Der Nahe Osten im Jahr 2000: Das Pulverfass vor der Explosion
Oder doch noch ein Friedensabkommen? - Eine Bilanz zum Jahresanfang 2001
Im Friedens-Memorandum 1999 (hrsgg. vom Bundesausschuss Friedensratschlag) hatten wir die Entwicklung im Nahen Osten vorsichtig positiv beurteilt, wozu uns insbesondere die Zustimmung des israelischen Parlaments zum Abkommen von Wye im November 1998 veranlasste. In Wye (in der Nähe Washingtons) war im Oktober 1998 unter Vermittlung des US-Präsidenten Clinton und des jordanischen Königs Hussein unter anderem vereinbart worden, dass sich die israelische Armee aus bestimmten Gebieten Palästinas zurückziehen solle und dass weitere 12 Prozent des Westjordanlands der Verwaltung der palästinensischen Autonomiebehörde unterstellt werde. Außerdem sollten Verhandlungen über den endgültigen Status Palästinas aufgenommen werden. Die Politik des rechtsgerichteten Ministerpräsidenten Netanjahu lief allerdings der Realisierung des Abkommens zuwider. Dies zeigte sich sowohl in Verzögerungen der Umsetzung des Zeitplans des Wye-Abkommens als auch in der forcierten Siedlungstätigkeit, z.B. in der Wiederaufnahme der Bauarbeiten an der umstrittenen Siedlung Har Homas. Seit dem Beginn des Oslo-Prozesses 1993 - also auch schon unter Ministerpräsident Rabin - verdoppelte sich die Anzahl der israelischen Siedler (von rund 100.000 auf etwa 200.000). Die Siedlungen dienen zur Rechtfertigung einer massiven Militärpräsenz und des Ausbaus eines Systems von Superschnellstraßen zur Verbindung der Siedlungen mit Israel. Damit wird das Palästinensergebiet in Segmente unterteilt und von seinem Zentrum Jerusalem getrennt.
Dem Geist von Oslo widersprach auch, dass den Palästinensern die Gründung eines eigenen Staates immer wieder verwehrt wurde. Im Mai 1999 war die Staatsgründung mit Rücksicht auf die Wahlen in Israel (der Wechsel von Netanjahu zu Barak) um anderthalb Jahre bis September 2000 verschoben worden. Die Europäische Union versprach zu dieser Zeit, das sie einen unabhängigen palästinensischen Staat anerkennen wolle, wenn es bis zu diesem Datum kein endgültiges Übereinkommen geben würde ("Berliner Erklärung"). Ähnlich äußerte sich US-Präsident Clinton.
Die Verhandlungen in Camp David im Juli 2000 sollten den Durchbruch bringen. Doch sie scheiterten, obwohl Barak Zugeständnisse in der Jerusalemfrage gemacht hatte, wie sie kein israelischer Ministerpräsident vor ihm je gemacht hätte. Barak war bereit, einige Stadtteile Jerusalems ganz an Palästina abzutreten, andere Stadtteile, z.B. den "Tempelberg" (Haram al Scharif) mit der Al-Aksa Moschee unter palästinensische Verwaltung zu stellen, die israelische Oberhoheit über sie aber zu behalten. Damit konnte sich Arafat nicht einverstanden erklären, handelt es sich bei der Al-Aksa-Moschee doch um die drittwichtigste heilige Stätte des Islam nach Mekka und Medina. Auch die übrigen "Kompromisse" Baraks waren von zweifelhafter Natur. So bot er an, 92 Prozent des Westjordanlands zu räumen. Doch die restlichen acht Prozent, die er annektieren wollte, haben es in sich: Mit ihnen würde das Westjordanland in zwei getrennte Enklaven geteilt und rund 100.000 Palästinenser würden von Israel mit annektiert werden. Hätte Arafat diesen "Kompromiss" angenommen, wäre es innenpolitisch sofort um ihn geschehen gewesen, zumal seine Autorität in der PLO und in der völlig demoralisierten palästinensischen Bevölkerung schon lange angeschlagen war.
Das Scheitern von Camp David den Palästinensern in die Schuhe schieben - was Barak und Clinton prompt getan haben - konnte nur, wer von den komplexen Konfliktursachen im Nahen Osten abstrahiert. Die Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern resultieren aus einem komplexen Problemknäuel, in dem der Status Jerusalems nur einen Teil darstellt, die Siedlungsfrage einen anderen, die seit 1948 offene Flüchtlingsfrage einen dritten. Von großer Bedeutung ist darüber hinaus die Frage der ökonomischen Überlebensfähigkeit Palästinas, das mit vielen unsichtbaren Fäden so von der israelischen Wirtschaft abhängig ist, dass es zu einer eigenständigen Wirtschaftspolitik bislang gar nicht in der Lage ist.
Der Provokation des ultrakonservativen Hardliners Ariel Scharon von der oppositionellen Likud-Partei auf dem Tempelberg am 28. September hätte es wahrscheinlich gar nicht mehr bedurft, um in der palästinensischen Bevölkerung jene Kräfte zu mobilisieren, die ihr Heil nur in einer Neuauflage der "Intifada", des Widerstands und Protestes der Steine, sahen. Jedenfalls begann Ende September ein Aufstand in den besetzten Gebieten, der die Intifada der Jahre 1987-1993 an Intensität und Breite in den Schatten stellte. Ein Novum, das in der israelischen Öffentlichkeit ängstliches Erschrecken auslöste, war zum Beispiel das Aufbegehren der arabischen Bevölkerung Israels, mit fast einer Million Menschen immerhin eine zahlenmäßig gewichtige Minderheit. Bis Ende des Jahres starben über 340 Menschen bei Attentaten, Feuergefechten und Militäraktionen der israelischen Armee. Unter den Toten befanden sich zu 90 Prozent Palästinenser, häufig Jugendliche, ja sogar Kinder.* Die UN-Menschenrechtskommission verurteilte am 20. Oktober Israel wegen der "massiven und systematischen Verletzung fundamentaler Menschenrechte, der Massentötung, der Tötung von Kindern und der kollektiven Bestrafung". Im Ton etwas gemäßigter kritisierte auch die UN-Vollversammlung die "übertriebene Anwendung von Gewalt" durch die israelischen Sicherheitskräfte.
Ende des Jahres kam wieder Bewegung in die Beziehungen zwischen Israel und Palästinensern. Zunächst hatte Barak, der im Parlament keine Mehrheit mehr hinter sich wusste, seinen Rücktritt bekannt gegeben (10. Dezember), dann begannen kurz vor Weihnachten neuerliche Verhandlungen in Washington, in deren Verlauf US-Präsident Clinton einen Lösungsvorschlag auf den Tisch legte, der der israelischen Seite neue Konzessionen abverlangte. Jerusalem soll danach geteilt werden und zwar so, dass die Altstadt mit dem Tempelberg und der Al-Aksa-Moschee sowie mit dem muslimischen, christlichen und einem Teil des armenischen Viertels unter palästinensische Hoheit fallen soll, das jüdische Viertel mit der Klagemauer sollte unter israelischer Kontrolle bleiben. In der Siedlungsfrage sieht der Vorschlag die völlige Räumung von Gaza vor, im Westjordanland sollten 95 Prozent des Gebiets unter palästinensische Hoheit kommen, die restlichen fünf Prozent werden von Israel endgültig annektiert. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um drei größere Siedlungsblöcke (Ariel, Gusch Etzion, Maale Adumim), für die den Palästinensern ein gleich großes israelischen Gebiet zum Austausch angeboten werden soll.
Noch spärlicher fallen aus palästinensischer Sicht die Zugeständnisse in der Flüchtlingsfrage aus: Es soll kein Rückkehrrecht nach Israel für die rund vier Millionen palästinensischen Flüchtlinge geben, die zur Zeit vorwiegend in den palästinensischen Autonomiegebieten selbst, im Libanon (380.000), in Jordanien (1,5 Mio.) und in Syrien (300.000) leben. Ausnahmen davon sind höchstens in "humanitären Fällen" vorgesehen, also etwa im Rahmen von Familienzusammenführungen. Hiervon dürften schätzungsweise 100.000 Flüchtlinge betroffen sein. Die übrigen 3,9 Millionen Flüchtlinge sollen in Palästina eine neue Heimat finden, wobei sehr vage von finanziellen Entschädigungen von den USA und der EU die Rede war. Eine solche Regelung der Flüchtlingsfrage widerspricht der UN-Resolution 194 vom 11. Dezember 1948, welche die bedingungslose Rückführung und Entschädigung aller Flüchtlinge als Conditio sine qua non für den Frieden forderte. Die israelische Regierung hat diese Resolution immer missachtet und stattdessen eine "brutale Antirepatriierungspolitik" betrieben, "indem sie verlassene Dörfer zerstörte und an deren Stelle jüdische Siedlungen errichtete sowie die Überreste des Besitzes der Flüchtlinge in staatliche Obhut überführte". (Ilan Pappe in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 49/2000).
Die Reaktionen aus Tel Aviv und aus dem Lager Arafats auf Clintons Vorschläge fielen erwartungsgemäß abwartend aus. Zwar signalisierte das israelische Kabinett Einverständnis, sprach aber gleichzeitig davon, die Israelische Hoheit über den Tempelberg nicht aufgeben zu wollen, während Arafat sich Bedenk- und Konsultationszeit bis Anfang Januar 2001 ausbedang. Während Barak, der am 6. Februar 2001 bei der Neuwahl zum Ministerpräsidenten gegen den ultrakonservativen Rivalen Ariel Scharon antreten muss, unter den Druck der radikalen Siedler und orthodoxen Juden geriet, spürte Arafat den Widerstand aus seiner eigenen Organisation, der Al Fatah. In der Tat scheint ein Frieden im Nahen Osten ohne Regelung des Flüchtlingsproblems nicht möglich zu sein. In einem Appell nannte der Friedenspolitische Ratschlag, der am 2. und 3. Dezember in Kassel tagte, in Übereinstimmung mit Forderungen aus der israelischen Friedensbewegung folgende Bedingungen für einen nachhaltigen Frieden:
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"die Beendigung der Besatzung, die Rückgabe aller seit 1967 besetzten Gebiete und die Anerkennung des Rechts des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung, Souveränität und einen eigenen Staat mit Ostjerusalem als Hauptstadt,
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die Auflösung aller israelischen Siedlungen im Westjordanland und Gaza,
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die Beendigung der Diskriminierung der nicht-jüdischen Bevölkerung in Israel,
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die Anerkennung des Rechts aller Flüchtlinge auf Rückkehr in Übereinstimmung mit den einschlägigen UN-Resolutionen, die Wiedergutmachung aller durch Enteignung, Vertreibung, Besatzungsmaßnahmen etc. entstandenen Schäden."
In den letzten Tagen des Jahres 2000 und in den ersten Tagen des neuen Jahres spitzten sich die Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern wieder zu. Es gab auf beiden Seiten Tote und Verwundete. Das israelische Militär geht offenbar dazu über, führende Mitglieder und Funktionäre der Al Fatah, die des "Terrorismus" bezichtigt werden, gezielt anzugreifen und zu töten. Auf palästinensischer Seite häufen sich so genannte "Selbstmord"-Attentate. Hin und wieder werden auch wieder Angriffe aus Südlibanon von der dort operierenden Hisbollah gemeldet.
Bei einem Besuch Arafats in Washington und mehrstündigen Gespärchen zwischen ihm und US-Präsident Clinton am 3. Januar 2001 zeichnete sich eine vorsichtige Zustimmung Arafats zu den Friedenvorschlägen Clintons ab, allerdings nicht bedingungslos und nicht ohne abschließende Konsultationen mit den arabischen Staaten. Die Kommentatoren und Nahostexperten der großen Zeitungen geben dem Friedensprozess wenig Chancen. Es scheint so, als wollten alle Seiten die Ministerpräsidentenwahl in Israel am 6. Februar abwarten (hier stehen sich Barak und der Hardliner Ariel Scharon gegenüber), um dann weiter zu sehen. Bis dahin wird noch viel Blut fließen im Nahen Osten.
Peter Strutynski
*Opfer des Konflikts:
Zwischen 250 und 300 Todesopfer auf der palästinensischen
Seite ist die offizielle Bilanz der israelischen Armee. 9.000
Palästinenser seien seit Beginn der Unruhen, am 28. September,
verletzt worden. Auf israelischer Seite seien 284 Soldaten
verletzt und 23 getötet worden. Die Zahl der zivilen Opfer von
Terroranschlägen beläuft sich auf 22 Tote und 244 Verletzte.
Die
Zahlen des palästinensischen Informationszentrums sind etwas
anders: Die Palästinenser rechnen 325 Todesopfer auf der
eigenen Seite sowie 6.000 Mittel- bis Schwerverletzte.
Insgesamt liege die Zahl der Verletzten bei über 12.000. 23
Prozent der Opfer seien jünger als sechzehn Jahre.
Nach: taz vom 4. Januar 2001
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