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"Die Politik des vorrangigen Einsatzes militärischer Mittel hat die Welt nicht friedlicher, sondern unsicherer gemacht"

27 ehemalige Diplomaten aus West- und Ostdeutschland (BRD und DDR) schreiben einen bemerkenswerten Brief an das Europäische Parlament

Im Folgenden dokumentieren wir einen Brief, den 27 ehemalige Botschafter der früheren DDR und der (alten) BRD am 17. Februar 2005 an den Präsidenten des Europäischen Parlaments geschrieben haben. Darin fordern sie ein Ende des sog. "Krieges gegen den Terror", der nur das Gegenteil von dem bewirkt habe, was er versprach, und eine Umkehr in der Behandlung islamischer Staaten. (Siehe hierzu auch das Interview mit einem der Unterzeichner: "Arabische Vorschläge ernst nehmen".)


Präsident
des Europäischen Parlaments

Herrn
Josep Borrel Fontelles
Rue Wiertz
B-1047 Brussel


Berlin, den 17. Februar 2005

Sehr geehrter Herr Präsident,

als Diplomaten, die über Jahrzehnte im Nahen und Mittleren Osten sowie in der internationalen Politik tätig waren und denen die Bewahrung von Frieden und Sicherheit am Herzen liegt, wenden wir uns aus tiefer Besorgnis um den zunehmend konflikthaften und friedensbedrohlichen Zustand, in dem sich gegenwärtig das Verhältnis des Westens zur islamischen Welt befindet, an Sie, Herr Präsident, und die Abgeordneten des Europäischen Parlaments.

Bereits seit Jahren zeichnet sich ab, dass der Westen mit seiner Außen- und Sicherheitspolitik bisher nicht imstande ist, auf das zunehmende Phänomen des Islamismus als Oberbegriff für vielgestaltige und differenzierte politische Bewegungen in den islamischen Ländern - inzwischen auch in Europa selbst präsent- eine solche strategische Antwort zu finden, die langfristig dem friedlichen Zusammenleben der Völker von Orient und Okzident dient. Vieles deutet im Gegenteil darauf hin, dass der von dem Harvardprofessor Samuel P. Huntington heraufbeschworene „clash of civilizations" Realität werden könnte. Nicht weil das unvermeidbar wäre, sondern eher deshalb, weil die westliche Politik in den islamischen Ländern als Versuch der Beherrschung der Naturressourcen dieser Region, als Dominanzstreben, als Angriff auf tief verwurzelte Werte, moralische Normen und religiöse Gefühle empfunden wird, nicht zuletzt auch durch den Mangel an Einfühlungsvermögen für den islamischen Kulturkreis. Wie sich viele Muslime vom Westen bedroht fühlen, so entwickeln auch dort viele Menschen unter dem Einfluss von Politik und Medien gegenüber dem Islam ein Feindbilddenken.

Nach dem Urteil von UNO-Generalsekretär Kofi Annan hat die bisher verfolgte Politik einer Eskalation von Gewalt und Gegengewalt, des vorrangigen Einsatzes militärischer Mittel und westlicher Interventionen in islamischen Regionen und Staaten die Welt nicht friedlicher, sondern unsicherer gemacht. Es besteht kein Zweifel, dass Menschen vor Terrorismus zu schützen sind und dieser entschieden zu bekämpfen ist. Der einseitig militärisch dominierte Politik-Ansatz aber ist, wie der israelisch-palästinensische Konflikt, Afghanistan, Irak, Zentralasien und Tschetschenien zeigen, gescheitert. Er führte nur zu weiterem Zulauf für terroristische Netzwerke. Deshalb fordert die politische Vernunft, die bisherige Strategie kritisch zu überprüfen und zu revidieren. Ist es nicht an der Zeit, darüber nachzudenken, wie man zum Frieden kommt, wie friedliche Koexistenz zwischen dem Westen und der islamischen Welt langfristig gewährleistet werden kann?

Es beunruhigt uns zutiefst, dass für den „Krieg gegen den Terror“ kein Ende gedacht wírd. In Abkehr von der wichtigsten Lehre Europas aus zwei Weltkriegen wird seit dem 11.September versucht, Krieg als Mittel der internationalen Politik zu rehabilitieren. Die europäischen Regierungen benötigten nur wenige Monate, um Programme, Mechanismen und Mittel für den Kampf gegen den Terrorismus auszuarbeiten. Doch fehlt noch immer ein Friedensentwurf. Die Friedensfrage gehört unseres Erachtens in das Zentrum der Diskussion, auch im Europäischen Parlament. Zu klären ist vor allem: Welche friedlichen, politisch-diplomatischen Auswege gibt es aus dem Dilemma des Krieges? Welche Alternativen bestehen zum gegenwärtig vorherrschenden Umgang mit Islamismus?

Sehr geehrter Herr Präsident, es sollte dem europäischen Parlament möglich sein, für das Verhältnis zur islamischen Welt einen Weg zu entwerfen und einzuschlagen, der zu einem Modus vivendi friedlicher Koexistenz führt. Die politischen und gesellschaftspolitischen Ziele der islamistischen Gesellschaftsopposition sind im Großen und Ganzen bekannt. Auch die wesentlichen strukturellen Ursachen gesellschaftlicher Unzufriedenheit und Spannungen liegen nicht im Dunkeln: Unterentwicklung im umfassenden Sinne, Reform- und Demokratisierungsdefizite sowie jene anti-westliche Grundstimmung, die auch vom Verhalten des Westens gegenüber der islamischen Welt genährt wird.

Für diese Ursachen und Zusammenhänge besteht in den politischen Kreisen der EU wachsendes Problembewusstsein. In der Außenpolitik von EU-Staaten gibt es Bestrebungen, den Konflikt mit Islam und der islamischen Welt nicht zuzuspitzen, sondern zu entspannen. Davon sollte ausgegangen werden, um den andauernden Zustand von Krieg und äußeren Interventionen sowie die Regelungskrise schnellst möglich zu überwinden, in der sich der Umgang mit dem Konflikt um den Terrorismus befindet. Dafür bedarf es alternativer Initiativen, die die Friedensfrage ins Zentrum der Diskussion rücken. Zu beraten ist, wie Europa zurück zum Frieden kommt, welche Wege aus dem Terrorismusdilemma heraus führen sowie seiner weiteren Internationalisierung und Verstetigung vorbeugen.

Sehr geehrter Herr Präsident, Europa sollte sich auf eine lang anhaltende Periode einstellen, in der in islamischen Ländern politische Bewegungen ihre Forderungen religiös auf der Grundlage des Islam, nicht säkularistisch sondern islamistisch, artikulieren. Die bis in die europäische Kolonialepoche zurückreichende Dominanzdimension im Umgang des Westens mit der islamischen Welt ist Teil des historischen Prozesses, in dem die Grundlagen des heutigen Terrorismusdilemmas entstanden. Es wird eines langfristigen Prozesses bedürfen, sie auszuräumen. Doch dieser Prozess muss jetzt begonnen werden.

Für eine Umorientierung auf eine friedliche Konfliktregelung sehen wir konkrete Handlungsmöglichkeiten. Unmittelbare Ziele müssen die Überwindung des Kriegszustandes und der Übergang zu Vertrauensbildung sein. Dafür sollte kurzfristig und pragmatisch ein politisch-diplomatisches Instrumentarium entwickelt werden.
  • Eine erste, sofortige nichtmilitärische Handlungsdimension ist die fundierte Klärung, welche konkreten Streitfragen auszuräumen und welche politisch-diplomatischen Regelungsideen zu entwickeln sind, wie zwischen extremistischen und gemäßigten Islamisten differenziert werden kann, ob Gespräche und Vertrauensbildung möglich sind, mit wem und wie.
  • Sofort realisierbar wäre die Demonstration europäischer Bereitschaft zum „Neuanfang“ im Verhältnis zur islamischen Welt. Die Anerkennung der Ganzheitlichkeit gemeinsamer Sicherheit, die Respektierung der jeweiligen zivilisatorischen Werte und Entwicklung bilden den Kern neu zu schaffender Beziehungen, die auf Kooperation und Koexistenz beruhen. In der Gestaltung solcher Beziehungen, die nicht die Aufgabe jeweiliger Werte und Prinzipien bedeuten, hat Europa sowohl aus dem KSZE-, als auch dem europäischen Integrationsprozess Erfahrungen.
  • Europa sollte für sofortige Entspannungsmaßnahmen gegenüber dem arabischen, west- und südwestasiatischen Raum eintreten. Für den Nahen Osten besitzen die unverzügliche Regelung des israelisch-palästinensischen Konflikts und die Beendigung der Okkupation Iraks Priorität. Für eine Irakregelung sollten aus dem arabischen Raum kommende Vorschläge europäische Unterstützung finden, wie sie der Generalsekretär der Arabischen Liga, Amre Mussa, unterbreitete: Beendigung der Okkupation, Truppenabzug nach einem Zeitplan, Wiederaufbau Iraks (von den Irakern selbst geplant und beschlossen), volle Selbstbestimmung ihrer Zukunft durch die Iraker selbst und nicht durch Fremde.
  • Schließlich halten wir es für wichtig, das Zukunftsprofil europäischer Politik gegenüber dem islamischen Raum und dort stattfindenden gesellschaftspolitischen Prozessen neu zu bestimmen. Dazu gehört auch ein selbstkritisches Überprüfen eigener Fehler.
Sehr geehrter Herr Präsident,
wir möchten Ihnen vorschlagen, dass sich das Europäische Parlament mit den von uns aufgeworfenen Sorgen, Fragen und Vorschlägen beschäftigt. Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie dieses Schreiben den Abgeordneten des Europäischen Parlaments zur Kenntnis geben.

Wir erlauben uns, Kopien dieses Briefes an die Vorsitzenden der im Parlament vertretenen Fraktionen zu übermitteln.

Mit vorzüglicher Hochachtung
Dr. Arne C. Seifert
i.A. der Unterzeichner

Gezeichnet von:
Dr. Wolfgang Bator, Botschafter a.D.; Prof. Dr. Siegfried Bock, Botschafter a.D.; Klaus-Dieter Ernst, Botschafter a.D.; Dr. Werner Fleck; Botschafter a.D.; Wolfgang Grabowski, Botschafter a.D.; Prof. Dr. Horst Grunert, Botschafter a.D.; Dr. Jürgen Hellner, Botschafter a.D.; Norbert Jaeschke, Botschafter a.D.; Karl-Heinz Kern, Botschafter a.D.; Heinz Knobbe, Botschafter a.D.; Wolfgang Konschel, Botschafter a.D.; Roland Lindner, Botschafter a.D.; Günter Mauersberger, Botschafter a.D.; Peter Mende, Botschafter a.D.; Dr. Kurt Merkel, Botschafter a.D.; Dr. Bernhard Neugebauer, Botschafter a.D.; Otto Pfeiffer, Botschafter a.D.; Achim Reichard, Botschafter a.D.; Roland Lindner, Botschafter a.D.; Dr. Hans-Georg Schleicher, Botschafter a.D.; Manfred Schmidt, Botschafter a.D.; Freimut Seidel, Botschafter a.D.; Dr. Arne C. Seifert, Botschafter a.D.; Dr. Hans Voß, Botschafter a.D.; Ronald Weidemann, Botschafter a.D.; Erich Wetzel, Botschafter a.D.; Dr. Heinz-Dieter Winter, Botschafter a.D.


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