"Als Freunde Israels haben wir das Recht und die Pflicht, unsere Stimme öffentlich zu erheben"
Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder zur Situation im Nahen Osten
Im Folgenden dokumentieren wir große Teile der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vor dem Deutschen Bundestag zur Lage im Nahen Osten vom 25. April 2002. Die vollständige Rede ist unter www.bundesregierung.de erhältlich.
Der furchtbare Terror-Anschlag auf der tunesischen Insel Djerba, aber
auch die Aufdeckung eines terroristischen Netzwerks, das offenbar auch
Attentate in Deutschland vorbereitet hatte, haben uns allen erneut die
fortdauernde Gefahr durch einen brutalen und sinnlosen Terrorismus vor
Augen geführt.
...
Die Terroranschläge in Israel schockieren uns ebenso wie Bilder von
zivilen Opfern auf palästinensischer Seite. Das Leiden so vieler
unschuldiger Menschen muss ein Ende finden!
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Der 11. September hat die Welt verändert. Auch für uns ging an diesem
Tag eine Etappe deutscher Nachkriegszeit vorbei. In bislang nicht
gekannter Weise mussten wir uns unserer internationalen Verantwortung
stellen. Und wir haben mit Unterstützung dieses Hauses einen wichtigen
Beitrag zur globalen und umfassenden Terrorismusbekämpfung
geleistet: durch Verstärkung der politischen, wirtschaftlichen und
kulturellen Zusammenarbeit. Aber auch durch unser militärisches
Engagement im Rahmen der internationalen Allianz gegen den Terror
und in der Sicherheitsunterstützungstruppe in Kabul.
In Afghanistan hat die Internationale Gemeinschaft einen wichtigen
Etappensieg gegen den Terrorismus errungen. Die Konferenz auf dem
Petersberg hat bewiesen, dass die Internationale Gemeinschaft unter
Führung der Vereinten Nationen durchaus in der Lage ist, schwierige
Konflikte zu lösen. Das ist eine ermutigende Botschaft, die uns auch für
die Beilegung der Krise im Nahen Osten Ansporn sein sollte.
...
Meine Damen und Herren, die aktuelle Entwicklung im Nahen Osten erfüllt
uns alle mit tiefer Sorge. Eine weitere Zuspitzung des Konflikts gefährdet
nicht nur unsere politischen und wirtschaftlichen Interessen. Sie gefährdet
auch unsere eigene Sicherheit.
Den Konfliktparteien muss endlich klar werden, dass es keine militärische
Lösung geben kann. Das vorrangige Ziel aller internationaler
Bemühungen ist es gegenwärtig, einen tragfähigen Waffenstillstand, den
Rückzug der israelischen Truppen gemäß der Resolutionen
1402 und
1403 des Weltsicherheitsrates sowie die Rückkehr zu einer politischen
Perspektive zu erreichen. Die Bundesregierung unterstützt gemeinsam
mit ihren europäischen Partnern nachdrücklich alle internationalen
Friedensbemühungen. Ich begrüße daher, dass Javier Solana jetzt erneut
in die Region gereist ist.
Auf der Konferenz der Außenminister der Europäischen Union und der
Mittelmeer-Anrainer am vergangenen Montag haben auch die Vertreter
der beiden Konfliktparteien deutlich erklärt, dass sie ein gemeinsames
Engagement Europas und der Vereinigten Staaten wünschen.
Niemand hat eine Zauberformel für die Lösung dieses schon so lange
andauernden Konflikts, der mit historischen Ängsten und Ansprüchen
geradezu überladen ist. Lassen Sie mich aber noch einmal ganz klar
betonen: Das Eintreten für das Existenzrecht und die Sicherheit Israels in
anerkannten Grenzen war und bleibt unveräußerliche Grundlage der
deutschen Außenpolitik. An diesem Konsens der demokratischen Parteien
wird und darf auch künftig nicht gerüttelt werden. Dies bedeutet auch,
dass wir aufgrund unserer besonderen historischen Verantwortung keine
Embargo- oder Boykott-Maßnahmen gegen Israel beschließen oder
mittragen werden.
Als Freunde Israels haben wir aber auch das Recht und die Pflicht, unsere
Stimme offen und gelegentlich auch öffentlich zu erheben. Ohne eine
umfassende politische Lösung, welche die Schaffung eines lebensfähigen
palästinensischen Staates einschließen muss, wird es für Israel keine
dauerhafte Sicherheit geben.
Schon der ermordete Premierminister und Friedensnobelpreisträger
Jitzhak Rabin hatte erkannt: Israel wird sich, schon um seiner eigenen
Sicherheit willen, auf Dauer dem Gedanken nicht verschließen können,
widerrechtlich errichtete Siedlungen in den Palästinensergebieten zu
räumen - wie das ja im übrigen auch von gewichtigen Stimmen in der
israelischen Öffentlichkeit immer wieder gefordert wird.
Zu einer Lösung gehört auch, dass die Palästinenser als gleichberechtigte
Nachbarn und Verhandlungspartner mit Würde und Respekt behandelt
werden.
Schon in der so genannten Berliner Erklärung haben die Staats- und
Regierungschefs der Europäischen Union im März 1999 ihre Überzeugung
geäußert, dass - ich zitiere - "die Schaffung eines demokratischen,
existenzfähigen und friedlichen, souveränen palästinensischen Staates
auf der Grundlage bestehender Vereinbarungen und auf dem
Verhandlungsweg die beste Garantie für die Sicherheit Israels und seine
Anerkennung als gleichberechtigter Partner in der Region ist."
Diese Überzeugung kommt inzwischen auch in der Beschlusslage des
Weltsicherheitsrates zum Ausdruck. Außenminister Fischer hat jetzt ein
Ideen-Papier entwickelt, das den Weg zu einem Waffenstillstand mit
einer politischen Lösungsperspektive aufzeigt. Seine Bemühungen
werden international anerkannt und verdienen auch unser aller
Hochachtung! Diese Wegskizze versucht, verschiedene Lösungsansätze
zusammenzufügen und weiterzuentwickeln. Sie enthält einen
verbindlichen Zeitplan sowie internationale Garantien und eine
Sicherheitskomponente.
Die Konflikt-Parteien sind nicht mehr imstande, allein zu einer politischen
Lösung zu gelangen. Daher ist es entscheidend, dass die Vereinigten
Staaten, die Europäische Union, Russland und die Vereinten Nationen bei
den weiteren Friedensbemühungen eng zusammenarbeiten. Das erste
Treffen des so genannten Quartetts in Madrid vor der Reise des
amerikanischen Außenministers Powell in den Nahen Osten war daher ein
wichtiger Erfolg.
Die Bundesregierung begrüßt den Vorschlag, eine internationale
Konferenz einzuberufen, bei der neben den Vereinigten Staaten, der
Europäischen Union, Russland und den Vereinten Nationen die wichtigen
regionalen Akteure eingebunden und beteiligt werden müssen. Die
Bundesregierung sieht in der Initiative des saudi-arabischen Kronprinzen,
die auf dem Gipfel der Arabischen Liga von allen arabischen Staaten
verabschiedet wurde, ein bedeutendes Signal. Im Kern geht es dabei um
eine Friedensperspektive für die gesamte Region.
Aus eigener Erfahrung wissen wir Europäer, dass die dauerhafte Sicherung
von Frieden und Wohlstand nur über regionale Zusammenarbeit und
Integration erreicht werden kann. Die Konflikte auf dem Balkan und in
Afghanistan haben uns gelehrt, dass wir den Sicherheitsbegriff nicht auf
das Militärische verengen dürfen. Aber wir müssen uns auch hüten, in alte
Tabus zurückzufallen.
Im Nahen Osten steht die Frage einer deutschen Beteiligung an einer
internationalen Sicherheitskomponente heute nicht auf der
Tagesordnung. Aber wir stehen zu unserer Verantwortung gegenüber
dieser Region. Und wir werden auch in Zukunft unsere internationalen
Verpflichtungen der Staatengemeinschaft gegenüber erfüllen. Dabei
werden wir von Fall zu Fall über den Umfang unserer Beteiligung nach
dem Gesichtspunkt entscheiden, was wir leisten können und was wir
sinnvoll und effizient leisten sollten.
Jetzt geht es darum, schnellstmöglich mit Hilfe der internationalen
Gemeinschaft den Einstieg in einen erneuten Verhandlungsprozess mit
dem Ziel einer umfassenden politischen Lösung zu finden.
Die Gewalt im Nahen Osten hat ein für niemanden mehr erträgliches
Ausmaß erreicht. Der Terror muss ein Ende finden. Die Menschen in Israel
und Palästina müssen endlich wieder ein Leben ohne Angst und Not
führen können.
Die Bundesregierung erwartet daher von Präsident Arafat und den
arabischen Führern klare Worte gegen den Terror und eine Rückkehr zu
dem in Oslo vereinbarten Prinzip, dass keine Seite Terror und Gewalt als
Mittel zur Erreichung politischer Ziele missbrauchen darf.
Andererseits appellieren wir an die israelische Seite, alle Resolutionen des
Weltsicherheitsrates zu erfüllen und jetzt insbesondere den Hausarrest
von Präsident Arafat aufzuheben. Nur so kann er seiner Verantwortung
und seinen Verpflichtungen nachkommen.
Meine Damen und Herren, die Lösung des Nahost-Konflikts stellt eine der
größten Herausforderungen für die internationale Politik dar. Wir können
und dürfen nicht abseits stehen. Schon deshalb nicht, weil wir selbst
betroffen sind. Wir werden auch weiterhin alle erdenklichen
Anstrengungen unternehmen, um das Leben und die Sicherheit der
Bürger unseres Landes zu schützen.
...
Meine Damen und Herren, zu unserer Verantwortung für die innere
Sicherheit gehört aber auch, dass wir dem Terrorismus den Nährboden
und seine falsche Berufungsgrundlage entziehen.
Wir wollen und müssen daher Israel, den Palästinensern und unseren
anderen arabischen Partnern aktiv dabei helfen, eine dauerhafte
Friedens- und Wohlstandsperspektive zu erhalten.
Nach der Überwindung des Ost-West-Gegensatzes darf im Süden der
Europäischen Union keine neue Sicherheits- und Wohlstandsgrenze
entstehen. Das können wir nur erreichen, wenn wir weiterhin gemeinsam
mit unseren Freunden und Verbündeten und im Rahmen der Vereinten
Nationen als zuverlässiger Partner unserer gewachsenen internationalen
Verantwortung gerecht werden.
Meine Damen und Herren, angesichts neuer internationaler Bedrohungen,
aber auch angesichts unserer Position nach Erlangung der vollen
Souveränität haben wir uns heute internationalen Verpflichtungen zu
stellen, die für unsere Partner in Europa und der Welt längst
selbstverständlich sind. Wir tun dies in Solidarität und in Verfolgung klarer
Prinzipien: für Frieden und nachhaltige Entwicklung, für Rechtssicherheit
und Interessenausgleich. Unserer Verantwortung kommen wir im
Rahmen unserer Möglichkeiten nach, aber auch nach Maßgabe dessen,
was die internationale Gemeinschaft billigerweise von uns erwarten kann.
Unsere Lage in Europa, aber auch unsere historische Verantwortung
gebieten uns, dass wir uns mit allem Nachdruck für eine Konfliktregelung,
für friedlichen Interessenausgleich, für Entwicklungs- und
Wohlstandsperspektiven insbesondere im Nahen Osten einsetzen. Das
war und ist die Politik der Bundesregierung, die wir gemeinsam mit
unseren Partnern verfolgen und umsetzen: Damit statt Terror und
Trümmer endlich wieder Hoffnung und Sicherheit den Alltag und das
Leben der Menschen bestimmen.
Ich danke Ihnen.
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