Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Als Freunde Israels haben wir das Recht und die Pflicht, unsere Stimme öffentlich zu erheben"

Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder zur Situation im Nahen Osten

Im Folgenden dokumentieren wir große Teile der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vor dem Deutschen Bundestag zur Lage im Nahen Osten vom 25. April 2002. Die vollständige Rede ist unter www.bundesregierung.de erhältlich.

Der furchtbare Terror-Anschlag auf der tunesischen Insel Djerba, aber auch die Aufdeckung eines terroristischen Netzwerks, das offenbar auch Attentate in Deutschland vorbereitet hatte, haben uns allen erneut die fortdauernde Gefahr durch einen brutalen und sinnlosen Terrorismus vor Augen geführt.
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Die Terroranschläge in Israel schockieren uns ebenso wie Bilder von zivilen Opfern auf palästinensischer Seite. Das Leiden so vieler unschuldiger Menschen muss ein Ende finden!
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Der 11. September hat die Welt verändert. Auch für uns ging an diesem Tag eine Etappe deutscher Nachkriegs­zeit vorbei. In bislang nicht gekannter Weise mussten wir uns unserer internationalen Verantwortung stellen. Und wir haben mit Unterstützung dieses Hauses einen wichtigen Beitrag zur globalen und umfassenden Terrorismus­bekämpfung geleistet: durch Verstärkung der politischen, wirt­schaft­lichen und kulturellen Zusammenarbeit. Aber auch durch unser militärisches Engagement im Rahmen der internationalen Allianz gegen den Terror und in der Sicherheitsunterstützungstruppe in Kabul.

In Afghanistan hat die Internationale Gemeinschaft einen wichtigen Etappen­sieg gegen den Terrorismus errungen. Die Konferenz auf dem Petersberg hat bewiesen, dass die Internationale Gemeinschaft unter Führung der Vereinten Nationen durchaus in der Lage ist, schwierige Konflikte zu lösen. Das ist eine ermutigende Botschaft, die uns auch für die Beilegung der Krise im Nahen Osten Ansporn sein sollte.
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Meine Damen und Herren, die aktuelle Entwicklung im Nahen Osten erfüllt uns alle mit tiefer Sorge. Eine weitere Zuspitzung des Konflikts gefährdet nicht nur unsere politischen und wirtschaftlichen Interessen. Sie gefährdet auch unsere eigene Sicherheit.

Den Konfliktparteien muss endlich klar werden, dass es keine militärische Lösung geben kann. Das vorrangige Ziel aller internationaler Bemühungen ist es gegenwärtig, einen tragfähigen Waffenstillstand, den Rückzug der israelischen Truppen gemäß der Resolutionen 1402 und 1403 des Weltsicherheitsrates sowie die Rückkehr zu einer politischen Perspektive zu erreichen. Die Bundesregierung unterstützt gemeinsam mit ihren europäischen Partnern nachdrücklich alle internationalen Friedensbemühungen. Ich begrüße daher, dass Javier Solana jetzt erneut in die Region gereist ist.

Auf der Konferenz der Außenminister der Europäischen Union und der Mittelmeer-Anrainer am vergangenen Montag haben auch die Vertreter der beiden Konfliktparteien deutlich erklärt, dass sie ein gemeinsames Engagement Europas und der Vereinigten Staaten wünschen.

Niemand hat eine Zauberformel für die Lösung dieses schon so lange andauern­den Konflikts, der mit historischen Ängsten und Ansprüchen geradezu überladen ist. Lassen Sie mich aber noch einmal ganz klar betonen: Das Eintreten für das Existenzrecht und die Sicherheit Israels in anerkannten Grenzen war und bleibt unveräußerliche Grundlage der deutschen Außenpolitik. An diesem Konsens der demokratischen Parteien wird und darf auch künftig nicht gerüttelt werden. Dies bedeutet auch, dass wir aufgrund unserer besonderen historischen Verantwortung keine Embargo- oder Boykott-Maßnahmen gegen Israel beschließen oder mittragen werden.

Als Freunde Israels haben wir aber auch das Recht und die Pflicht, unsere Stimme offen und gelegentlich auch öffentlich zu erheben. Ohne eine umfassende politische Lösung, welche die Schaffung eines lebensfähigen palästinensischen Staates einschließen muss, wird es für Israel keine dauerhafte Sicherheit geben.

Schon der ermordete Premierminister und Friedensnobelpreisträger Jitzhak Rabin hatte erkannt: Israel wird sich, schon um seiner eigenen Sicherheit willen, auf Dauer dem Gedanken nicht verschließen können, widerrechtlich errichtete Siedlungen in den Palästinensergebieten zu räumen - wie das ja im übrigen auch von gewichtigen Stimmen in der israelischen Öffentlichkeit immer wieder gefordert wird.

Zu einer Lösung gehört auch, dass die Palästinenser als gleichberechtigte Nachbarn und Verhandlungspartner mit Würde und Respekt behandelt werden.

Schon in der so genannten Berliner Erklärung haben die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union im März 1999 ihre Überzeugung geäußert, dass - ich zitiere - "die Schaffung eines demokratischen, existenzfähigen und friedlichen, souveränen palästinensischen Staates auf der Grundlage bestehender Vereinbarungen und auf dem Verhandlungsweg die beste Garantie für die Sicherheit Israels und seine Anerkennung als gleichberechtigter Partner in der Region ist."

Diese Überzeugung kommt inzwischen auch in der Beschlusslage des Weltsicherheitsrates zum Ausdruck. Außenminister Fischer hat jetzt ein Ideen-Papier entwickelt, das den Weg zu einem Waffenstillstand mit einer politischen Lösungsperspektive aufzeigt. Seine Bemühungen werden international anerkannt und ver­dienen auch unser aller Hochachtung! Diese Wegskizze versucht, verschiedene Lösungsansätze zusammenzufügen und weiterzuentwickeln. Sie enthält einen verbindlichen Zeitplan sowie internationale Garantien und eine Sicherheitskomponente.

Die Konflikt-Parteien sind nicht mehr imstande, allein zu einer politischen Lösung zu gelangen. Daher ist es entscheidend, dass die Vereinigten Staaten, die Europäische Union, Russland und die Vereinten Nationen bei den weiteren Friedens­bemühungen eng zusammenarbeiten. Das erste Treffen des so genannten Quartetts in Madrid vor der Reise des amerikanischen Außenministers Powell in den Nahen Osten war daher ein wichtiger Erfolg.

Die Bundesregierung begrüßt den Vorschlag, eine internationale Konferenz einzuberufen, bei der neben den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union, Russland und den Vereinten Nationen die wichtigen regionalen Akteure eingebunden und beteiligt werden müssen. Die Bundesregierung sieht in der Initiative des saudi-arabischen Kronprinzen, die auf dem Gipfel der Arabischen Liga von allen arabischen Staaten verabschiedet wurde, ein bedeutendes Signal. Im Kern geht es dabei um eine Friedensperspektive für die gesamte Region.

Aus eigener Erfahrung wissen wir Europäer, dass die dauerhafte Sicherung von Frieden und Wohlstand nur über regionale Zusammenarbeit und Integration erreicht werden kann. Die Konflikte auf dem Balkan und in Afghanistan haben uns gelehrt, dass wir den Sicherheitsbegriff nicht auf das Militärische verengen dürfen. Aber wir müssen uns auch hüten, in alte Tabus zurückzufallen.

Im Nahen Osten steht die Frage einer deutschen Beteiligung an einer internationalen Sicherheitskomponente heute nicht auf der Tagesordnung. Aber wir stehen zu unserer Verantwortung gegenüber dieser Region. Und wir werden auch in Zukunft unsere internationalen Verpflichtungen der Staatengemeinschaft gegenüber erfüllen. Dabei werden wir von Fall zu Fall über den Umfang unserer Beteiligung nach dem Gesichtspunkt entscheiden, was wir leisten können und was wir sinnvoll und effizient leisten sollten.

Jetzt geht es darum, schnellstmöglich mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft den Einstieg in einen erneuten Verhandlungsprozess mit dem Ziel einer umfassenden politischen Lösung zu finden.

Die Gewalt im Nahen Osten hat ein für niemanden mehr erträgliches Ausmaß erreicht. Der Terror muss ein Ende finden. Die Menschen in Israel und Palästina müssen endlich wieder ein Leben ohne Angst und Not führen können.

Die Bundesregierung erwartet daher von Präsident Arafat und den arabischen Führern klare Worte gegen den Terror und eine Rückkehr zu dem in Oslo vereinbarten Prinzip, dass keine Seite Terror und Gewalt als Mittel zur Erreichung politischer Ziele missbrauchen darf.

Andererseits appellieren wir an die israelische Seite, alle Resolutionen des Weltsicherheitsrates zu erfüllen und jetzt insbesondere den Hausarrest von Präsident Arafat aufzuheben. Nur so kann er seiner Verantwortung und seinen Verpflichtungen nachkommen.

Meine Damen und Herren, die Lösung des Nahost-Konflikts stellt eine der größten Herausforderungen für die internationale Politik dar. Wir können und dürfen nicht abseits stehen. Schon deshalb nicht, weil wir selbst betroffen sind. Wir werden auch weiterhin alle erdenklichen Anstrengungen unternehmen, um das Leben und die Sicherheit der Bürger unseres Landes zu schützen.
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Meine Damen und Herren, zu unserer Verantwortung für die innere Sicherheit gehört aber auch, dass wir dem Terrorismus den Nährboden und seine falsche Berufungsgrundlage entziehen.

Wir wollen und müssen daher Israel, den Palästinensern und unseren anderen arabischen Partnern aktiv dabei helfen, eine dauerhafte Friedens- und Wohlstandsperspektive zu erhalten.

Nach der Überwindung des Ost-West-Gegensatzes darf im Süden der Europäischen Union keine neue Sicherheits- und Wohlstandsgrenze entstehen. Das können wir nur erreichen, wenn wir weiterhin gemeinsam mit unseren Freunden und Verbündeten und im Rahmen der Vereinten Nationen als zuverlässiger Partner unserer gewachsenen internationalen Verantwortung gerecht werden.

Meine Damen und Herren, angesichts neuer internationaler Bedrohungen, aber auch angesichts unserer Position nach Erlangung der vollen Souveränität haben wir uns heute internationalen Verpflichtungen zu stellen, die für unsere Partner in Europa und der Welt längst selbstverständlich sind. Wir tun dies in Solidarität und in Verfolgung klarer Prinzipien: für Frieden und nachhaltige Entwicklung, für Rechtssicherheit und Interessenausgleich. Unserer Verantwortung kommen wir im Rahmen unserer Möglichkeiten nach, aber auch nach Maßgabe dessen, was die internationale Gemeinschaft billigerweise von uns erwarten kann.

Unsere Lage in Europa, aber auch unsere historische Verantwortung gebieten uns, dass wir uns mit allem Nachdruck für eine Konfliktregelung, für friedlichen Interessenausgleich, für Entwicklungs- und Wohlstandsperspektiven insbesondere im Nahen Osten einsetzen. Das war und ist die Politik der Bundesregierung, die wir gemeinsam mit unseren Partnern verfolgen und umsetzen: Damit statt Terror und Trümmer endlich wieder Hoffnung und Sicherheit den Alltag und das Leben der Menschen bestimmen.

Ich danke Ihnen.


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