Überlegener israelischer Sicherheitsdienst ist schlecht für den Frieden
Eine interessante Analyse des US-amerikanischen Chefstrategen Edward Luttwak
In einem Beitrag für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 2. August 2001 geht der prominente Direktor am Zentrum für Internationale und Strategische Studien in Washington, Edward N. Luttwak, Autor des Bestsellers "Weltwirtschaftskrieg" (Rowohlt 1994), der Frage nach, wie es kommt, dass die israelischen Sicherheitskräfte so erfolgreich gegen palästinensische Angriffe operieren und gleichzeitig ihre eigenen Verluste minimieren. Tatsache ist nämlich, dass in den 10 Monaten der anhaltenden Intifada (Ende September 2000 bis Ende Juli 2001) insgesamt "nur" 135 israelische Soldaten und Zivilisten getötet worden, "sehr viel weniger, als im selben Zeitraum bei Verkehrsunfällen ums Leben kamen". Und dies bei der großen Zahl von palästinensischen Feuerüberfällen, die sich auf knapp 5.000 belaufen, Anschläge, die meist gegen israelische Soldaten in Außenposten oder bei Patrouillefahrten, aber auch auf Zivilisten verübt wurden. Auch die materiellen Schäden an der öffentlichen Infrastruktur oder an privatem Eigentum seien "unbedeutend", stellt Luttwak fest. Außerdem habe keine einzige israelische Siedlung evakuiert werden müssen.
Verglichen etwa mit der Taktik der IRA in Nordirland, wo maximal 400 bewaffnete Kämpfer die Provinz in ein "Schlachtfeld" verwandeln konnten, oder verglichen mit den Aktionen von Terroristen in Algerien oder in Sri Lanka, bei denen Jahr für Jahr Tausende von Opfern unter den Soldaten, Polizisten und Zivilisten zu verzeichnen sind, im Gegensatz zu diesen Organisationen verfügen die Palästinenser über bedeutend mehr Kämpfer, die erzielen aber keine nennenswerten militärischen Erfolge. Auf palästinensischer Seite gibt es Luttwak zufolge 35.000 uniformierte Kräfte in Arafats offiziellen Sicherheitsdiensten, daneben existieren noch die Tansim-Milizen der Fatah-Partei und die bewaffneten Gruppen der Hamas-Bewegung, des Islamischen Dschihad, der Volksfront für die Befreiung Palästinas und der aus dem Libanon operierenden Aktivisten der Hisbullah.
Was macht die Israelis trotz dieser erstaunlichen großen Zahl bewaffneter Gegner so erfolgreich? Nach Luttwaks Auffassung ist es weniger das Militär, das dieses Wunder vollbringt, sondern es ist das "Sicherheitssystem" in Verbindung mit der israelischen Spitzentechnologie. Beispielsweise liefert die israelische Rüstungsschmiede "Rafael" Instrumente zur "Kriegsführung geringer Intensität", etwa Überwachungsballons, die in großer Höhe operieren. "Vielleicht", fragt Luttwak rhetorisch, "erklärt dies, wie es möglich war, Terroristenführer in ihren Autos mitten im Straßenverkehr durch ferngesteuerte Raketen zu töten - und zwar bisher ohne einen Irrtum, wie palästinensische Quellen bestätigen." Hingewiesen wird auch auf elektronische Detektoren derselben Firma, die erklären könnten, warum die israelischen Sicherheitskräfte rund 100 Sprengsätze vor ihrer Detonation finden konnten. Auch gibt es eine israelische Sondereinheit, die den Namen "Duvdevan" (Kirsche) trägt und in arabischer Kleidung in den palästinensischen Städten operiert und "auf offener Straße tötet".
Nicht aufgegegangen sei auch die "Rechnung" der Palästinenserführer, durch das Töten von israelischen Soldaten - fast alle sind Wehrpflichtige - in Israel selbst eine Antikriegsbewegung zu entfachen. Bei rund 4.000 Attacken, bei denen palästinensische Schützen über die Köpfe Steine werfender Jugendlicher hinweg auf israelische Soldaten geschossen hätten (dabei seien etwa 100.000 Schüsse abgegeben worden), sind aber lediglich 15 Soldaten getötet worden. Ausschlaggebend dafür sei einmal die Tatsache, dass israelische Scharfschützen die Schützen auf der anderen Seite "sehr schnell ausschalteten" (Luttwak verschweigt den Umstand, dass bei diesen Gefechten wesentlich mehr unbewaffnete Jugendliche getötet wurden als bewaffnete palästinensische Kämpfer); zum anderen verfügten die Israelis über eine "ausgezeichnete Schutzausrüstug", darunter "leichtgepanzerte Jeeps, die den Carabinieri in Genua bei den Ausschreitungen während des G-8-Gipfels eine große Hilfe gewesen wären" (welch ein Vergleich! In Genua hat kein einziger Globalisierungsgegner auch nur einen Schuss abgegeben!) und "einzigartige mobile Befestigungen, wie man sie sonst noch nirgendwo gesehen hat".
Hinzu kommt für Luttwak ein weiterer Punkt. "Arafats Offensive" sei auch deshalb gescheitert, weil Israel bestens vorbereitet war."Der zivile Geheimdienst Shabak und der militärische Geheimdienst Aman können für sich beanspruchen, Arafats Schachzug vorausgesehen zu haben." Bei Beginn der Ausschreitungen Ende September 2000 waren Hunderte separater Armee- und Polizeieinheiten in Alarmbereitschaft. "Diese Maschinerie kann nur durch eine an höchster Stelle getroffene politische Entscheidung in Gang gesetzt worden sein", behauptet Luttwak und hat dabei zweifellos Recht. Er sagt aber nicht dazu, dass diese präzise Vorbereitung auf gewaltsame Auseinandersetzungen auch dadurch möglich war, weil man die Provokation selbst geliefert hat (Scharons Tempelbergbesuch). Und die Befehle zur Alarmbereitschaft kamen vom damaligen Ministerpräsidenten Barak, der gleichzeitig Verteidigungsminister war. Mit dem Scheitern von Camp David war dem leitenden Analytiker des militärischen Geheimdienstes, Brigadegeneral Amos Gilead, klar, dass Arafat nun zum Mittel der Gewalt greifen würde. Seine Beurteilung der Lage "zirkulierte" durch die "oberen Ränge der Streitkräfte, der Polizei und der Sicherheitsdienste, gelangte von dort zu allen operierenden Einheiten, und deren Kommandeure reagierten mit den Vorsichtsmaßnahmen, die ein blutiges Debakel im vergangenen Oktober verhinderten." Barak, der als Ministerpräsident vom Friedenswillen Arafats überzeugt gewesen sei, habe sich in seiner Funktion als Verteidigungsminister den Argumenten Gileads gebeugt. Luttwak verbucht Baraks Haltung also nicht als "Doppelzüngigkeit", sondern als Handlungsweise eines "Staatsmannes". Auch das kann man anders sehen: Im Nachhinein erscheinen jene Vermutungen realistischer, die davon ausgegangen waren, dass die gezielte Provokation Ariel Scharons mit dem damaligen Ministerpräsidenten und Verteidigungsminister Barak abgesprochen war. Israels Regierung brauchte möglicherweise eine neue Gewaltwelle (von der sie, wie Luttwak überzeugend darlegt, vergleichsweise wenig getroffen wird), um dem internationalen Druck zu entgehen, der von Jerusalem mehr Zugeständnisse in der Siedlungsfrage und in der Frage der palästinensischen Staatsgründung verlangte. Seit dem Ausbruch der zweiten Intifada spricht niemand mehr vom Oslo-Prozess. Und wenn heute die Kritik an Israel wieder lauter wird und sogar aus Washington kommt, dann weniger wegen der Beerdigung Oslos, sondern mehr wegen der "Unverhältnismäßigkeit" der Mittel, die Israel im Kampf gegen den "Terrorismus" einsetzt.
Interessant ist der letzte Absatz aus Luttwaks Analyse. Trotz aller Bewunderung für die Leistungen des israelischen Sicherheitssystems kommt er zu dem - überraschenden - Schluss, dass dessen Leistungsfähigkeit die Region dem Frieden um keinen Schritt näher brächte. "Im Gegenteil. Gerade weil es den Schaden in Grenzen hält, erscheint ein endloser Konflikt erträglicher und ein Rückzug aus besetzten Gebieten weniger zwingend." In dieser Sichtweise Lttwaks spiegelt sich gewiss noch das Sicherheitsdenken aus den Zeiten der Blockkonfrontation, das auf gegenseitige Abschreckung durch militärisches Gleichgewicht setzte. Nun wird es aber wohl niemandem einfallen, für eine Nachrüstung der Palästinenser einzutreten; eine Abrüstung Israels käme aber wohl schon in Betracht. Sie könnte damit beginnen, dass sich israelisches Militär aus den besetzten Gebieten zurückzieht und Israel mit der Räumung von Siedlungen beginnt. Denn eines ist auch klar und ist in Luttwaks Betrachtung geflissentlich unterschlagen worden: Die militärische und logistische Dominanz der Israelis rührt nicht zuletzt aus ihrer Omnipräsenz in den besetzten Gebieten. Zusammen mit den Siedlungen stellen sie nicht nur ein ständiges Angriffsziel für die Palästinenser dar, sondern garantieren auch die strategische Überlegenheit gegenüber dem Gegner, denn sie operieren auf dessen Terrain.
Peter Strutynski
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