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Unter Nazieinfluß?

Gilbert Achcars Buch über Faschismus und Araber

Von Gerd Bedszent *

Der libanesisch-französische Philosoph und Sozialwissenschaftler Gilbert Achcar, als Professor für Entwicklungspolitik in London ansässig, hat sich der Aufgabe unterzogen, »Licht in die Finsternis« des seit Jahrzehnten währenden »Kriegs der Geschichtsschreibungen« zum Nahostkonflikt zu bringen. Der von Achcar in »Die Araber und der Holocaust« als »janusköpfig« bezeichnete Staat Israel erklärt seine Existenzberechtigung aus der Shoa und auch aus einer angeblichen Kumpanei der palästinensischen Araber mit den deutschen Nazis. Der Autor läßt bereits in der Einleitung keinen Zweifel daran, daß Israel für ihn auch ein »kolonialer Siedlerstaat« ist. Er unterscheidet zwischen der nazistischen Judenvernichtung und deren Instrumentalisierung durch die zionistische Führung einerseits und einer durch israelische Geschichtsschreibung verzerrt wiedergegebenen Holocaust-Rezeption in der arabischen Öffentlichkeit und tatsächlichen antisemitischen Äußerungen arabischer Politiker andererseits.

Hauptströmungen

Der Autor wirft verschiedenen Historikern, die zur Holocaust-Reflexion in der arabischen Welt publiziert haben, schlampige Arbeit und/oder einseitige Betrachtungsweise vor. Er stellt zunächst fest, daß es »die Araber« nur »in der Einbildung einer durch alltäglichen Rassismus oder politischen Fanatismus verzerrten Wahrnehmung« gibt. An den Beginn seiner Darstellung stellt er daher eine Analyse der vier politischen Hauptströmungen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die arabische Welt dominierten: westlich orientierte Liberale, Marxisten, Nationalisten und reaktionäre Panislamisten. Bis in die 1960er Jahre hinein könne bei der arabischen Bevölkerungsmehrheit von Antisemitismus keine Rede sein. Zwar gebe es seit den 1920er Jahren auch faschistische Parteien, sie seien jedoch vergleichsweise winzig – der Einfluß der Faschisten auf die entstehende arabische Nationalbewegung blieb gering. Als Beispiel einer noch heute existierenden Partei mit klerikalfaschistischen Wurzeln nennt der Autor die libanesische Phalange – groteskerweise bis in die jüngere Vergangenheit hinein enger Verbündeter Israels gegen den palästinensischen Widerstand.

Achcar weist nach, daß sich Behauptungen über frühe faschistische Einflüsse auf die syrische Baath-Partei einzig auf die Tatsache stützen, daß Parteigründer Michel Aflaq in den 1930er Jahren im Besitz einer faschistischen Propagandaschrift war. Aflaq publizierte allerdings zeitgleich in kommunistischen Zeitschriften und rechnete darin mit der Naziherrschaft ab. Auch bei der Bewegung der »Freien Offiziere«, der 1952 in Ägypten die probritische Monarchie stürzte, seien wesentliche faschistische Einflüsse nicht nachweisbar. Der spätere Staatschef Gamal Abdel Nasser war zwar kurze Zeit Mitglied in der dubiosen Splitterpartei »Junges Ägypten«, verließ diese aber, bevor sie einen Schwenk in Richtung Hitlerdeutschland vollzog. Das einzige Mitglied des »Bundes«, das tatsächlich ein »notorischer Judenhasser« war, mit Hitler sympathisierte und sich 1942 sogar mit Agenten von Feldmarschall Erwin Rommel traf, war der spätere ägyptische Präsident und engste Verbündete Israels im arabischen Raum, Anwar Al-Sadat.

Reaktionäre Ideologie

Ausführlich beschäftigt sich der Achcar mit Amin Al-Husseini, einem tatsächlich widerlichen Nazi und Kronzeugen der israelischen Geschichtsschreibung für den angeblichen Pro-Faschismus der palästinensischen Araber. Der Autor schildert den Großmufti von Jerusalem als adligen Tunichtgut, der sich zunächst durch hemmungslose Vetternwirtschaft einen Namen machte. Nachdem er bei seinen britischen Gönnern in Ungnade gefallen war, verkaufte er sich im Exil mit Haut und Haaren an das deutsche Propagandaministerium und rief 1941 zum »Dschihad gegen England« auf. Der Einfluß des Mufti blieb allerdings gering. Wie Achcar schreibt, kämpften im Zweiten Weltkrieg ganze 6300 arabische Soldaten in den Armeen der faschistischen Mächte. Ihnen standen Hunderttausende Araber in den Reihen der britischen und Freien Französischen Streitkräfte gegenüber. Etwa 2000 Araber waren in deutschen Konzentrationslagern interniert.

Achcar geht heftig mit dem fundamentalistischen Panislamismus ins Gericht, dem er tatsächlich eine religiös motivierte Judenfeindlichkeit bescheinigt. Er unterscheide sich zwar deutlich vom rassistischen Antisemitismus der Nazis, dennoch hätten sich panislamische Vordenker nicht selten für eine Kumpanei mit den Faschisten hergegeben und verbreiteten deren wirre Verschwörungstheorien und antisemitischen Hetzwerke. Der Autor bescheinigt Anhängern dieser mittlerweile breite Kreise der arabischen Öffentlichkeit dominierenden Strömung »bodenlose Dummheit, (weil sie) glauben, den Zionismus zu bekämpfen, indem sie andere als Antisemiten und Holocaust-Leugner übertreffen, während sie in Wirklichkeit der zionistischen Propaganda einen unschätzbaren Dienst leisten«. Warum es in den letzten Jahren in der arabischen Welt zum Durchmarsch dieser vom Autor zu Recht als »reaktionär« charakterisierten Ideologie kommen konnte, warum die anderen Strömungen einen rapiden Niedergang erlebten, stellt er nicht überzeugend dar. Einen »Niedergang des Bildungssystems« und »Verdummung durch das Fernsehen« dafür verantwortlich zu machen, greift zu kurz.

Achcars Vision eines gleichberechtigten Zusammenlebens aller Völker Palästinas ist selbstverständlich zuzustimmen. Die Chancen für eine Verwirklichung stehen aber, trotz einiger von Autor genannten Lichtblicke, derzeit eher schlecht.

Gilbert Achcar: Die Araber und der Holocaust - Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen. Edition Nautilus, Hamburg 2012, 367 Seiten, 29,90 Euro

* Aus: junge Welt, Montag 4. Juni 2012


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