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Die Zeit der schnellen Siege ist passé

Gemeinsame Perspektive oder westliche Dominanz im Nahen und Mittleren Osten?

Von Arne C. Seifert und Heinz-Dieter Winter *

Das Verhältnis Europas zur nah- und mittelöstlichen Region darf nicht weiter verschlechtert werden. Auch das verbale Zündeln sollte aufhören. Deutsche Medien sprechen inzwischen wie USA-Präsident Bush von »islamistischen Faschisten«, gegen die sich der Krieg gegen den Terror richte. Dazu kommen Aufforderungen an die Deutschen, sich darauf einzustellen, dass die Bundeswehr »das Mittel der Wahl« auch gegen radikalen Islamismus sei (»Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«, 13.8.). Diese verantwortungslosen Äußerungen grenzen an Kriegstreiberei. Welches Echo lösen solche Signale unter 1,3 Milliarden Muslimen aus? Ist sich die europäische Politik darüber im klaren, dass die EU, auch Deutschland, und die Staaten der nah- und mittelöstlichen Nachbarregionen vor einer strategischen Richtungsentscheidung stehen? Auf dem Spiel steht der Charakter ihres zukünftigen Verhältnisses. Wird dieses von einer Strategie »externer Ordnungsprojekte« des Westens dominiert? Oder auf demokratische politische Regeln und Völkerrechtsprinzipien begründet, die Beziehungen einer kooperativen, friedlichen Koexistenz ermöglichen.

Ersteres würde Europa und seine südlichen Nachbarstaaten in einen Zustand permanenter Spannungen, Krisen- und Kriegszustände stürzen. Die Ursachen von Spannungen und auch der Terror wären nicht überwunden. Obgleich im europäischen Raum erkannt wird, dass ein solcher Zustand nicht wünschenswert ist, wird die Intention der US-Administration nach einer politischen »Neuordnung« von »Greater Middle East« im Wesen unterstützt. Dabei gibt es durchaus Differenzen zwischen der aggressiven »forward strategy of freedom« der Bush-Administration und einer »weichen, demokratisierenden Intervention«, wie sie einige EU-Mitglieder, auch die Bundesrepublik, noch favorisie-ren. Letztere enthält noch koexistenzielle Ansätze. Die Unterschiede verkleinern sich jedoch in dem Maße, in dem die jetzige Bundesregierung zunehmend auf Interventionismus setzt, um sich als »global player« zu profilieren. Vom Hindukusch bis zum Nahen Osten taktet sie sich in das grundsätzliche Ziel der ordnungspolitischen Stoßrichtung der Bush-Administration ein. Auch militärisch.

Die USA haben ihr militärisches Potenzial im Persischen Golf, im Irak, im weiteren arabischen Raum und im Mittelmeer verstärkt. Erstmals nach dem Ende des Ost-West-Konflikts treten die transatlantische Allianz und ihre Mitgliedsstaaten hier militärisch auf den Plan. Sie agieren am Horn von Afrika, im Arabischen Meer und kämpfen im an Iran grenzenden Afghanistan. Die NATO beabsichtigt, an der Grenze zu Pakistan einen permanenten Stützpunkt zu errichten.

Die westlichen Militärinterventionen bewirken neue Formen von Krieg und Gegenkrieg. In ihnen ist der unterschiedslose Waffeneinsatz gegen militärische und zivile Ziele völkerrechtswidrige, gängige Praxis geworden. Die Ergebnisse sind für den Westen negativ. »Es sind die professionellsten und waffentechnisch überlegensten Armeen«, die in den Kriegen dieser Region erleben müssen, dass »die Epoche der schnellen Siege« vorbei ist, resümiert Volker Rühe (»Frankfurter Allgemeine Zeitung«, 2.8.). Das Risiko ist groß, das politische Ziel zu verfehlen.

Die Staaten der nah- und mittelöstlichen Region sehen sich durch ein Umzingelungsszenarium mit gewaltigem militärischem Interventionspotenzial umstellt. Dies schafft ein drastisches Sicherheitsdefizit nicht nur für das islamische Regime in Iran oder für Syrien. Die Verunsicherung durch den Westen erfasst auch alle anderen politischen Kräfte: Diejenigen, die an der Macht sind und ihren Sturz von innen oder außen befürchten, wie auch jene, die sich nach westlichen Kriterien nicht konsequent genug »demokratisieren«, und schließlich die nach Macht strebenden Islamisten. Die Bundesrepublik läuft ernsthaft Gefahr, durch die Fortsetzung der bisherigen Politik sich zwischen alle Stühle zu setzen.

Auf arabischer und islamischer Seite schwinden die Hoffnungen, dass sich Europa zur Wahrung ihrer Interessen als eine Art »dritte Kraft« eignen könnte. Für sie hat sich der Westen erneut in einen anti-islamischen oder anti-arabischen Block gewandelt. In der Region befürchtet man seinen Rückfall in »alte« Hegemonialpolitik zu Gunsten der Energie- und Wirt-schaftsinteressen. Die Erinnerungen an die Suez-Aggression Israels, Englands, Frankreichs 1956 ist kaum verblasst. Aus den neuen Erfahrungen wächst Widerstand nicht nur bei Islamisten. In Irak und Afghanistan formiert sich eine neue Qualität antiwestlichen Widerstands. Neben terroristischen Gruppen wie Al-Quaïda greifen in ihn ein breites Spektrum islamistischer Kräfte ein (von denen nur ein sehr geringer Teil als terroristisch zu bezeichnen ist) sowie auch nationalistische Gruppen.

Der Leiter der UNO-Vertretung in Afghanistan, Tom Koenigs, hält die neue Befreiungsbewegung für militärisch nicht besiegbar. Die Neuordnungspolitik des Westens droht die Region nicht nur in Chaos zu stürzen. Sie erweist sich als kontraproduktiv auch hinsichtlich der eigenen Ziele. Das Londoner Institut Chatham House schätzt ein, dass der Einfluss Irans durch Washingtons Krieg gegen den Ter-ror gestärkt wurde. Mit den Taliban in Afghanistan und dem Saddam-Hussein-Regime im Irak hätten die USA zwei der wichtigsten regionalen Rivalen Irans eliminiert. Weder die Taliban in Afghanistan, noch die Diktatur im Irak sei »durch kohärente und stabile politische Strukturen« ersetzt worden. Der Irak scheine mittlerweile von den Besatzungsmächten nicht mehr kontrollierbar, während in Afghanistan wieder jene Kräfte erstarkten, die vor fünf Jahren militärisch geschlagen wurden. Ungeachtet aller Bemühungen der USA, Iran in die Knie zu zwingen, habe Teheran »erfolgreich seine Beziehungen mit den Nachbarn kultiviert, sogar mit jenen arabischen und sunnitischen Staaten, die seinen Einfluss fürchten«. Der Iran sehe sich inzwischen in einer »Position beachtlicher Stärke«. Im Irak, den Teheran längst als »seinen eigenen Vorgarten« ansehe, habe »der Iran inzwischen die USA als einflussreichste Macht abgelöst, was ihm eine Schlüsselrolle für die Zukunft des Irak verschafft«.

In der Palästinafrage scheint eine Friedenslösung durch die Schaffung eines lebensfähigen palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967 weiter entfernt denn je. Seit fast 40 Jahren duldet der Westen Israels Weigerung, die Sicherheitsratsresolution 242 zu erfüllen und sich auf die Grenzen von 1967 zurückzuziehen. Der Boykott der demokratisch gewählten islamistischen Hamas-Regierung, der die Palästinenser in eine humanitäre Katastrophe stürzte, ist ein weiterer Ausdruck des Versagens westlicher Nahostpolitik.

Es erfüllt alle demokratisch gesinnten und friedliebenden Menschen mit Sorge, dass der iranische Präsident Ahmadinedschad und andere islamistische Kräfte das Existenzrecht Israels in Frage stellen – verwunderlich ist es vor diesem Hintergrund nicht. Noch ist Zeit, die Zweistaatenlösung durchzusetzen. Noch ist Zeit, dass Israel den bisher abgelehnten Friedensplan der arabischen Gipfelkonferenz von Beirut aus dem Jahr 2002 akzeptiert. Darin erklärten sich die arabischen Seiten bereit, Frieden, Si-cherheit und normale Beziehungen mit Israel zu gewährleisten, wenn es sich auf die Grenzen von 1967 zurückzieht. Sollten in Ägypten und anderswo aber Islamisten an die Macht gelangen oder Regierungspolitik nachdrücklich beeinflussen, werden sie ihre »Neuordnung« der Region der westlichen entgegensetzen. Dann würde das Aushandeln einer Zweistaatenlösung zwischen Israel und den islamischen, arabischen Seiten zwar immer noch nicht chancenlos sein, aber ungleich schwieriger.

Mit dem Militäreinsatz im Libanon sei ein »militärischer Rubikon« überschritten worden, schätzt selbst Joschka Fischer ein (»Daily Star«, Beirut, 5.9.). Angesichts der hohen Risiken dieses Einsatzes mahnte er eine Strategie des Westens zur Stabilisierung der Region an. Von welcher Art sie sein solle – diese Frage blieb bei ihm offen. Doch gerade sie gilt es zu diskutieren.

Wo finden sich Antworten? Erstens, in einem neuen Verständnis vom europäischen Stabilitätsraum. Ein solcher ist erst dann erreichbar, wenn er als Gesamtraum der EU und seiner südlichen Nachbarn gedacht wird, in dem hinsichtlich Stabilität und Sicherheit kein Nord-Süd-Gefälle herrscht, sondern das Verhältnis aller Seiten auf gleichwertiger und gemeinsamer Stabilität beruht. Zweitens, in neuen Verflechtungsprozessen, denen sich Europa in jenem Gesamtraum zu stellen hat. Die Stichworte dafür sind: Globalisierung, unumkehrbare Präsenz starker muslimischer Gemeinden in Europa, zunehmende Migration, Energiesicherheit, Transport- und Handelswege, neue gesellschaftspolitische Entwicklungsprozesse. Die prekäre Situation auf dem Energieressourcensektor wird Gewicht und politische Spielräume der nah- und mittelöstlichen Regimes erhöhen. Dort wird man darauf achten, welche Wahl Europa trifft – interventions- oder konsensorientiert. Gebraucht wird folglich Berechenbarkeit der Beziehungen, die auf einer gemeinsamen, klar definierten Perspektive beruhen. Ihre Kernbereiche sollten sein:
  • Respektierung der Integrität der Zivilisation des Anderen;
  • Anerkennung der Unterschiedlichkeit seiner Gesellschaften und ihrer politischen Systeme;
  • Recht auf einen selbstbestimmten Entwicklungsweg, darunter einen sich am Islam orientierenden;
  • gleichwertige Sicherheit in einem gemeinsamen Stabilitätsraum.
Dies bedeutet für keine Seite Aufgabe von Werten und Prinzipien und keinen Abstrich unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten. Europas Sicherheit ist ohne die Stabilität jener Regionen ohnehin nicht denkbar.

* Die Autoren gehören der "Initiative Diplomaten für Frieden mit der islamischen Welt" an.

Aus: Neues Deutschland, 29. September 2006



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