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Keine Mauer zum Gaza-Streifen

Der israelische Anthropologe Jeff Halper* über das Wechselspiel zwischen Abzug und Aufrüstung in den besetzten Gebieten sowie den Abschied von der "Road Map"

Im Folgenden dokumentieren wir ein Gespräch, das der "Freitag" aufgezeichnet und veröffentlicht hat.



FREITAG: Betrachten Sie es als Sieg über die radikalen Siedler, wenn der israelische Abzug aus dem Gaza-Streifen durchgesetzt wird?

JEFF HALPER: Meinen Sie das ernst?

Durchaus. Schließlich wurde Ariel Sharon immer nachgesagt, er würde sich gegen die radikalen Gruppen nicht genügend zur Wehr setzen.

Grundsätzlich ist natürlich jeder Rückzug israelischer Siedler und Militärs aus den besetzten Gebieten zu begrüßen. Nur steht der jetzige Rückzug nicht im Kontext eines umfassenderen Friedensprozesses. Er stellt eine unilaterale Handlung dar, die in keinem Fall - auch wenn dieser Eindruck vielleicht entstanden ist - auf eine weitläufige Demilitarisierung der Region durch Israel schließen lässt. Im Gegenteil: Sharon hat bekanntlich deutlich gemacht, dass die israelische Präsenz in der West-Bank auf keinen Fall gemindert wird. Dass er Wort hält, können wir daran ersehen, wie die Armeeführung derzeit sowohl die Siedlungen als auch die Truppen neu gruppiert, so dass es für sie künftig sehr viel einfacher sein wird, die Westbank zu kontrollieren.

Zugleich gibt die Armee zu verstehen, sie wolle eine Schutzzone an der Grenze zum Gaza-Streifen errichten ...

... was doch deutlich macht, dass der Gaza-Streifen unter israelischer Kontrolle bleibt. Wenn all diese Aktionen von israelischer Seite erste Schritte eines Friedensplans wären, dann könnte man abwarten und hoffen, aber alle Begleitmaßnahmen belegen schließlich: der Abzug ist Teil einer verschärften Sicherheitspolitik, die - das ist zu befürchten - die sozialen und politischen Ursachen des Konfliktes weiter anheizt.

Rechnen Sie bezüglich einer Sicherheitszone zum Gaza-Streifen mit ähnlichen Maßnahmen wie dem Bau der Mauer in der Westbank?

Mit diesen Dimensionen ist nicht zu rechnen, weil der Gaza-Streifen ohnehin aus eigener Kraft nicht lebensfähig ist. Während der militärischen Konfrontation der vergangenen Jahre hat die israelische Armee die Infrastruktur dort fast vollständig zerstört. Hunderttausende Menschen verloren ihre Unterkünfte - und es wurde ihnen verboten, ihre Häuser neu zu errichten. Die Trinkwasserversorgung ist bis heute prekär. Durch den Wassermangel ist die Landwirtschaft fast vollständig zerstört. Die palästinensischen Fischer leiden unter einer Seeblockade der israelischen Marine. Nach dem Osloer Abkommen müsste ihnen eine Zwölf-Meilen-Zone zur Verfügung stehen. De facto ist es gerade einmal eine Meile - viel zu wenig, um die Fischbestände zu erreichen.

Mit anderen Worten, ohne internationale Hilfslieferungen ist der Gaza-Streifen allein nicht existenzfähig ...

... deshalb beharren wir vom ICAHD, dem Komitee gegen Hauszerstörungen, auf einer Grundposition: Nur eine Initiative, die zu einem lebensfähigen palästinensischen Staat führt, ist eine sinnvolle Initiative. Der Gaza-Abzug gehört nicht dazu.

Ihr Komitee hat der Regierung Sharon vorgeworfen, Nebelkerzen zu werfen. Die Aufmerksamkeit würde auf den Abzug gelenkt, um eine forcierte Aufrüstung zu vertuschen. Was meinen Sie damit genau?

Es sind mehr als nur Nebelkerzen. Die israelische Regierung erklärt inzwischen offen, dass in den Friedensprozess keine großen Hoffnungen mehr gesetzt werden sollten. Entsprechende Verlautbarungen sind aus dem Büro des Premierministers zu hören. Ziehen wir dies in Betracht, fällt doch eines auf: Der Gaza-Streifen war bisher das einzige Gebiet, in dem es noch militärische Konflikte mit palästinensischen Gruppen gab. Wenn dieser Widerstand eliminiert ist, wird Ruhe herrschen - eine Friedhofsruhe, in deren Folge der Nahostkonflikt an internationaler Aufmerksamkeit verliert und der Druck spürbar sinken wird, eine politische Lösung zu finden. Israel könnte den Status quo bis auf weiteres aufrecht erhalten - trotz der humanitären Katastrophe, die durch die Ausgrenzung der Palästinenser droht.

Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die momentane Nahostpolitik der USA?

Als vollkommen widersprüchlich und wenig kohärent. Auf der einen Seite gehören die USA zu den Autoren und Garantiemächten der "Road Map", die nun einmal ein vollständiges Ende der Besatzung vorsieht. Andererseits hat Präsident Bush gegenüber Ariel Sharon die Fortsetzung der israelischen Politik akzeptiert, die sogenannte "größere Siedlungsblöcke" von einem Rückzug ausnimmt. Die US-Regierung findet sich damit ab, dass eine israelische Besatzung in großen Teilen der Westbank und in Ostjerusalem quasi festgeschrieben wird.

Sollte die EU mehr Einfluss geltend machen?

Natürlich sollte sie. Wenn Sie aber heute mit EU-Politikern sprechen, rechten oder linken, hören Sie immer den gleichen Satz: "Das müssen wir den USA überlassen". Europa entzieht sich damit der Verantwortung, denn solange die Amerikaner im Nahen Osten das Sagen haben, wird sich Israel durchsetzen.

* Das Gespräch führte Harald Neuber

* Jeff Halper (56) lehrt als Anthropologe an der Ben-Gurion-Universität. Der Friedensaktivist lebt seit 1973 in Israel und gründete dort das Komitee zur Rettung der Äthiopischen Juden. Zur Zeit ist er Koordinator des Komitees gegen Hauszerstörungen (ICAHD).

Aus: Freitag 33, 19. August 2005


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