Nahost-Konflikt: Die Aufsehen erregende Erklärung von US-Präsident Bush im Wortlaut ...
... und erste Reaktionen darauf
Am 4. April 2002 reagierte US-Präsident Bush auf die Eskalation des israelisch-palästinenischen Kriegs mit einer öffentlichen Erklärung. Darin wird - deutlicher als je zuvor - die israelische Regierung zum Rückzug aus den besetzten Gebieten aufgefordert. Wir dokumentieren im Folgenden die Erklärung im vollen Wortlaut (in der von der US-Botschaft in Berlin autorisierten deutschen Übersetzung) und fügen erste Kommentare hierzu an. Unter den Kommentaren verdient der von Hans Lebrecht besonders hervorgehoben zu werden, da er die Reaktionen der Bush-Botschaft im israelischen und arabischen Friedenslager beschreibt. Hans Lebrecht (Israel) ist unseren Hompage-Besuchern als regelmäßiger Kommentator der Ereignisse im Nahen Osten bereits bekannt.
Erklärung von Präsident George W. Bush im Weißen Haus vom 4. April 2002.
Guten Morgen. Im Verlauf von einer Woche hat sich die Situation im Nahen
Osten dramatisch verschlechtert. Am Mittwoch berichtete mir mein
Sondergesandter Anthony Zinni, dass wir unmittelbar vor einem
Waffenstillstandsabkommen stehen, das palästinensische und israelische
Menschenleben gerettet hätte.
Diese Hoffnung wurde zunichte gemacht, als Terroristen eine Gruppe
unschuldiger Menschen in einem Hotel in Netanya angriffen und viele Männer
und Frauen töteten. Der Terror fordert einen immer höheren Tribut.
In den inzwischen vergangenen Tagen hat die Welt mit wachsender Besorgnis
den Horror der Bombenanschläge und Beerdigungen sowie das erschreckende Bild
von Panzern auf den Straßen beobachtet. Auf der ganzen Welt trauern die
Menschen um die Israelis und Palästinenser, die ihr Leben verloren haben.
Wenn ein 18-jähriges palästinensisches Mädchen überredet wird, sich selbst
in die Luft zu sprengen und dabei ein 17-jähriges israelisches Mädchen
tötet, stirbt selbst die Zukunft - die Zukunft des palästinensischen Volks
und die Zukunft des israelischen Volks. Wir beklagen die Toten, und wir
beklagen den Schaden, den die Hoffnung auf Frieden erlitten hat, die
Hoffnung Israels und der Israelis auf einen jüdischen Staat im Frieden mit
seinen Nachbarn, die Hoffnung des palästinensischen Volks, seinen eigenen
unabhängigen Staat aufzubauen.
Der Terror muss beendet werden. Keine Nation kann mit Terroristen
verhandeln. Denn es gibt keinem Weg zu Frieden mit denjenigen, deren
einziges Ziel der Tod ist.
Dies könnte ein hoffnungsvoller Moment im Nahen Osten sein. Der von der
Arabischen Liga unterstützte Vorschlag von Kronprinz Abdullah von
Saudi-Arabien hat eine Reihe von Ländern in der arabischen Welt der
Anerkennung des israelischen Existenzrechts näher als je zuvor gebracht. Die
Vereinigten Staaten haben ihre Unterstützung des legitimen Strebens der
Palästinenser nach einem palästinensischen Staat erklärt.
Israel hat das Ziel eines palästinensischen Staates anerkannt. Die
Bedingungen für eine gerechte Lösung sind klar: zwei Staaten, Israel und
Palästina, die Seite an Seite in Frieden und Sicherheit leben.
Dies kann eine Zeit für Hoffnung sein. Aber sie braucht Führungsstärke,
nicht Terror. Folgende Botschaft habe ich seit dem 11. September
übermittelt: Jeder muss eine Entscheidung treffen; entweder ist er auf der
Seite der zivilisierten Welt, oder er ist auf der Seite der Terroristen.
Alle im Nahen Osten müssen sich entscheiden und entschlossen mit Worten und
Taten gegen Terrorakte vorgehen.
Der Vorsitzende der Palästinensischen Autonomiebehörde hat sich nicht
konsequent gegen die Terroristen gestellt oder sich mit ihnen auseinander
gesetzt. In Oslo und andernorts hat Palästinenserführer Arafat dem Terror
als einem Instrument für seine Sache abgeschworen und zugestimmt, ihn zu
kontrollieren. Das hat er nicht getan.
Die Lage, in der er sich heute befindet, hat er im wesentlichen sich selbst
zuzuschreiben. Er hat seine Chancen verpasst und dadurch die Hoffnungen der
Völker enttäuscht, die er führen soll. Angesichts seines Scheiterns hat die
israelische Regierung das Gefühl, dass sie die Terrornetze angreifen muss,
die ihre Bürger töten.
Dennoch muss Israel verstehen, dass seine Reaktion auf diese jüngsten
Anschläge nur eine temporäre Maßnahme sind. Alle Parteien haben
Verantwortung. Und alle Parteien schulden es ihrem Volk zu handeln.
Wir alle wissen, dass die heutige Situation die Gefahr birgt, langfristige
Bitterkeit zu verschlimmern und die Beziehungen zu unterminieren, die für
jede Hoffnung auf Frieden entscheidend sind. Ich fordere das
palästinensische Volk, die Palästinensische Autonomiebehörde und unsere
Freunde in der arabischen Welt auf, den Terroristen gemeinsam mit uns eine
klare Botschaft zu übermitteln: Euch selbst in die Luft zu sprengen, hilft
der palästinensischen Sache nicht. Im Gegenteil, Selbstmordattentate könnten
sehr wohl die beste und einzige Hoffnung auf einen palästinensischen Staat
zunichte machen.
Alle Staaten müssen ihr bei einer Abstimmung in den Vereinten Nationen
gegebenes Versprechen halten, Terrorismus in allen seinen Formen aktiv
entgegenzutreten. Keine Nation kann seine terroristischen Freunde aussuchen
und wählen. Ich fordere die Palästinensische Autonomiebehörde und alle
Regierungen in der Region auf, alles in ihrer Macht Stehende zur Beendigung
der terroristischen Aktivitäten zu tun, die Finanzquellen der Terroristen
auszutrocknen und die Anstachelung zu Gewalt durch die Glorifizierung von
Gewalt in staatlich kontrollierten Medien oder indem Selbstmordattentäter zu
Märtyrern gemacht werden, einzustellen. Sie sind keine Märtyrer. Sie sind
Mörder. Und sie unterminieren die Sache des palästinensischen Volks.
Die Regierungen, die wie der Irak die Eltern für die Opfer ihrer Kinder
belohnen, sind der Anstiftung zu Mord der schlimmsten Art schuldig. Alle,
denen das palästinensische Volk am Herzen liegt, sollten mit uns zusammen
Gruppen wie die Al Aksa, Hisbollah, Hamas, der islamische Dschihad und alle
Gruppen, die sich dem Friedensprozess entgegenstellen und die Zerstörung von
Israel anstreben, verurteilen und gegen sie vorgehen.
Die jüngste Unterstützung der Friedensinitiative von Kronprinz Abdullah
durch die Arabische Liga ist vielversprechend und berechtigt zu Hoffnungen,
weil sie Israels Existenzrecht anerkennt. Und sie nährt Hoffnungen auf ein
andauerndes, konstruktives arabisches Engagement beim Streben nach Frieden.
Dies baut auf einer Tradition visionärer Führung auf, angefangen mit
Präsident Sadat und König Hussein und fortgesetzt durch Präsident Mubarak
und König Abdullah.
Jetzt müssen andere arabische Staaten diese Gelegenheit nutzen und Israel
als Nation und als Nachbar akzeptieren. Frieden mit Israel ist der einzige
Weg zu Wohlstand und Erfolg für einen neuen palästinensischen Staat. Das
palästinensische Volk verdient Frieden und eine Chance auf ein besseres
Leben. Sein engster Nachbar, Israel, muss sein Wirtschaftspartner sein,
nicht sein tödlicher Feind. Es verdient eine Regierung, die Menschenrechte
respektiert und eine Regierung, die sich auf seine Bedürfnisse konzentriert
- Bildung und Gesundheitsfürsorge - statt seine Ressentiments zu schüren.
Es ist nicht genug, dass die arabischen Nationen die palästinensische Sache
verteidigen. Sie müssen dem palästinensischen Volk wirklich helfen, indem
sie Frieden anstreben, den Terror bekämpfen und Entwicklung fördern.
Israel muss selbst harte Entscheidungen treffen. Die Regierung des Landes
unterstützt die Schaffung eines palästinensischen Staats, der kein
Zufluchtsort für Terroristen ist. Dennoch muss Israel auch anerkennen, dass
ein solcher Staat politisch und wirtschaftlich überlebensfähig sein muss.
Im Einklang mit dem Mitchellplan muss der israelische Siedlungsbau in den
besetzten Gebieten eingestellt werden. Und die Besetzung muss durch den
Rückzug der Truppen in gesicherte und anerkannte Grenzen im Einklang mit den
Resolutionen 242 und 338 der Vereinten Nationen beendet werden. Letztlich
sollte dieser Ansatz die Grundlage für Abkommen zwischen Israel und Syrien
und Israel und Libanon bilden.
Israel sollte auch Respekt zeigen - Respekt und Sorge für die Würde des
palästinensischen Volks, das sein Nachbar ist und sein wird. Es ist von
entscheidender Bedeutung, zwischen den Terroristen und den normalen
Palästinensern zu unterscheiden, die versuchen, für ihre Familien zu sorgen.
Die israelische Regierung sollte an Kontrollpunkten und Grenzübergängen
Mitgefühl zeigen und unschuldigen Palästinensern die tägliche Demütigung
ersparen. Israel sollte unverzüglich Maßnahmen ergreifen, um die
Absperrungen zu lockern und friedlichen Menschen den Weg zu Arbeit zu
ermöglichen.
Israel sieht sich mit einer schrecklichen und ernsthaften Herausforderung
konfrontiert. Seit sieben Tagen werden Terrornester ausgehoben. Die
Vereinigten Staaten erkennen Israels Recht auf Selbstverteidigung gegen den
Terror an. Um die Grundlagen für einen zukünftigen Frieden zu schaffen,
fordere ich Israel jedoch auf, die Übergriffe auf die palästinensisch
kontrollierten Gebiete einzustellen und mit dem Rückzug aus den Städten zu
beginnen, die es vor kurzem besetzt hat.
Ich spreche als engagierter Freund Israels. Ich spreche aus der Sorge um
seine langfristige Sicherheit, eine mit einem echten Frieden einhergehende
Sicherheit. Wenn Israel sich zurückzieht, müssen verantwortungsbewusste
palästinensische Politiker und Israels arabische Nachbarn vortreten und der
Welt zeigen, dass sie wirklich auf der Seite des Friedens stehen. Die
Entscheidung und die Last liegt bei ihnen.
Die Welt erwartet einen unverzüglichen Waffenstillstand und die
unverzügliche Wiederaufnahme der Sicherheitszusammenarbeit mit Israel zur
Bekämpfung des Terrorismus. Einen unverzüglichen Befehl, Terrornetze zu
zerschlagen. Ich erwarte bessere Führung, und ich erwarte Ergebnisse.
Das sind die Elemente des Friedens im Nahen Osten. Und jetzt müssen wir den
Weg zu diesen Zielen bauen. Jahrzehnte bitterer Erfahrungen lehren eine
deutliche Lektion: Fortschritte sind unmöglich, wenn Nationen ihre
Beschwerden in den Vordergrund stellen und ihre Chancen ignorieren. Die
Stürme der Gewalt dürfen nicht andauern. Genug ist genug.
Und an diejenigen gewandt, die versuchen, die aktuelle Krise als Chance zur
Ausdehnung des Konflikts zu nutzen, sage ich, haltet euch heraus. Die
Waffenlieferungen des Iran und seine Unterstützung des Terrors schüren den
Konflikt im Nahen Osten. Und das muss aufhören. Syrien hat sich gegen die Al
Qaida gestellt. Wir erwarten, dass Syrien auch Schritte gegen die Hamas und
die Hisbollah unternehmen wird. Es ist an der Zeit für den Iran, sich auf
die Erfüllung des Strebens seines Volkes nach Freiheit zu konzentrieren und
für Syrien zu entscheiden, auf welcher Seite es beim Krieg gegen den Terror
steht.
Dies ist ein entscheidender Moment für die Welt. Dieser Konflikt kann sich
ausweiten oder eine Chance darstellten, die wir ergreifen können. Und
deswegen habe ich entschieden, Außenminister Powell nächste Woche in die
Region zu entsenden, um breite internationale Unterstützung für die heute
von mir umrissene Vision zu gewinnen. Als einen Schritt in diesem Prozesse
wird er auf die Umsetzung von Resolution 1402 der Vereinten Nationen
hinarbeiten - einen unverzüglichen und bedeutsamen Waffenstillstand, ein
Ende von Terror und Gewalt und Anstachelung; den Rückzug der israelischen
Truppen aus den palästinensischen Städten, einschließlich Ramallahs; die
Umsetzung der bereits vereinbarten Tenet- und Mitchellpläne, die zu einer
politischen Lösung führen werden.
Ich habe keine Illusionen. Ich habe keine Illusionen über die Schwierigkeit
der vor uns liegenden Probleme. Dennoch ist unser Land fest entschlossen.
Die Vereinigten Staaten haben sich zur Beendigung dieses Konflikts und zur
Einläutung eines Zeitalters des Friedens verpflichtet.
Wir wissen, dass das möglich ist, weil wir im Laufe unseres Lebens die
Beendigung von Konflikten erlebt haben, deren Ende niemand je angenommen
hätte. Wir haben gesehen, wie erbitterte Gegner eine lange Geschichte von
Konflikt und Wut hinter sich ließen. Selbst Amerika zählt ehemalige Gegner
zu vertrauten Freunden: Deutschland und Japan und jetzt Russland.
Konflikte sind nicht unvermeidlich. Misstrauen muss nicht andauern. Frieden
ist möglich, wenn wir uns von den alten Mustern und Gewohnheiten des Hasses
freimachen. Die Gewalt und das Leid, die das Heilige Land heimgesucht haben,
gehören zu den großen Tragödien unserer Zeit. Der Nahe Osten wird bei den
politischen und wirtschaftlichen Fortschritten der Welt häufig
zurückgelassen. Das ist die Geschichte der Region. Aber es muss und darf
nicht ihr Schicksal sein.
Der Nahe Osten könnte eine neue Geschichte von Handel, Entwicklung und
Demokratie schreiben. Und wir sind bereit zu helfen. Dieser Prozess kann
jedoch nur in einer Atmosphäre des Friedens entstehen. Und die Vereinigten
Staaten werden darauf hinarbeiten, dass alle Kinder Abrahams die Vorteile
des Friedens kennen lernen.
Vielen Dank.
Originaltext: Bush Sends Powell to Middle East on Peace Mission
ERSTE ISRAELISCHE UND PALÄSTINENEISCHE REAKTIONEN
AUF BUSH's REDE
Von Hans Lebrecht
Israels Regierungschef Ariel Scharon hat sich bis zur Stunde des
Schreiben dieser Zeilen, 18 Stunden nach der Rede von USA Präsident
Bush zur Lage im israelisch-palästinensischen Konflikt noch nicht
darüber geäußert. Dagegen hat der Sprecher seines
Ministerpräsidentenamtes Genugtuung darüber geäußert, dass Bush den
Palästinenserchef Arafat die Schuld an der Misere seines Volkes
verantwortlich gemacht hat und Israel das Recht auf Verteidigung
gegenüber dem, was er sagte, palästinensischen Terror zugesprochen
habe. Insbesondere drückte er darüber Genugtuung aus, dass Busch nicht
ausdrücklich einen sofortigen und unbedingten Abzug der israelischen
Truppen aus den seit voriger Woche besetzten palästinensischen Städten
gefordert habe. Der israelische Generalstabschef Mofas nutzte dies dazu
aus, zu erklären, dass die Armee noch mindestens vier Wochen brauche,
bis die Ziele der erneuten Besetzung dieser Städte erreicht sein werden.
Während der in Isolierhaft befindliche Arafat sich noch nicht direkt zu
der Bushrede geäußert hat, bezeugten Sprecher der PNA Behörde, darunter
einige Minister ihre Skeptik gegenüber einer Änderung der Haltung der
israelischen Regierung und Besatzerarmee im Anschluss and die Busch Rede
und eines Besuchs des USA Außenministers Powell. "Sollte die Scharon
Regierung nicht sofort, noch heute, ihre Gewaltoffensive einstellen und
sich aus den palästinensischen Städten zurückziehen, wird weder das
Palästinenservolk, noch die arabische Welt die Buschrede als einen
positiven Schritt betrachten", erklärte der Informationsminister Yasser
Abed Rabbo. Ein anderer PNA Minister, Hassan Asfour, fügte dem einen
Protest gegen Bushs Angriff gegen Präsident Arafat hinzu. Was Busch
über Arafat sagte, indem er die Verantwortung für die israelische
Aggression Arafat in die Schuhe schieben wollte, sei eine nicht
übersehbare Aufforderung an die Adresse von Israel, den gewählten
Palästinenserpräsidenten Arafat umzubringen, oder ihn des Landes zu
verweisen, betonte Asfour.
Einstweilen fielen allein bei unter äußerst ungleichen und für die
Palästinenser weit unterlegener Bewaffnung geführten Gefechten in dem
Flüchtlingslager bei Dschenin am Mittwoch und Donnerstag etwa 70
Palästinenser und vier israelische Armeeangehörige, in Bethlehem 7
Palästinenser und 3 Israelis. ...
Kibbutz Beit-Oren, 5. April 2002
Aus dem Leitartikel der Süddeutschen Zeitung vom 6. April 2002:
Bürgerkrieg Nahost
VON WOLF LEPENIES
Genug ist genug. George Bush hat gesprochen. Amerika meldet
sich in Nahost zurück. Der Präsident schickt seinen Außenminister
Colin Powell in die Region, um Israel und die Palästinenser zu
einem Waffenstillstand zu bringen. Nun muss sich alles, nun wird
sich alles wenden. Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac
hofft, dass nach Beendigung der Kriegshandlungen bald wieder
die Stunde der Diplomatie schlägt. Genau dies steht zu
befürchten: die Rückkehr zu einer Politik, die mitverantwortlich ist
für das militärische und moralische Desaster, in das der Nahe
Osten geraten ist. Wenn jetzt nicht eine Umkehr des politischen
Denkens und Handelns einsetzt, wird der Waffenstillstand, auf
den alle hoffen, eine Episode bleiben und keinen Frieden
bringen.
Natürlich gibt es im Augenblick zum Eingreifen der Amerikaner
keine Alternative. In diesem Krieg zwischen einem seit mehr als
einem halben Jahrhundert gedemütigten und einem seit Urzeiten
von Vernichtung bedrohten Volk kann jetzt nur eine starke Hand
die Waffen zum Schweigen bringen. Was aber folgt danach? Die
Diplomatie hat ihre Chancen gehabt. In der nächsten Woche
reiht Powell sich ein in die große Schar der frequent traveller , die
in den letzten Jahrzehnten die Länder des Nahen Ostens zur
Hochburg des Polittourismus haben werden lassen. Und so, wie
alle Schnappschüsse aus dem Urlaub sich ähneln, ähneln sich
auch die Fotos, auf denen sich die Reisenden guten Willens mit
den Konfliktpartnern beider Seiten gerne zeigen. Die
Unterhändler sammeln Meilen – mehr nicht.
Das Reisen in den Nahen Osten wird zum Ritual. Ein Zweck ist
dabei nicht mehr zu erkennen. Amerikaner und Europäer haben
sich auf ein beschämendes Spiel eingelassen, das den Namen
trägt: „Scharon, wie weit darf ich reisen?“ General Anthony Zinni
hat sich durchgesetzt; ihm wurde wenigstens erlaubt, den
belagerten Arafat in Ramallah zu besuchen. Javier Solana
dagegen half es gar nichts, dass er sich mit dem Titel eines
„Hohen Beauftragten für Außen- und Sicherheitspolitik“
schmücken kann. Der Titel war nicht hoch genug, um auch ihm
den Weg vorbei an den israelischen Panzern in den Bunker des
Palästinenserpräsidenten zu ebnen. Selten wurde die
Zweitrangigkeit Europas in der Weltpolitik deutlicher sichtbar als
auf dem Bild aus Israel, das Solana und seine Begleiter wie
verbitterte Touristen zeigt, die ihre Anschlussmaschine verpasst
haben.
...
Die Diplomatie ist eine Errungenschaft der Zivilisation. Sie wirkt in
ihrem Kernbereich. An den Rändern verliert sie an Wirkung, und
ohne den zivilisatorischen Konsens ist sie hilflos. Das zeigen die
Reaktionen auf den 11. September: Selbst der amerikanische
Präsident kann nur schwer erklären, was man sich unter dem
Krieg gegen den Terror genau vorstellen soll. Angriffe auf
Schurkenstaaten anzukündigen ist ein Ausweg. Staaten sind
schließlich das bevorzugte Ziel militärischer
Auseinandersetzungen und die klassischen Objekte der
Diplomatie. Aber gerade der Nahost-Konflikt ist kein Krieg
zwischen Staaten oder Nationen. Der Hass ist hier so stark, weil
er sich nicht gegen Fremde, sondern gegen Nachbarn richtet. Es
ist ein Krieg zwischen den Bewohnern einer Region – ein
Bürgerkrieg.
Freilich ist es auch ein Bürgerkrieg, der die Nachbarn unmittelbar
berührt. Die amerikanische Politik des Abwartens ist gescheitert.
Präsident Bush hat sich jetzt zum Eingreifen entschlossen, weil
im Falle des Todes von Jassir Arafat die Wahrscheinlichkeit eines
arabischen Angriffs auf Israel nicht mehr auszuschließen wäre.
Was die Region jetzt dringend braucht, ist der erste Schritt auf
dem Wege zu einer Politik auf lange Sicht. Ohne einen Verzicht
auf die meisten Siedlungen wird ein dauerhafter Friede nicht zu
erzielen sein. Gerade weil dies ein Bürgerkrieg ist, haben sich
Bürger beider Seiten, Palästinenser wie Israelis, seit Jahren
bemüht, auf vernünftige Weise miteinander zu kooperieren. Sie
sind weit weniger unterstützt worden, als es nötig gewesen
wäre. In das Blickfeld der Diplomaten geraten solche Gruppen
kaum. Ohne ihre Initiativen aber wird es keine gesicherte und
friedliche Zukunft für Palästinenser und Israelis geben. Der
Frieden im Nahen Osten hängt vom Fortbestehen und Wachsen
dieser Gruppen mehr ab als von den in der Vergangenheit so oft
folgenlosen Versöhnungsgesten der großen Politik.
(Süddeutsche Zeitung, 6. April 2002)
In der Frankfurter Rundschau kommentiert Jochen Siemens:
Spät, aber deutlich
Die USA haben sich im Nahostkonflikt zurückgemeldet. Präsident George Bush
hat mit für seine Administration ungewöhnlicher Deutlichkeit Stellung bezogen und
die israelische Regierung bei allem Verständnis für Sicherheit vor
Selbstmordattentätern zur Mäßigung aufgerufen. Bushs Worte waren dringend
notwendig; denn die Eskalation der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen
Israelis und Palästinensern drohen die ganze Region ins Chaos zu stürzen. Bushs
Appelle kamen spät, und die ersten israelischen Reaktionen lassen nicht
erkennen, dass Premier Scharon die Militäraktionen gegen palästinensische
Städte beenden oder auch nur einschränken will.
Welche Motive können dahinter stehen? Scharon weiß, dass er dem US-Druck
letztlich nicht widerstehen kann. Aber bis Außenminister Powell in der kommenden
Woche im Nahen Osten eintrifft, glaubt Scharon offenbar der Infrastruktur des
Terrors in den palästinensischen Autonomiegebieten weitere Schläge versetzen zu
können. Immerhin haben seine Truppen in Arafats Hauptquartier Belege
beschlagnahmt, die beweisen sollen, dass Arafat selbst in die Belohnung von
Attentätern verwickelt ist. Stellt sich dies als wahr heraus, ist Arafats
Glaubwürdigkeit endgültig dahin. Die USA scheinen sich darauf einzustellen.
Deshalb ist es fraglich, ob Powell Arafat noch wird treffen wollen.
Bushs Worte aber machen auch deutlich, dass die USA Scharon ebenfalls nicht
mehr als Partner eines Friedensprozesses ansehen. Warum nur, so fragt man
sich, hat Bush so lange gebraucht, um deutlich zu werden?
(Frankfurter Rundschau, 6. April 2002
"Arafats letzte Chance" - so ist der Kommentar von Gudrun Harrer im österreichischen "Standard" überschrieben:
Genug ist genug: Wie Recht er hat, der
amerikanische Präsident. Alle Welt - außer Sharon
und seinen Anhängern - wartete darauf, dass
George Bush das endlich sagen würde. Und
nachdem er sich in den Tagen nach Beginn der
israelischen Wiederbesetzung der
Palästinensergebiete eigentlich nur auf
Journalistenfragen geäußert hatte, legte er am
Donnerstag so etwas wie seine große Vision für den
Nahen Osten vor. "Viele Köche" hätten dabei "ihren
Löffel in der Suppe" gehabt, analysiert die New York
Times. Chefkoch war wohl Colin Powell insofern, als
er sich mit seiner unlängst artikulierten Ansicht
durchgesetzt hat, dass militärische Aktionen gegen
die Palästinenser ohne jegliche politische
Perspektive keinen Sinn machen.
Nun darf Powell selbst versuchen, das Steuer
herumzureißen - eine Mission mit ungewissem
Ausgang. ...
In Israel strapaziert man das Bush-Machtwort, das
früher kam als erwartet ..., inhaltlich bis zum Letzten. Als
Zeitgeschenk Bushs an Sharon wird betrachtet, dass
Powell nicht stante pede nach Israel kommt. Auch
das Wort "sofortiger Rückzug" ist nicht gefallen, die
Forderung, "die Einfälle in palästinensisch
kontrollierte Gebiete anzuhalten und mit dem
Rückzug (. . .) zu beginnen", wird mit dem höflichen
"I ask" eingeleitet, während der US-Präsident von
den Palästinensern "erwartet", dass sie seinen
Wünschen nachkommen. Auch die Reihenfolge der
Statements wird, wie immer, genau registriert:
Gleich am Beginn der Rede wird der palästinensische
Terrorismus, dann Arafat namentlich als
verantwortlich für die Situation benannt, die
Forderungen an Israel kommen spät im Text, und
Sharon wird persönlich nicht kritisiert. Die
humanitären Ermahnungen indes verwundern so
manchen in Israels Rechter, namentlich
Sicherheitsminister Uzi Landau, der sofort anmerkte,
dass man doch nichts anderes tue, als die
Bush-Doktrin im Umgang mit Terrorismus zu
befolgen. Die Unterschiede werden einem wie ihm
nie dämmern.
Arafats Zukunft indes ließ Bush seltsam in der Luft
hängen, das hat seine Umgebung - offenbar im
Gegensatz zu ihm, der die Rede "bedingungslos
akzeptierte" - sofort mit Unbehagen bemerkt. Einer
sah darin sogar Israels Lizenz zum Töten Arafats.
Allerdings hat Bush gleichzeitig durchgesetzt, dass
Vermittler Zinni zum Eingeschlossenen nach
Ramallah vorgelassen wurde, er hat ihn also als
Ansprechpartner bestätigt. Bis jetzt war das das
einzige Einlenken Sharons: Was geschieht, wenn
Powell nach dem Geschmack des Premiers "zu früh"
kommt, ist offen. Die Variante, dass Israel den
Amerikanern einfach Nein sagt, kommt in den
internationalen Betrachtungen zum Thema nicht vor.
So behandelt man nur die Europäer.
DER STANDARD, 6./7. April 2002)
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