Nach dem Tod von fünf palästinensischen Kindern: Gewaltspirale dreht sich weiter
US-Mission zur Wiederbelebung des Friedensprozesses auf verlorenem Posten?
Spätestens seit dem Beginn ihres Afghanistankrieges am 7. Oktober bemühen sich die Vereinigten Staaten den israelischen Premierminister Ariel Scharon davon zu überzeugen, dass eine Deeskalation des Nahostkonflikts für alle Beteiligten von Vorteil wäre. Eine Beruhigung an der Front zwischen Israelis und Palästinensern ist für die USA eine wesentliche Voraussetzung dafür, die islamischen Staaten, die sich der "Allianz gegen den Terror" angeschlossen haben, bei der Stange zu halten, falls der Krieg nach dem absehbaren Fall des Taliban-Regimes über Afghanistan hinaus ausgeweitet werden sollte. Zu einer neuerlichen Stippvisite für die Wiederbelebung des Nahost-Friedensprozesses reisen am 26. November US-Vize-Außenminister William Burns und der frühere Marine-General Anthony Zinni in die Konfliktregion. Sie wollen in Gesprächen mit Scharon und Arafat erreichen, dass der Mitchell-Plan doch noch umgesetzt werde und die Konfliktparteien wieder an den Verhandlungstisch zurückkehren.
Doch die Mission der beiden US-Politiker steht unter einem denkbar ungünstigen Stern. Gerade in den Tagen davor hat eine Kette höchst dramatischer Terrorzwischenfälle das ohnehin angespannte Klima weiter aufgeheizt. Dabei kam es am 22. November zu einem der schrecklichsten Unfälle seit Monaten. Fünf palästinensische Schulkinder sind bei einer Explosion im Süden Gazas ums Leben gekommen, als sie nach einer Meldung der Autonomiebehörde auf dem Schulweg eine israelische Panzergranate entdeckt und offenbar mit ihr gespielt hatten. Die tödliche Explosion ereignete sich in der Nähe einer Schule der Vereinten Nationen, welche auch die getöteten Jungen - Kinder zwischen sechs und 14 Jahren - besuchten. In dieser Region in der Nähe des Flüchtlingslagers Chan Junis hat es seit Monaten immer wieder Schießereien zwischen bewaffneten Palästinensern und israelischen Truppen gegeben, die eine angrenzende jüdische Siedlung bewachen. Es gehörte zum Alltag israelischer Angriffe auf Palästinensergebiete, dass Bomben und Granaten auch auf Wohngebite abgefeuert werden. Die Polizei der Autonomiebehörde vermutet, dass die Bombe, die den Tod der fünf Kinder verursacht hat, wenige Tage zuvor abgefeuert worden war ohne zu zünden.
In einer ersten Reaktion äußerte der israelische Regierungssprecher Arie Mekel Zweifel an den Tatumständen. Es könne auch eine palästinensische Bombe gewesen sein, meinte er. Einen Tag später, am 23. November ordnete indessen der isrelische Verteidigungsminister Ben-Elieser eine Untersuchung des Vorfalls an. Die palästinensische Polizei hatte nämlich in der Zwischenzeit den schwerwiegenden Verdacht geäußert, dass kein Blindgänger, sondern eine von der Armee gelegte "Bombenfalle" den Tod der Kinder verursacht habe. Der Sprengsatz sei vom israelischen Militär am Straßenrand versteckt worden und sollte als Falle für bewaffnete palästinensische Kämpfer dienen. Fast zwangsläufig wurde es aber zu einer Falle für Schulkinder. Der Unfallort liegt nämlich in einer so genannten A-Zone (vollautonome Zone der Autonomiegebiete), rund 100 Meter von der jüdischen Siedlung Ganie Tal entfernt. Tagsüber passieren vor allem Kinder aus dem Flüchtlingslager Chan Junis die Straße, um in die UN-Schule zu gelangen. Der palästinensische Sicherheitschef Abdel Rasek al Madschaschdeh gab an, dass seine Behörde über Zeugenaussagen verfüge, wonach "ein israelischer Bulldozeer einen Tag zuvor in diesem Areal operierte".
Diese Version wird auch von israelischen Blättern bestätigt. Nach einem Bericht der liberalen Zeitung Haaretz räumten israelische Offiziere ein, dass ihre Streitkräfte vor kurzem in dem Gebiet aufgehalten hätten, um palästinensischen Heckenschützen "das Handwerk zu legen". Nach Ansicht von Haaretz ist dies ein versteckter Hinweis darauf, das die Soldaten Minen gelegt hätten. Auch die Zeitung Maariv berichtete, dass höchste Offiziere diese Version bestätigt hätten. Die Taktik, den Gegner in Bombenfallen zu locken, habe Israel schon des öfteren praktiziert, u.a. in Südlibanon. Vermutet wird auch, dass eine Reihe von in den letzten Monaten getöteten Intifada-Aktivisten auf ähnliche Weise, nämlich durch Explosionen von gelegten Bombenfallen, ums Leben kamen. Die gezielte Liquidierung von Hamas-, Dschihad- oder Tansim-Kämpfern ist ausdrücklich von Ministerpräsident Scharon angeordnet worden. Am 25. November gab die israelische Armee gab zu, einen Sprengsatz an jener Stelle im Gazastreifen versteckt zu haben, wo fünf palästinensische Kinder bei einer Bombenexplosion getötet wurden. Es erscheine möglich, dass die Kinder mit der Bombe gespielt hätten, die in einer mit Sandsäcken verstärkten Stellung gelegt worden sei, hieß es in der Erklärung.
Während in Israel viele Menschen über den Tod der fünf Kinder und über das Eingeständnis der Armee geschockt sind, geht die Gewalt in den besetzten Gebieten weiter. Am 24. November wurde ein Israeli im Gazastreifen bei einem Granatenangriff getötet worden, zu dem sich die islamistische Hamas bekannte. Die Organisation nannte den Angriff einen Racheakt für die gezielte Tötung ihres Militärchefs Mahmud Abu Hanud. Hanud war einen Tag zuvor bei einem israelischen Raketenangriff umgekommen war. In Dschenin im Westjordanland nahmen am 24. November etwa 50.000 Menschen am Begräbnis Hanuds teil, während in Gaza-Stadt 10.000 Palästinenser gegen Israel demonstrierten. Sie drohten dem israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon mit Rache und riefen die Hamas zu Anschlägen in Israel auf. Der israelische Außenminister Schimon Peres rechtfertigte den Angriff auf Hanud als eine "Akt der Selbstverteidigung". Der Hamas-Militärchef sei ein "professioneller Terrorist" gewesen und für den Tod Dutzender Israelis verantwortlich. Das Büro Scharons teilte mit, Hanud sei unter anderem in einen Anschlag auf eine Diskothek im Sommer in Tel Aviv verwickelt gewesen, bei dem 20 Menschen starben.
Am 25. November beschoss Israel Büros der Fatah-Organisation von Palästinenserpräsident Jassir Arafat sowie Sicherheits- und Polizeiposten im Gazastreifen. Dabei wurden nach Palästinenserangaben drei Menschen verletzt. Die israelische Armee bestätigte den Raketenbeschuss und bezeichnete ihn als Reaktion auf mehr als 70 palästinensische Granatenangriffe auf jüdische Ziele.
Die Gewaltspirale im Nahen Osten funktioniert also ungebrochen und nimmt keine Rücksicht auf den US-amerikanischen "Kampf gegen den Terror". Seit dem Beginn der Intifada vor 14 Monaten sind mindestens 720 Palästinenser und 189 Israelis getötet wurden. Eine Ende des Mordens ist nicht in Sicht. Für Ariel Scharon sind Arafats Palästinenser ohnehin allesamt des Terrorismus verdächtig. Da bietet der US-Feldzug gegen Afghanistan und künftig möglicherweise andere Ziele nicht unbedingt einen Anschauungsunterricht in Sachen Deeskalation. Warum, so mag sich Scharon fragen, soll ich nicht dürfen, was die Freunde in Washington andernorts doch auch tun.
Quellen: Verschiedene Tageszeitungen (u.a. Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung) vom 23. bis 26. November 2001
Peter Strutynski (26. November 2001)
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