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Einmischung erwünscht: Für eine Zivilisierung des israelisch-palästinensischen Konflikts

Erklärung des Bundesausschusses Friedensratschlag zur Situation im Nahen Osten

(1) Der israelisch-palästinensische Konflikt ist nach wie vor von einer friedlichen Lösung weit entfernt. Die Eskalation der Gewalt bestimmt zur Zeit den Prozess im Nahen Osten, der Friedensprozess ist zusammengebrochen. Die zaghaften Annäherungsversuche zwischen Israelis und Palästinensern, die mit den Oslo-Verhandlungen Anfang der 90er Jahre begannen, scheinen zerstört. Gegen unbewaffnete palästinensische Demonstranten setzt das israelische Militär tödliche Waffen ein, auf palästinensische Terrorattentate reagiert es mit dem Einsatz von Artillerie und Kampfflugzeugen. Beide Seiten handeln nach dem archaischen Gesetz des "Auge um Auge, Zahn um Zahn". Seit Beginn der sogenannten Al-Aksa-Intifada sind auf beiden Seiten über 500 Menschen, die meisten von ihnen Palästinenser, getötet worden, darunter rund 70 Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren. Mehrere tausend Palästinenser und einige hundert Israelis wurden verwundet.

Vertane Chancen und Fehlentwicklungen

(2) Der neuerliche Ausbruch offener Gewalt ist das Ergebnis von vertanen Chancen der letzten Jahre und von Fehlentwicklungen, die zum Teil tief in die Geschichte der israelischen Staatsgründung hinein reichen. Israel hatte seine Sicherheit stets auf militärische Stärke gegründet und mit einer Expansionspolitik versucht diesen Status zu sichern. Durch die Besetzung dieser Gebiete und die Errichtung jüdischer Siedlungen hatte sich die Lage weiter verschärft. Bei den vertriebenen Palästinensern, die teilweise seit Jahrzehnten in Flüchtlingslagern leben, wuchs der Hass auf die israelische Besatzungsmacht von Jahr zu Jahr. Aus diesem Potenzial lassen sich immer wieder "Kämpfer für die Befreiung Palästinas" rekrutieren, die dann mit Anschlägen oder Selbstmordattentaten gegen Israel vorgehen. Wenn die israelische Armee darauf wiederum mit militärischen Mitteln antwortet, so dreht sie weiter an der Schraube der Gewalt, denn mit jedem Militärschlag wächst auch der Hass auf die Besatzer und die Bereitschaft zu weiteren Racheakten. Über kurz oder lang wird der israelischen Regierung, die diese Situation stets ignoriert und einseitig auf militärische Reaktionen gesetzt hatte, nichts anderes übrig bleiben, als eine friedliche Lösung des Konfliktes anzustreben. Nur über Verhandlungen und der Bereitschaft zu wirklichen Kompromissen wird Israel auch zu einem Ausgleich mit seinen Nachbarstaaten und den Palästinensern gelangen und somit letztendlich auch die notwendige eigene Sicherheit verbessern.

(3) Von der israelischen Friedensoganisation Gush Shalom wurden vor kurzem 80 Thesen vorgelegt, die für ein "neues Friedenslager" notwendig seien. Darin heißt es unter anderem, dass es eine entscheidende Aufgabe sein wird, die "einseitige Sicht des Konflikts aufzugeben." Jede Seite sollte in der Lage sein, "die nationale geistige Welt der anderen Seite zu verstehen" und sich als gleichberechtigte Partner gegenüber zu treten. Die Möglichkeit einer einvernehmlichen Lösung wird durch eine "unsensible, herablassende, anmaßende Haltung" ausgeschlossen. Zur Lösung des Konflikts müssen die unterschiedlichen Geschichtsdeutungen verstanden werden, dabei ist unter der Oberfläche zu suchen, "an den Wurzeln des historischen Konflikts zwischen den beiden Völkern."

Der Konflikt ist nicht zu verstehen ohne seine Geschichte

(4) Die nationalen Bewegungen im Europa des 19. Jahrhunderts waren durch einen zunehmenden Antisemitismus gekennzeichnet. Aus dieser feindlichen Haltung gegenüber der jüdischen Bevölkerung entwickelte sich die zionistische Bewegung. Dem europäischen Modell folgend war der Zionismus darum bestrebt einen eigenen Nationalstaat zu gründen, aus religiösen und traditionellen Gründen sollte dies in Palästina (hebräisch: Erez Israel) sein. Unter der Losung "Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land" strebte der Zionismus die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina an. Doch Palästina war zu keiner Zeit ein leeres Land; dort lebten Ende des 19. Jahrhunderts etwa eine halbe Million Menschen, 90 Prozent davon waren Araber. Somit war das Ansinnen einen jüdischen Staat in Palästina gründen zu wollen, von Unkenntnis über das Land und von einer Arroganz und anmaßenden Haltung gegenüber den dort lebenden Menschen geprägt. Dementsprechend formierte sich unter der arabischen Bevölkerung ein Widerstandspotenzial gegen das Eindringen der Zionisten in Palästina.

(5) Nach dem I. Weltkrieg nahmen die Auseinandersetzungen zwischen den zionistischen Einwanderern und der arabischen Bevölkerung weiter zu. Verstärkt wurden diese Auseinandersetzungen durch die Judenverfolgung des Dritten Reiches. Auf der Flucht vor den Nazis versuchten viele Juden in Palästina ihr Glück, die zionistische Bewegung gewann an Stärke. Demgegenüber wuchs der Widerstand der arabischen Bevölkerung gegen eine weitere jüdische Einwanderung und gegen weiteren Landerwerb durch Juden. Durch den Holocaust, dem sechs Millionen Juden zum Opfer fielen, wurde die zionistische Forderung nach Errichtung eines eigenen Staates letztendlich politisch und moralisch gerechtfertigt.

UN-Teilungsplan und Krieg

(6) Nach dem II. Weltkrieg wurde das Palästina-Problem vor der UNO verhandelt. Durch die UNO wurde ein Teilungsplan verabschiedet, der die Gründung eines jüdischen und eines arabischen Staates vorsah. Die Stadt Jerusalem mit seiner Umgebung sollte als neutrales Gebiet einen Sonderstatus erhalten und unter internationale Aufsicht gestellt werden. Am 14. Mai 1948 wurde schließlich die Unabhängigkeit Israels verkündet. Die Bildung eines arabischen (palästinensischen) Staates wurde durch die militärischen Auseinandersetzungen verhindert. Nach dem UNO-Teilungsplan wurden Israel 55 Prozent des Landes zugeteilt; beide Staaten, sowohl der arabische als auch der jüdische, hätten nach diesem Plan ein sehr heterogenes Staatsgebiet erhalten. Seitens der zionistischen Bewegung wurde der Teilungsplan akzeptiert; sie sah darin eine Basis für eine zu schaffende jüdische staatliche Souveränität. Von arabischer Seite hingegen wurde der UN-Teilungsplan abgelehnt. Für sie war es nicht akzeptabel, dass die Vereinten Nationen ein Land teilten, dass ihnen nicht gehörte. Verstärkt wurde dies durch die Tatsache, dass nach dem Teilungsplan der jüdischen Minderheit, die nur ein Drittel der Bevölkerung ausmachte, der größte Teil des Landes übergeben werden sollte.

(7) Nach dem Teilungsplan und der Unabhängigkeitserklärung Israels folgte ein Krieg, bei dem beide Seiten versuchten möglichst viel Land der anderen Seite zu erobern. Im Verlauf der militärischen Auseinandersetzungen der Jahre 1948/49 hat Israel sein Staatsgebiet über die Grenzen des UN-Teilungsplanes hinaus ausgedehnt und umfasste nunmehr 78 Prozent des Territoriums. Mit dieser Ausdehnung ging die systematische Vertreibung der arabischen Bevölkerung einher, während des Krieges wurden etwa 750.000 Palästinenser entwurzelt. Aus dem 1949 zwischen Israel und den arabischen Staaten geschlossenen Waffenstillstand ging der Staat Israel eindeutig als Sieger hervor, er verfügte nun über ein homogenes Gebiet, das von Eilat am Roten Meer bis zur libanesischen Grenze reichte. Die verbleibenden Reste (Westjordanland und Gaza-Streifen) des ursprünglich geplanten arabischen Staates kamen unter jordanische bzw. ägyptische Herrschaft. Während die Israelis den Krieg von 1948/49 bis heute als "Unabhängigkeitskrieg" feiern, wurden die Folgen des Kriegs von den Palästinensern verständlicherweise nur als "Katastrophe" (Al-Nakba) empfunden.

(8) Während des Sechs-Tage-Krieges von 1967 besetzte Israel schließlich auch das restliche Territorium und darüber hinaus auch den zu Syrien gehörenden Golan sowie die zu Ägypten gehörende Sinai-Halbinsel. Erst nach dem Oktoberkrieg von 1973 zog sich Israel aus Teilen des Golan und Sinai zurück. Nach den Friedensverhandlungen zwischen Israel und Ägypten und dem am 12. März 1979 geschlossenen Camp-David-Abkommen wurde die Sinai-Halbinsel schließlich an Ägypten zurückgegeben. Die israelische Politik war in dieser Zeit durch die Grundsätze geprägt, dass es keine Rückkehr zu den Grenzen von 1949 geben sollte, da sonst die Verteidigungsfähigkeit Israels eingeschränkt würde. Ein zweiter Grundsatz bestand darin, dass eine unabhängige und starke Militärmacht ausgebaut werden müsse, die auf die arabischen Gegner eine abschreckende Wirkung haben sollte.

(9) In den von Israel besetzen Gebieten sorgte das Besatzungsrecht für weitere Spannungen und ein latent vorhandenes Konfliktpotential. Repressalien wie Vertreibung von Grund und Boden, die Sprengung von Häusern sowie die Schließung von palästinensischen Einrichtungen waren an der Tagesordnung.

Die israelische Siedlungs- und Besatzungspolitik als Quelle von Gewalt

(10) Neue jüdische Siedlungen wurden in den besetzten Gebieten geschaffen. Die arabische Bevölkerung wurde in den Gebieten drangsaliert und vertrieben. Dabei wurden den "Abwesenden" (den Flüchtlingen) große Teile ihres Landes weggenommen; ebenso den offiziell als "abwesend Anwesenden", jenen Arabern also, die zwar physisch in Israel geblieben waren, nicht aber Bürger des israelischen Staates werden durften. Die Siedlungsbewegung ging einher mit einer zunehmenden Immigration von Juden, die teilweise mit großem Aufwand betrieben wurde. Ziel dieser Politik war die weitere Stärkung der Machtstellung Israels.

(11) Die israelische Siedlungspolitik verstößt ohne Zweifel gegen internationales Recht. Durch diese Politik trägt Israel entscheidende Verantwortung an der zunehmenden Gewalteskalation im Nahen Osten. Der UN-Teilungsplan hatte für den jüdischen Staat 55 Prozent des Landes (Palästina) vorgesehen, nach dem Krieg von 1948/49 besetzte Israel weitere 23 Prozent und nach dem Sechstagekrieg von 1967 die verbleibenden 22 Prozent. Die Politik Israels orientiert sich dabei an dem Grundsatz, dass die Errungenschaften des Krieges von 1948/49 feststehende Fakten sind, an denen nicht zu rütteln ist. Verhandlungsgegenstand und mögliche Kompromisslinien können sich demzufolge lediglich auf die verbleibenden 22 Prozent beziehen. Diese Haltung spiegelt eine eklatante Missachtung der UN-Resolutionen wieder und missachtet permanent internationales Recht.

Wirtschaftliche und soziale Folgen der Besatzung

(12) Auch während der Verhandlungen zum Oslo-Abkommen und in dessen Folge setzte die israelische Regierung ihre Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten fort. Unbarmherzig erfolgte die Errichtung neuer und die Erweiterung bestehender jüdischer Siedlungen. Das israelische Militär besitzt die Kontrolle über alle wichtigen Straßen im Westjordanland und seiner Umgebung. Durch die israelische Politik sind die Autonomiegebiete zu einer Art Flickenteppich geworden, der von Israel kontrolliert wird. Damit wird vor allem auch die wirtschaftliche Entwicklung der Autonomiegebiete behindert. Zu der israelischen Besatzungspolitik und ihren negativen Folgen kommt die dramatische Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation hinzu. In weiten Teilen gibt es bereits Lebensmittelmangel und einen akuten medizinischen Versorgungsnotstand.

(13) Die im Gaza-Steifen und im Westjordanland lebenden Palästinenser sind einer permanenten Aggression und Demütigung durch die israelische Seite ausgesetzt. Unbewaffneter palästinensischer Widerstand ist demnach legitim. Zu verurteilen sind dagegen Terrorakte gegen israelische Einrichtungen und (Selbst-)Mordanschläge auf israelische Militärpersonen und Zivilisten. Eine Politik allerdings, die ausschließlich von den Palästinensern eine klare Absage an Gewalt verlangt, zur staatlich sanktionierten militärischen und strukturellen Gewalt Israels gegen die Palästinenser (von gezielten "Hinrichtungskommandos" über die Siedlungsausdehnung bis zur wirtschaftlichen Strangulierung) jedoch schweigt, ist von Einseitigkeit geprägt und kann in diesem Konflikt nicht neutral vermitteln.

Friedensbewegung verlangt Einmischung für den Frieden

(14) Um eine Friedenslösung im Nahen Osten zu erreichen, sind verstärkte internationale Vermittlungsanstrengungen notwendig. Sie müssen sich daran orientieren, dass für alle Menschen in der Region eine Lebensperspektive zu entwickeln ist. Eine Rückkehr zur Politik verlangt von beiden Seiten die Anerkennung der im Mitchell-Bericht formulierten Grundbedingungen: die Einstellung aller Gewalthandlungen und den Stopp der Siedlungstätigkeit.

(15) Unter dieser Voraussetzung und in Anlehnung an die von der israelischen Friedensbewegung ausgearbeiteten "80 Thesen für ein neues Friedenslager" sollten folgende Grundlagen dabei Beachtung finden:
  • Neben Israel wird ein unabhängiger und freier Palästinastaat gegründet.
  • Die "Grüne Linie" (die Grenze vor dem Sechs-Tage-Krieg 1967) wird die Grenze zwischen den beiden Staaten. Mit Zustimmung beider Seiten ist ein begrenzter Gebietsaustausch möglich.
  • Die israelischen Siedlungen auf dem Territorium des Palästinastaates werden geräumt.
  • Die Grenze zwischen den beiden Staaten wird nach einer zwischen beiden Seiten vereinbarten Regelung für die Bewegung von Personen und Gütern offen sein.
  • Jerusalem wird die Hauptstadt beider Staaten - West-Jerusalem die Hauptstadt Israels und Ost-Jerusalem die Hauptstadt Palästinas. Der Staat Palästina wird die vollständige Souveränität in Ost-Jerusalem besitzen, einschließlich des Haram al-Sharif (Tempelberg). Der Staat Israel wird die volle Souveränität in West-Jerusalem besitzen, einschließlich der West-Mauer ("Klagemauer") und des jüdischen Viertels.
  • Israel wird prinzipiell das Recht der Palästinenser auf Rückkehr in ihre Heimat als ein unveräußerliches Menschenrecht anerkennen. Gleichzeitig muss eine praktische Lösung des Problems durch ein Abkommen erreicht werden, in dem faire und praktikable Maßnahmen entwickelt werden, die sowohl eine Rückkehr in die Staaten Palästina und Israel ermöglichen als auch Entschädigungen vorsehen.
  • Die Wasservorkommen werden gemeinsam kontrolliert und in einem gleichberechtigten und fairen Abkommen zugeteilt.
  • Die Unverletzlichkeit beider Staaten wird in einem zweiseitigen Abkommen (das auch dritte Garantiemächte einschließen kann) garantiert, das die spezifischen Sicherheitsinteressen Israels wie Palästinas berücksichtigt.

Bundesregierung, EU und Friedensbewegung

(16) Die Bundesregierung und die EU können diesen Prozess am besten dadurch unterstützten, dass sie sich in diesem Konflikt politisch neutral verhalten und sich für die ökonomische Entwicklung und soziale Wohlfahrt der Region engagieren. Über die hier beschriebenen Grundlagen hinaus tragen sie Verantwortung dafür,
  • dass auf beide Seiten diplomatischer Druck ausgeübt wird, damit die Linie der Gewalt und der andauernden Siedlungstätigkeit verlassen wird;
  • dass jene EU-Bestimmungen aufgehoben werden, die den israelischen Siedlern in der Westbank und im Gaza-Streifen EU-Subventionen gewähren;
  • dass keine weiteren Waffenlieferungen in die Krisenregion erfolgen.

(17) Als Teil der deutschen Friedensbewegung, die sich in ihrer Gesamtheit der besonderen Verantwortung gegenüber dem jüdischen Volk bewusst ist und deshalb sowohl das Existenzrecht Israels als auch die Lebens- und Menschenrechte der Palästinenser verteidigt, begleiten wir die von Gewalt und Hass geprägte Entwicklung mit großer Sorge. Der Bundesausschuss Friedensratschlag unterstützt alle politischen Kräfte und Initiativen auf beiden Seiten, die sich für eine nicht-rassische, nicht-militärische und gewaltfreie Lösung des Nahostkonflikts einsetzen. Jegliche Form der Vorverurteilung einer der beiden Seiten lehnen wir ab, jede Form des Antisemitismus und Antiarabismus bekämpfen wir. Und jeglichen Versuch von außen, den israelisch-palästinensischen Konflikt im geopolitischen, militärstrategischen oder ökonomischen Interesse irgendeiner Welt- oder Regionalmacht zu instrumentalisieren, lehnen wir als unzulässige Einmischung ab. Einmischung ja - aber mit zivilen, friedlichen Mitteln, selbstlos und ausschließlich zum Wohl der betroffenen Völker. An diesen Kriterien werden wir auch die Nahost-Politik der eigenen Regierung messen.

Frankfurt am Main / Kassel, 08. Juni 2001

Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Bernd Guß und Peter Strutynski (Sprecher)

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