung zeigt sich indessen von der Kritik wenig beeindruckt. Außenminister Peres schweigt. Transportminister Ephraim Sneh, wie Peres Mitglied der Arbeitspartei, verteidigte ausdrücklich die gezielte Ausschaltung vermeintlicher Terroristen. Sobald man von Plänen für einen Anschlag erfahre, erklärte Sneh, sei es "Pflicht" Israels, möglichen Attantaten mit einem "Präventivschlag" zuvorzukommen. Noch deutlicher wurde der ultrarechte Sicherheitsminister Uzi Landau, als er sagte: "Israel hat gerade erst begonnen, gegen die Palästinenser-Behörden vorzugehen." Damit haben Befürchtungen, Israel bereite einen groß angelegten Vernichtungsschlag gegen die Autonomiebehörde Arafats vor, der nur in einem neuen Nahostkrieg enden könne, wieder neue Nahrung bekommen.
Auf palästinensischer Seite gibt es neben den Gewaltaufrufen militanter Gruppen auch besonnene Stimmen, insbesondere aus der Umgebung Arafats. Die halbamtliche Nachrichtenagentur Wafa, die immer sehr gut die Meinung der Autonomiebehörde wiedergibt, wandte sich am 3. August mit deutlichen Worten gegen militante Aktionen und Attentate. Terroristische Anschläge schadeteten nur der palästinensischen Sache. "Nur durch politische Mittel werden wir unsere Ziele erreichen können", heißt es. "Legitim" seien Steine gegen die Symbole der Besatzung wie Soldaten und Siedler. Ausgeschlossen sei aber der Gebrauch von Schusswaffen. Die Bilder von Demonstranten, die am Sonntag, den 29. Juli ihre Schuhe den anrückenden israelischen Polizeitruppen entgegenwarfen, seien wesentlich "effizienter als Mörsergranaten gegen israelische Siedlungen" gewesen.
Israelischer Anschlag auf Marvan Barguti - Palästinensischer Anschlag auf israelische Soldaten
Israel scheint solche Stimmen aber nicht wahrnehmen zu wollen und verfolgt unberührt ihren Kurs der Eskalation weiter. Dazu gehört auch der Anschlag vom Samstag, 4. August, auf Marvan Barguti, über den bisher aber nur sehr widersprüchliche Angaben vorliegen. An diesem Tag hat die israelische Armee nach palästinensischen
Meldungen versucht, den Führer der Fatah-Bewegung bei
einem Raketenangriff vor seinem Büro in Ramallah (Westjordanland) zu töten.
Die israelische Armee wollte zunächst keinen Kommentar zu dem Vorfall abgeben. Der
israelische Rundfunk zitierte dagegen Sicherheitskräfte, die Barguti als Ziel des
Anschlages ausschlossen. Mit der Attacke habe vielmehr Fatah-Funktionär
Mohannad Abu Chalawah getötet werden sollen, der wegen Mordes an acht
Israelis verfolgt werde. Abu Chalawa hatte bei dem Anschlag Brandwunden
erlitten. Später nannten die israelischen Sicherheitskräfte als weiteren Palästinenser, dem
der Angriff gegolten habe, Madsched Said Munir Diria. Der 22-Jährige soll
ebenfalls acht Israelis getötet haben. Er ist Mitglied der Leibgarde von
Palästinenserpräsident Arafat. - Die Fatah-Organisation rief unmittelbar nach dem Anschlag die Bevölkerung auf, am Samstagabend in
Massen gegen die israelische "Politik des Terrors" zu demonstrieren.
Auch die palästinensische Autonomiebehörde verurteilte den Angriff scharf.
Israel trage die volle Verantwortung für die Folgen dieses "Mordversuchs",
hieß es in einer am Samstag veröffentlichten Erklärung. Darin appelliert die
Autonomiebehörde erneut an die internationale Gemeinschaft, Beobachter in die
Krisenregion zu entsenden.
Über den Verlauf des Attentats gibt es widersprüchliche Angaben. Nach
Berichten palästinensischer Sicherheitsbehörden erfolgte der Angriff von der
jüdischen Siedlung Psagot in der Nähe der Stadt Ramallah aus. Andere
Quellen behaupten, ein Kampfhubschrauber habe die Attacke geflogen.
In jedem Fall seien zwei Raketen auf zwei Fahrzeuge der Palästinenser
abgefeuert worden. Das erste Geschoss sei kurz vor dem Wagen von
Bargutis Leibwächter eingeschlagen. Das habe den Insassen erlaubt, aus dem
Fahrzeug zu springen. Die zweite Rakete zerstörte das Auto und habe
mindestens einen Passanten verletzt. Auch über den Aufenthaltsort Bargutis zum Zeitpunkt des Attentats widersprechen sich die Medien. Nach Informationen der Nachrichtenagentur
AFP habe sich der Fatah-Führer "gerade im Innern des Gebäude
aufgehalten". Associated Press zitiert Barguti jedoch wie folgt: "Wir hatten ein
Treffen in meinem Büro. Sobald wir fertig waren, haben wir das Gebäude
verlassen. Wir saßen in zwei Autos. Wenn die erste Rakete uns nicht verfehlt
hätte, wären wir jetzt mit Sicherheit tot." (zit. nach Netzeitung, 04.08.2001)
Auch am Sonntag, den 5. August, setzten die Israelis ihre "Vergeltungsangriffe" fort. Beschossen wurde ein Palästinenser-Sicherheitsposten im südlichen Gazastreifen. Angeblich galt der Angriff dem dortigen Befehlshaber, Fausi Sagsug. Die Nachrichtenagentur AFP
berichtete, israelische Hubschrauber hätten Panzerabwehrraketen auf
den Posten in der Stadt Rafah abgefeuert. Palästinensischen Sicherheitskräften zufolge wurde aber niemand verletzt. Die israelische Armee bestätigte den Angriff. Schwere Gefechte gab es außerdem das ganze Wochenende über im Westjordanland. Die Armee Israels teilte mit,
die jüdische Siedlung Gilo im Osten Jerusalems sei wieder beschossen
worden. Israel ging demnach in der Region Bethlehem gegen Palästinenser
vor. - Bei einem Anschlag vor dem Hauptquartier der israelischen Armee in Tel Aviv sind mindestens fünf
israelische Soldaten durch Schüsse verletzt worden. Der Täter war nach Angaben des israelischen Rundfunks mit
einem Auto zum Hauptquartier der Streitkräfte gefahren,
stieg dort aus und feuerte mit einem Schnellfeuergewehr auf
die Soldaten. Dabei wurden einige Soldaten, aber auch Zivilisten leicht bis mittelschwer verletzt. Anschließend versuchte der Attentäter mit seinem Wagen
zu fliehen. Soldaten, die die Verfolgung aufnahmen, schossen mehrmals
auf den Täter und verletzten ihn lebensgefährlich. Bei dem
Attentäter handelt es sich um einen Palästinenser aus
Ost-Jerusalem.
Peter Strutynski
Quellen: Tageszeitungen FR, SZ, NZZ, jw, HNA, FAZ vom 1. bis 4. August; Netzeitung vom 4. und 5. August 2001.
Aus Pressekommentaren
Inge Günter kommentierte in der Frankfurter Rundschau vom 2. August 2001 unter der Überschrift "Israels tödliche Fehler" u.a.:
"Bislang wurde durch den Einsatz lasergesteuerter Raketen, Panzern und Kampfjets von Seiten der Israelis sowie von Kalaschnikows, Mörsergranaten und menschlicher Bomben von Seiten der Palästinenser allenfalls die Schraube der Gewalt um eine weitere Drehung verschärft. Auf der Strecke blieb die Vernunft, respektive der Mitchell-Report, der ein politisches Instrumentarium empfahl, um den Verhandlungsweg wieder flott zu machen. Diese Chance scheint vorerst vertan. ...
Indem es sich wieder einmal allein auf seine militärischen Möglichkeiten verließ, hat Israel zudem ein politisches Pfand verspielt: das zumindest im Westen deutlich empfundene Verständnis für seine bedrohte Lage. in den Augen der Welt sind die Israelis nicht mehr, wie noch nach der Bombe auf die Discogänger in Tel Aviv, vornehmlich unschuldige Opfer des Konfliktes, sondern verantwortlich für einen kaum noch zu reparierenden Bruch des Waffenstillstandes. Politisch hat Scharon damit Yassir Arafat in die Hände gespielt, der nun neue Argumente für die palästinensische Forderung nach internationalen Beobachtern geltend machen kann."
Die Fuldauer Zeitung schrieb am 3. August 2001:
Ariel Scharons Worte klingen in höchstem Maße nzynisch: Was der israelische Präsident als einen seiner größten Erfolge bezeichnet und als probates Mittel der Selbstverteidigung rechtfertigt, ist in Wirklichkeit ein Bumerang, der wahrscheinlich schneller zurückkommt als Scharon lieb sein kann. Denn mit der gezielten Liquidation verdächtiger Hamas-Aktivisten verstößt Israel nicht nur gegen das Völkerrecht. Scharon unterschätzt offenbar auch die Folgen seines Terrorangriffs oder nimmt sie billigend in Kauf. Der Sturm, den Scharon mit seinem bisher schwersten Schlag gegen Extremisten auf der feindlichen Seite ausgelöst hat, könnte das letzte verbliebene Flämmchen der Hoffnung auf Frieden in der Region endgültig usblasen. Nachdem in den Palästinensergebieten Zehntausende Rache geschworen haben, sind für die nächsten Tage und Wochen keine guten Nachrichten aus Nahost zu erwarten."
Und am 4. August 2001 kommentierte Peter Münch in der Süddeutschen Zeitung u.a.:
Es gibt keine Voraussetzungen mehr für die Wiederbelebung des
Friedensprozesses, weil die Angst beider Seiten vor der jeweils
anderen real und berechtigt ist. Berechtigt ist auch das
beiderseitige Schutzbedürfnis, berechtigt ist der Anspruch der
Palästinenser auf den eigenen Staat und das Verlangen der
Israelis nach der Existenzsicherung des ihren. Dies anerkennend
liegt eine radikale Lösung nahe: Wenn der Konflikt nicht zu lösen
ist, müssen die kriegerischen Kreise getrennt werden. Ziel ist die
Schaffung klarer Fonten.
In der Praxis setzt das zunächst den Rückzug der Israelis aus
den besetzten Gebieten voraus, also die Aufgabe der Siedlungen
im Gaza-Streifen und im Westjordanland. Es mag dies von den
Israelis als schmerzhaft empfunden werden, doch es ist letztlich
in ihrem eigenen Interesse, sich auf Fronten zu konzentrieren,
die sich tatsächlich verteidigen lassen. Erst wenn die Fronten
begradigt sind, kann die Deeskalation beginnen, kann über
vertrauensbildende Maßnahmen und irgendwann über
Kooperation geredet werden.Erst dann können auch die
Vermittler wieder Gehör finden, weil sie wirklich etwas zu bieten
haben: Sicherheitsgarantien und Aufbauhilfen.
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